L 3 SB 3171/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 18 SB 733/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 3171/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 13. Juni 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahren sind nicht zu erstatten.

Die Kosten des auf Antrag des Klägers erhobenen Gutachtens von Dr. G. vom 12. Januar 2015 werden nicht auf die Staatskasse übernommen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind - noch - die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) streitig.

Der Kläger ist im Jahre 1947 geboren und im Inland wohnhaft.

Auf seinen hier streitigen Antrag vom 13.07.2011 stellte das Landratsamt Böblingen als Versorgungsamt (LRA) mit Bescheid vom 30.08.2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (gehbehindert) fest, verneinte jedoch jene des - ausdrücklich beantragten - Merkzeichens "aG".

Auf den Widerspruch des Klägers hin stellte das LRA mit Teilabhilfebescheid vom 04.01.2012 einen GdB von 70 seit 13.07.2011 fest, lehnte die Feststellung des Merkzeichens "aG" aber weiterhin ab. Jener Entscheidung lag die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. A. vom 23.12.2011 zu Grunde. Danach beständen bei dem Kläger folgende Behinderungen: Funktionsbeeinträchtigung beider Kniegelenke, Polyneuropathie, Zehenverlust, wiederkehrende Wundrose, arterielle Verschlusskrankheit beider Beine, Gleichgewichtsstörungen (Einzel-GdB 40), Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen (Einzel-GdB 20), Refluxkrankheit der Speiseröhre, chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB 10), Gebrauchseinschränkung beider Hände (Einzel-GdB 10) und seelische Störung (Einzel-GdB 10). Der Diabetes mellitus und die Fettstoffwechselstörung bedingten keinen GdB von wenigstens 10. Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers an den unteren Gliedmaßen seien nicht so ausgeprägt, dass das Gehvermögen aufs Schwerste eingeschränkt sei.

Den weitergehenden und aufrecht erhaltenen Widerspruch wies das Landesversorgungsamt des beklagten Landes unter dem 24.01.2012 zurück. Es führte aus, dem nervenärztlichen Bericht von Dr. C. vom 07.11.2011 sei zu entnehmen, dass der Kläger eine reduzierte Gehstrecke mit Gehhilfe bewältigen könne.

Dagegen hat der Kläger am 08.02.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Er hat dort die Zuerkennung eines GdB höher als 70 sowie des Merkzeichens "aG" beantragt. Er hat auf seine neurologisch bedingten erheblichen Gehschwierigkeiten verwiesen.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegen getreten war, hat das SG zunächst die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses jener Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Aussagen des Internisten und Kardiologen Dr. B. vom 21.03.2012 (nach einem Langzeit-EKG unter Medikamenten im April 2011 gute Einstellung der Herzfrequenz, Abbruch eines Belastungs-EKG im Januar 2011 bei 50 Watt, weil der Kläger immer wieder von den Pedalen abgerutscht sei) und der Neurologin und Psychiaterin Dr. C. vom 22.04.2012 (schwere diabetische Polyneuropathie mit erheblicher Störung der Afferenzen und des Gehens, die geschätzte Gehstrecke betrage 20 m) verwiesen.

Sodann hat das SG von Amts wegen den Neurologen Dr. D. zum Gutachter ernannt Dieser hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 17.08.2012 mitgeteilt, bei dem Kläger bestehe vor allem eine ausgeprägte diabetische Polyneuropathie mit schwerer Tiefensensibilitätsstörung und ataktischer Gangstörung, mäßigen schlaffen distal betonten Paresen der Beinmuskulatur sowie leichten schlaffen Paresen der Unterarm- und Handmuskulatur beidseits sowie deutlichen Störungen der Oberflächensensibilität im Bereich der Füße und Unterschenkel sowie leicht bis mäßig im Bereich der Hände. Ferner beständen eine arterielle Hypertonie, eine Hyperurikämie und ein Vorhofflimmern mit Marcumar-Behandlung. Der GdB für die neurologischen Ausfälle wegen der Polyneuropathie sei mit 80 zu bemessen. Dieser GdB umfasse auch die zusätzliche Funktionsbehinderung der Kniegelenke, den Zehenverlust, die wiederkehrende Wundrose und die arterielle Verschlusskrankheit der Beine. Die Gehfähigkeit sei in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt. Der Kläger könne Wegstrecken von normalen Parkplätzen zu Gebäuden von mehr als 100 Metern nicht ohne zusätzliche Hilfsmittel und mit einer Hilfsperson oder im Rollstuhl zurücklegen. Gerade aufgrund der ausgeprägten Gangunsicherheit und Fallneigung sei dem Kläger dringend anzuraten, Gehstrecken von mehr als 5 bis 10 Metern nur noch mit fremder Hilfe oder im Rollstuhl zurückzulegen. Die Beeinträchtigungen beständen von den ersten Schritten an.

Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung am 13.06.2014 ein Teilanerkenntnis über einen GdB von 80 ab dem 13.07.2011 abgegeben, das der Kläger angenommen hat. Dem aufrecht erhaltenen Klageantrag wegen des Merkzeichens "aG" ist der Beklagte dagegen unter Berufung auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. E. vom 20.11.2012 entgegengetreten.

Mit Urteil vom selben Tage hat das SG die aufrecht erhaltene Klage abgewiesen. Es hat die rechtlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" dargelegt und ausgeführt, der Kläger könne sich nicht von den ersten Schritten an nur noch unter großen Anstrengungen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Soweit Dr. D. eine andere Einschätzung mitgeteilt habe, könne dem nicht gefolgt werden. Der Kläger könne mit Stock und orthopädischen Schuhen zwar sehr langsam, aber relativ sicher 10 Meter zurücklegen. Zwar habe der Gutachter aufgrund der Gangunsicherheit und der damit verbunden Sturzgefahr die Mitnahme einer Begleitperson empfohlen. Allein dies könne aber nicht gleichgesetzt werden mit einer Erforderlichkeit der Hilfe einer anderen Person zur Fortbewegung (Verweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 15.10.2013, L 11 SB 207/13 B PKH, Juris). Die Begleitperson sei nach den Ausführungen des Gutachters nur erforderlich, um den Kläger erforderlichenfalls aufzufangen, weil dieser bei Augenschluss, Ablenkung, unebenem Boden oder in Dunkelheit zu fallen drohe. Auch eine große körperliche Anstrengung zur Fortbewegung lasse sich aus dem Gutachten nicht ableiten. Eine Kraftminderung im Bereich der Hüft- und Oberschenkelmuskulatur habe der Gutachter nicht bestätigt. Im Bereich der Unterschenkel- und kleinen Fußmuskulatur liege eine leichte bis mäßige Schwäche vor. Dass der Kläger nicht in der Lage sei, auf Zehenspitzen oder Hacken zu stehen oder zu gehen, sei für die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" irrelevant. Die Kammer - so das SG abschließend - habe den Kläger ferner in einem Erörterungstermin am 14.02.2014 sowie in der mündlichen Verhandlung am 13.04.2014 in Augenschein genommen. Dabei habe dieser auf dem Gang des Gerichtsgebäudes etwa 40 Meter allein, langsam, mit Hilfe eines Gehstockes und teilweise unter Anfassen der Wand gehen können. Dabei habe er kurze Pausen eingelegt, um sich zu sammeln. Eine besondere Erschöpfung sei nicht zu beobachten gewesen. Nach dem Gesamteindruck beständen die Schwierigkeiten weniger in einer Schwäche als vielmehr in der erheblichen Unsicherheit. Dies reiche für die Annahme einer großen körperlichen Anstrengung nicht aus.

Gegen dieses Urteil, das seinem Prozessbevollmächtigten am 22.07.2014 zugestellt worden ist, hat der Kläger unter dem 23.07.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er hält an seiner bisherigen Einschätzung, er sei außergewöhnlich gehbehindert im Rechtssinne, fest.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 13. Juni 2014 aufzuheben und den Bescheid vom 30. August 2011 in der Fassung des Bescheides vom 4. Januar 2012 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Januar 2012 weiter abzuändern und den Beklagten zu verurteilten, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat der Senat den Chefarzt der Klinik für Neurologie mit Neurophysiologie und Schlaganfalleinheit des Klinikverbunds Südwest in F., Prof. Dr. G., mit einer Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 12.01.2015 die bekannten Diagnosen bestätigt und weiter ausgeführt, der Kläger benötige beim Gehen ständig Hilfsmittel, vorrangig seinen Rollator, oder Hilfe von Personen zur permanenten Stützung. Im Vordergrund stehe das deutlich erhöhte Sturzrisiko. Des Weiteren komme es bei längerer Belastung zu Luftnot, wodurch die Gehstrecke zusätzlich eingeschränkt sei. Kleinste Hindernisse wie Bordsteine könne der Kläger allein nicht überwinden, da ein freies Stehen nicht einmal für kürzeste Zeit möglich sei. Deswegen sei der Kläger mit seiner ausgeprägten Gangunsicherheit, der deutlichen Fußheberparesen und der Belastungsdyspnoe der Gruppe der Querschnittsgelähmten gleichzustellen. Ein Rollstuhl sei für die Fortbewegung über längere Strecken sicherlich gerechtfertigt.

Der Beklagte ist dieser Bewertung Prof. Dr. G.s unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. E. vom 07.05.2015 entgegen getreten.

Der Berichterstatter des Senats hat den Kläger in nichtöffentlicher Sitzung vom 08.06.2015 angehört und sein Gehverhalten in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses wird auf das Protokoll verwiesen. In jenem Termin haben beide Seiten auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers wegen des Merkzeichens "aG" ist statthaft (§ 143 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch im Übrigen zulässig. Sie ist aber nicht begründet. Im Ergebnis zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) abgewiesen. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch gegen den Beklagten auf behördliche Feststellung des Merkzeichens "aG" nicht zu.

a) Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG" ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) i.V.m. § 1 Abs. 4 und § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 07.06.2012 (BGBl. I S. 1275). Danach ist der Nachteilsausgleich "aG" festzustellen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert i.S.d § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist. Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001, in der ab dem 18.11.2014 gültigen Fassung vom 17.11.2014. Nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

b) Der Kläger gehört - unstreitig - nicht zu dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Amputationen liegen nicht vor.

c) Der Kläger kann diesem Personenkreis auch nicht nach der zweiten in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Vergleichsgruppe gleichgestellt werden.

aa) Für die rechtlichen Voraussetzungen einer solchen Gleichstellung gilt:

Der zum 01.01.2009 in Kraft getretenen Verordnung zur Durchführung des §§ 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 10.12.2008 (BGBl. I. S. 2412; Versorgungsmedizin-Verordnung [VersMedV]) mit den in ihrer Anlage 2 normierten "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" (VG) ließen sich bislang im Ergebnis keine weiteren Beurteilungskriterien für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleichs entnehmen, da die dortigen Kriterien in Ermangelung einer gesetzlichen Verordnungsermächtigung unwirksam waren (vgl. u.a. Urteil des Senats vom 28.05.2013 - L 3 SB 5383/12 -; Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 09.06.2011 - L 6 SB 6140/09 - und vom 24.09.2010 - L 8 SB 4533/09 - juris). Dies hat sich zwar mit Wirkung ab 15.01.2015 mit Einführung des § 70 Abs. 2 SGB IX geändert. Danach ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Jedoch hat der Gesetzgeber von dieser Verordnungsermächtigung noch keinen Gebrauch gemacht. Allerdings hat der Gesetzgeber ebenfalls mit Wirkung ab 15.01.2015 in § 159 Abs. 7 SGB IX eine Übergangsregelung erlassen. Danach sollen, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Der Senat lässt es offen, ob der Gesetzgeber damit wirksam und in Übereinstimmung mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen für die mit Wirkung zum 01.01.2009 erlassene VersMedV - quasi nachträglich - eine Verordnungsermächtigung hat schaffen können. Der Senat stellt vielmehr auf die von der Rechtsprechung für die Feststellung des Merkzeichens "aG" entwickelten Kriterien ab, zumal ein Abstellen auf die VG zu keinem für den Kläger günstigeren Ergebnis führen würde, denn die dort geregelten Kriterien entsprechen jenen des Straßenverkehrsrechts und eine Erweiterung bzw. Konkretisierung der gleichgestellten behinderten Menschen findet sich dort nur in Bezug auf innere Erkrankungen wie Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz oder wie Atemerkrankungen mit Einschränkungen der Lungenfunktion schweren Grades (vgl. Urteil des Senats vom 13.05.2015 - L 3 SB 1100/14 - n.v.), die jedoch bei dem Kläger nicht vorliegen.

Ausgangspunkt für die Gleichstellung nach Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO ist nach diesen Grundsätzen das den Betroffenen verbliebene Restgehvermögen. Dieses ist jedoch nicht anhand eines bestimmten Wegstreckenkriteriums zu beurteilen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - veröffentlicht in juris). Weder stellen die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften auf die möglichen Wegstrecken ab, noch rechtfertigt der straßenverkehrsrechtliche Zweck des Nachteilsausgleichs "aG", die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen auszugleichen (vgl. BSG, Urteil vom 06.11.1985 - 9a RVs 7/83 - juris), die Heranziehung einer noch möglichen Wegstrecke (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R -; Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R - und - B 9a SB 1/06 R - juris). Ein Betroffener ist vielmehr dann gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R - juris). Auch soweit diese großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein auf eine Größe wie die schmerzfrei zurücklegbare Wegstrecke abgestellt werden. Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv fehlerfrei und verwertbar festzustellen, ist die Tatsache, dass ein Betroffener nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" reichen überdies nicht irgendwelche Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Gradmesser hierfür kann die Intensität der Schmerzen beziehungsweise der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich unter anderem aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Gerade bei multimorbiden Schwerbehinderten liegt auf der Hand, dass allein das Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, Urteil vom 05.07.2007 - B 9/9a SB 5/06 R -, vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R - und - B 9a SB 1/06 R - juris).

bb) In Anlegung dieser Kriterien ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist. Auch die weitere Beweisaufnahme im Berufungsverfahren hat bestätigt, dass der Kläger allein wegen der hohen Gefahr des Stürzens in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt ist und daher z.B. eine Begleitperson - nur - benötigt, damit diese ihn stützt oder nach einem Sturz unmittelbar helfen kann. Die Gehfähigkeit im engeren Sinne, die allein für das Merkzeichen aG maßgeblich ist, ist nicht in dem Maße betroffen, wie es die - zugegebenermaßen strenge - Rechtsprechung des BSG verlangt. Aus diesem Grunde kann der Senat auch dem Wahlgutachten von Prof. Dr. G. vom 12.01.2015 nicht folgen. Auch dieser Sachverständige hat bekundet, dass Einschränkungen des Gehens im engeren Sinne, etwa durch fehlende Beweglichkeit der unteren Gliedmaßen oder durch Luftnot, bei dem Kläger erst "nach längerer Belastung und beim Treppensteigen" aufträten. Dies deckt sich mit den Feststellungen von Dr. D. aus dem erstinstanzlichen Amtsgutachten, wonach der Kläger mit Hilfsmitteln 50 bis 100 Meter zurücklegen könne (ob der Kläger bei der erstinstanzlichen Begutachtung auch drei Stockwerke hat steigen können, lässt der Senat dagegen offen, nachdem der Kläger diese Aussage des damaligen Sachverständigen in dem Erörterungstermin am 08.06.2015 bestritten hat). Prof. Dr. G. hat nicht in Abrede gestellt, dass der Kläger kürzere Strecken körperlich betrachtet zurücklegen kann. Dies hat sich erneut in dem Erörterungstermin bestätigt, als auch der Berichterstatter des Senats das Gehvermögen des Klägers in Augenschein genommen hat. Auch dort konnte festgestellt werden, dass der Kläger vor allem darauf angewiesen ist, sich festzuhalten, um nicht zu fallen, dass aber sein Gehvermögen nicht auf Grund körperlicher Anstrengung eingeschränkt ist. Nur dafür ist, wie ausgeführt, auch eine Begleitperson notwendig. Mit anderen Worten: solange sich der Kläger festhalten kann oder aus anderen Gründen nicht frei stehen muss, ist sein Gehvermögen nicht vom ersten Schritt an eingeschränkt. Der Kläger erfüllt daher zwar die Voraussetzungen des Merkzeichens "B", das der Beklagte in erster Instanz angeboten hat, das aber nicht Streitgegenstand ist. Nicht erfüllt sind dagegen die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG". Denkbar ist allenfalls, dass der Kläger - dies allerdings bei der für seinen Wohnort zuständigen Straßenverkehrsbehörde - eine Ausnahmegenehmigung für eine Parkerleichterung für Schwerbehinderte zum Parken eines Kraftfahrzeugs nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StVO ("aG light", orangefarbener Parkausweis) beantragen kann, sobald ihm auch das Merkzeichen "B" zuerkannt wird.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

3. Die Kosten des nach § 109 Abs. 1 SGG erhobenen Gutachtens von Dr. G. können nicht auf die Staatskasse übernommen werden. Hierüber war bei Abschluss des Verfahrens von Amts wegen zu entscheiden (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 109 Rn. 16). Das Gutachten hat den Rechtsstreit nicht wesentlich gefördert. Neue Sachaufklärung hat das Gutachten nicht erbracht, es hat vielmehr die vorbekannten Diagnosen und Funktionsbeeinträchtigungen bestätigt. Und dem rechtlichen Vorschlag des Sachverständigen, das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen, konnte sich der Senat - wie ausgeführt - aus Rechtsgründen nicht anschließen.

4. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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