Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 208 KR 97/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 188/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Beitragshöhe der freiwilligen Krankenversicherung einer Gymnasiastin.
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 2013 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Im Streit ist ein Beitragsbescheid der Beklagten.
Die Klägerin ist 1992 geboren. Ihre Mutter verstarb 2006. Ihr Vater ist nach ihren (widersprüchlichen) Angaben nicht in Deutschland aufenthältlich bzw. ebenfalls bereits verstorben. Eine (Halb-)Waisenrente bezieht die Klägerin nicht.
Sie war bis zum 30. Juni 2011 als Bezieherin von Arbeitslosengeld II kranken- und pflegeversichert. Ab 1. Juni 2011 bis 30. Juni 2013 war sie Schülerin des ersten Bildungsweges am L Gymnasium B.
Sie erklärte auf einem entsprechenden Formular am 11. Juni 2011, der Beklagten zu 1) (nachfolgend nur noch: "die Beklagte") als Mitglied beizutreten, weil ihre bisherige Krankenkasse, die City-BKK, geschlossen werde. Beigefügt waren die Kopien eines Bescheids des Bezirksamts C, Amt für Ausbildungsförderung, vom 20. April 2011 über die Bewilligung von 465 Euro BAföG monatlich rückwirkend ab Februar 2011 bis Januar 2012, und die eines Bescheides des Jobcenters C vom 28. April 2011 über die Bewilligung eines Zuschusses zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung für Juni 2011 über 352,67 Euro.
Die Beklagte "begrüßte" die Klägerin mit Bescheid vom 10. August 2011 als freiwilliges Mitglied zu einer Mitgliedschaft ohne Krankengeldanspruch ab 1. Juli 2011. Sie setzte den monatlichen Beitrag auch im Namen der Pflegekasse in der Beitragsgruppe 5501 ausgehend von einem gesetzlichen fiktiven Mindesteinkommen von monatlich 851,67 EUR auf 126,90 EUR für die Kranken- und 16,61 EUR für die Pflegeversicherung fest.
Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie müsse als Schülerin ihres Erachtens nur 77,90 EUR (64,77 Euro Krankenversicherung sowie 13,13 Euro für die Pflegeversicherung) bezahlen. Sie könne nicht mehr als den Beitrag für Berufsfachschüler leisten. Die Ungleichbehandlung zwischen Schülern allgemeiner Schulen und der Berufsfachschüler (bzw. zweiten Bildungsweg) sei verfassungswidrig.
Am 12. Januar 2012 beantragte die Klägerin beim Sozialgericht Berlin (SG), die Beklagte im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihren Beitragssatz auf die Höhe des Beitragssatzes der Berufsfachschüler und Studenten zu reduzieren.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 2012 den Widerspruch im Hauptsacheverfahren zurück. Zwar sei in § 236 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 (Studenten) und 10 SGB V (u.a. Auszubildende des zweiten Bildungsweges) eine besondere – niedrigere – Beitragsfestsetzung vorgesehen. Die Klägerin besuche jedoch im Rahmen des ersten Bildungsweges das Gymnasium und gehöre deshalb nicht zu diesem Personenkreis. Die Beklagte habe nicht die Möglichkeit, im Ermessenswege die besonderen Beitragssätze auf andere Personenkreise auszuweiten. Für freiwillige Mitglieder ohne oder mit geringen Einkünften gelte nach § 249 Abs. 4 Satz 1 SGB V als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der 90ste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Für Mitglieder, die keinen Anspruch auf Krankengeld hätten, gelte der ermäßigte Beitragssatz von 14,9 Prozent, § 243 SGB V. Die Prüfung, ob diese Regelungen möglicherweise verfassungswidrig seien, falle nicht in den Aufgabenbereich der Krankenkassen.
Das SG hat mit Beschluss vom 13. März 2012 den Eilantrag abgelehnt (Az: S 208 KR 97/12 ER).
Die Klägerin hat am 22. März 2012 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgebracht, die Beitragseinstufung sei verfassungswidrig. Es verstoße gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gleichheitsgebot, wenn sie als Schülerin fast doppelt so viel an Beiträgen zu zahlen habe, wie Studenten oder Berufsfachschüler. Es handele sich hier um eine Regelungslücke, da Schüler normalerweise über ihre Eltern kranken- und pflegeversichert seien. Ihre Mutter sei jedoch schon im Jahr 2006 verstorben.
Im Eilverfahren hat der Senat mit Beschluss vom 10. Juli 2012 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Beitragsfestsetzungsbescheid vom 10. August 2011 angeordnet, soweit darin höhere monatliche Beiträge für die Krankenversicherung als 64,77 Euro und für die Pflegeversicherung als 11,64 Euro zusammen mehr als 76,41 Euro festgesetzt sind. Die gerichtliche Interessenabwägung aller für und gegen einen Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen der Entscheidung nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) falle zugunsten der Klägerin aus. Die Beklagten seien nämlich nach § 86 a Abs. 3 Satz 2, 2. Alt. SGG an sich verpflichtet gewesen, von Amts wegen selbst die Aussetzung anzuordnen, da die Vollziehung für die Antragstellerin eine unbillige Härte bedeute, die nicht durch überwiegende öffentliche Interessen geboten sei. Für Schüler bestehe allgemein keine (originäre) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Eine solche bestehe nur für Studenten (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V) und bestimmte Praktikanten (§ 5 Abs. 1 Nr. 10 SGB V). Die Klägerin, die als vermögens- und einkommenslose Gymnasiastin BAföG-Bezieherin sei, sei auch nicht familienversichert nach § 10 SGB V, da ihre Mutter bereits verstorben sei und der Vater unerreichbar im Ausland lebe. Sie sei deshalb freiwillig versichert, nach Aktenlage nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Da sie aber weder Berufs- noch Fachschülerin und auch keine Wandergesellin sei oder an einer Hochschule im Ausland eingeschrieben, sei die Beitragshöhe nach dem allgemeinen Satz für freiwillig Versicherte (Tarif 5501) zu bemessen und nicht nach dem ermäßigten für Studenten nach § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V i. V. m. §§ 236, 245 Abs. 1 SGB V entsprechend. Die Antragstellerin bleibe die Differenz zu den tatsächlich festgesetzten 126,90 Euro + 16,61 Euro = 143,51 Euro unverschuldet schuldig, da sie nicht über die Mittel verfüge. Weder das BAföG-Amt noch das Jobcenter hätten die Kostenübernahme bewilligt. Diese Situation sei ihr nicht zumutbar. Einerseits gingen hier alle Beteiligten davon aus, dass die einfach gesetzliche Rechtslage verfassungsrechtlich untragbar sei und irgendeiner der in Betracht kommenden Träger für die Deckung der anfallenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zuständig sein müsse. Es stehe nämlich außer Diskussion, der Antragstellerin anzusinnen, den Schulbesuch abzubrechen und sich eine (Hilfs-)Arbeit zu suchen. Andererseits müsse die Antragstellerin ohne Aussetzung damit rechnen, dass ihre Leistungsansprüche zum Ruhen gebracht würden (§ 16 Abs. 3 a SGB V). Auch der Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 2000 (B 12 KR 2/00 B) stehe einer Aussetzung nicht entgegen. Obwohl das Gericht formuliert habe, es verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, freiwillig krankenversicherte Schüler einer allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler eine Fachschule oder Berufsfachschule, habe das BSG nämlich Bezug genommen auf frühere Entscheidungen, wonach maßgeblich sei, dass die Beiträge aufbringbar seien. Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen, weil jedenfalls der damalige Beschwerdeführer durch die angegriffene Beitragsregelung nicht überfordert worden sei (SozR 3-1300 § 40 Nr. 3). Von einer solchen Überforderung sei hier allerdings auszugehen. Der Fall der Klägerin zeige, dass die gesetzliche Typisierung, die davon ausgehe, dass Besucher einer allgemeinbildenden Schule angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert seien, nicht immer greife. Es spreche hier auch einiges dafür, die Gesetzeslücke durch eine entsprechende Anwendung des § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V zu Lasten der Krankenversicherung zu schließen: Da der Gesetzgeber selbst für kleine Personengruppen wie für im Inland versicherte Studenten ausländischer Hochschulen oder Wandergesellen Ausnahmevorschriften in § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V geschaffen habe, spreche dies für ein Gebot, eine entsprechende Regelung auch für Vollwaisen bzw. für Halbwaisen, deren lebender Elternteil nicht greifbar sei oder für andere Fälle fehlende Familienversicherung ohne eigene Leistungsfähigkeit zu treffen.
Das SG hat mit Urteil vom 22. Mai 2013 den Bescheid der Beklagten vom 10. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 2012 insoweit aufgehoben, als darin für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 31. Dezember 2011 höhere Beiträge als 77,90 Euro (64,77 + 13,13 Euro) und für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2013 höhere Beiträge als 78,50 Euro (64,77 Euro + 13,73 Euro) zur Kranken- und Pflegeversicherung festgesetzt wurden. Zwar habe das BSG entschieden, dass es nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße, freiwillig krankenversicherte Schüler einer Allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler einer Fachschule oder Berufsfachschule, es handele sich jedoch um einen Sonderfall. Das SG schließe sich dem Beschluss des hiesigen Senats im Eilverfahren vom 10. Juli 2012 an.
Gegen das ihr am 30. Mai 2013 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 28. Juni 2013.
Die Klägerin wird seit 1. Juli 2013 von der Beklagten wieder als gesetzlich krankenversichert geführt aufgrund einer Meldung bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter.
Zur Berufungsbegründung führen die Beklagten aus, ihr Bescheid entspreche der einfach gesetzlichen Rechtslage. Diese bedürfe auch keiner verfassungsrechtlichen Korrektur. Der Wortlaut des Gesetzes sei klar. Auch wenn der Fall eine unstreitig vorhandene und beachtliche Härte aufzeige, sei nicht zwingend, diese Rechtslage zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Wege einer Analogie zu ändern. So kämen nach wie vor Leistungspflichten anderer Sozialleistungsträger etwa nach § 27 Abs. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder nach § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Betracht. Ferner sei § 240 Abs. 4 SGB V bereits eine Bestimmung, die lediglich ausnahmsweise die Bemessung der Beiträge unterhalb der sonst relevanten Untergrenzen gestatte. Sie sei für Fachschüler und Berufsfachschüler mit Wirkung vom 12. August 1998 eingeführt und mit Wirkung vom 1. Januar 2004 auf Wandergesellen erstreckt worden. Dass diese Privilegierung nicht auf Schüler an allgemeinbildenden Schulen auszudehnen sei, habe das BSG im Urteil vom 30. März 2000 bereits entschieden. Von einer Regelungslücke könne nicht ausgegangen werden. Der Gesetzgeber habe den Beschluss des BSG auch nicht zum Anlass genommen, die Gesetzeslage zu reformieren, obgleich die Aufnahme der Gruppe der Wandergesellen zeige, dass der Gesetzgeber durchaus jederzeit gewillt und in der Lage sei, erkennbarem Handlungsbedarf auch im Hinblick auf zahlenmäßig kleinere Personengruppen Folge zu leisten.
Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat vorgebracht, enorm unter dem Verlust ihrer Eltern zu leiden. Außerdem leide sie an den Folgen daran, dass sie von Institutionen wie der Beklagten zusätzlich Unannehmlichkeiten erlebe und ihres Erachtens unnötige Schulden entstünden. Streitbefangen sei die Zeit vom 1. Juli 2011 bis zum 30. Juni 2013.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat Erfolg. Die Klage ist abzuweisen.
Der angefochtene Beitragsbescheid der Beklagten setzt die Beiträge in rechtmäßiger Höhe fest und verletzt die Klägerin deshalb nicht in ihren Rechten.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 10. August 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 9. März 2012. Mit Beginn der Pflichtversicherung als Arbeitssuchende nach § 5 Nr. 2a SGB V ist dieser Bescheid wirkungslos.
2. Die Beklagte führte die Klägerin zunächst zu Recht als freiwillig Versicherte aufgrund ihres Formularschreibens "Ich möchte Mitglied der AOK Nordost ( ) werden ab 1.07.11", welches die Klägerin am 11. Juli 2011 eingereicht hat.
Sie war mangels Bezug von Arbeitslosengeld II ab diesem Zeitpunkt nicht mehr pflichtversichert. Die Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V für Bezieher von Arbeitslosengeld II ist nämlich u.a. nicht einschlägig, wenn das JobCenter – wie bei der Klägerin jedenfalls ab 1. Juli 2011 – nur noch einen Zuschuss zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 7 SGB II gewährt, da dieser Zuschuss nach dem Gesetz nicht als Arbeitslosengeld II gilt.
Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V sind erfüllt, da die Klägerin seit 2004 in der City-BKK Mitglied gewesen war, und damit in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate und gleichzeitig unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert war.
3. Wie zwischen den Beteiligten außer Streit steht, hat die Beklagte die einfach gesetzliche Rechtslage zur Höhe der Beiträge in der Kranken- und Pflegeversicherung zutreffend umgesetzt.
§ 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V enthält keine Regelungslücke, soweit dort nur Schüler in Fachschulen oder Berufsfachschulen, nicht hingegen solche an allgemeinbildenden Schulen aufgeführt sind.
Auch wenn die einfach gesetzliche Rechtslage unbillig erscheint, wonach es keinen Pflichtversicherungstatbestand für Schüler gibt und diese – soweit sie nicht familienversichert sind - gezwungen sind, als freiwillig Versicherte bzw. Versicherte der Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V oder Waisenrentenantragsteller nach § 189 SGB V Beiträge wie freiwillig Versicherte zu leisten, auch wenn sie dazu aufgrund fehlender Einkünfte und Vermögen objektiv und subjektiv nicht in der Lage sind, ist weder eine analoge Anwendung des § 240 Abs. 4 S. 7 SGB V möglich, noch besteht aus Sicht des Senats die Notwendigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art 100 Abs. 1 Grundgesetz.
4. Das BSG hat bereits entschieden, dass das Fehlen einer Pflichtversicherung für Schüler verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Bei typisierender Betrachtungsweise kann nämlich nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass für Besucher einer Berufsfachschule und Fachschule ein (beitragsfreier) Krankenversicherungsschutz durch eine Familienversicherung nach § 10 SGB V vermittelt wird. Insoweit unterscheiden sich die Besucher einer Fachschule und Berufsfachschule von den Besuchern einer allgemeinbildenden Schule, die angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert sind, wenn ihre Eltern in der Krankenversicherung versichert sind. Ob der Gesetzgeber mit der genannten Ausnahme von der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage des § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V die bestmögliche Regelung getroffen hat, unterliegt nicht der gerichtlichen Prüfung, sondern ist Sache des gesetzgeberischen Ermessens (BSG, Beschluss vom 30. März 2000 -B 12 KR 2/00 B- juris-Rdnr. 10).
5. Die Beklagte verweist weiter zutreffend darauf hin, dass die betreffende etwaige Regelungslücken nicht zwingend durch Schaffung einer weiteren Ausnahmegruppe in § 240 Abs. 4 SGB V zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung geschlossen werden müsste, sondern dass es auch die Möglichkeit geben könnte, dass andere Sozialträger die Beiträge zur freiwilligen Versicherung übernehmen müssen.
Die Beklagte verweist konkret auf § 23 SGB XII (Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer) und § 27 Abs. 4 SGB II (Leistungen als Darlehen für Auszubildende über den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II hinaus).
Für Sozialhilfeempfänger sieht das Gesetz ausdrücklich die Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen vor: Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB XII hat der Träger der Sozialhilfe für Weiterversicherte im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V die Krankenversicherungsbeiträge zu übernehmen, soweit die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 und 2 SGB XII erfüllt sind. Nach § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt den Personen zu leisten, die ihren notwenigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mittel bestreiten können. Eigene Mittel sind nach § 27 Abs. 2 SGB XII insbesondere das eigene Einkommen und eigenes Vermögen. Die Vorschrift umfasst die zentralen Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung und konkretisiert die allgemeine Vorschrift in § 19 Abs. 1 SGB XII (Coseriu in juris PK-SGB XII § 27 Rdnr. 7). Ganz allgemein entspricht dem Nachrang der Sozialhilfe, dass Sozialhilfe nicht erhält, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft selbst helfen kann, § 2 Abs. 1 SGB XII. Einem Leistungsberechtigten darf eine Tätigkeit nach § 11 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 SGB XII nicht zugemutet werden, wenn der Tätigkeit ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht.
Nach § 27 Abs. 4 S. 1 SGB II können unter anderem explizit notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als Darlehen erbracht werden, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eine besondere Härte bedeuten würde.
6. Zusätzlich ist eine Korrektur der Beitragshöhe auch dann nicht zwingend geboten, wenn unterstellt würde, dass andere Leistungsträger außerhalb des SGB V im Allgemeinen oder speziell hier nicht verpflichtet werden könnten.
Das Sozialgesetzbuch selbst enthält nämlich ein differenziertes rechtliches Instrumentarium, das unzumutbare Belastungen auch bei rechtlich bestehenden Beitragszahlungspflichten verhindert:
Nach § 76 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) sind die Sozialversicherungsträger zwar verpflichtet, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Nach § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB IV darf der Versicherungsträger Ansprüche aber stunden, wenn die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für die Anspruchsgegner verbunden wäre und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet wird (Nr. 1, Stundung), (vorübergehend) niederschlagen, wenn feststeht, dass die Einziehung keinen Erfolg haben wird oder wenn die Kosten der Einziehung außer Verhältnis zur Höhe des Anspruchs stehen (Nr. 2, Niederschlagung) bzw. (dauerhaft) erlassen wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelnen Falles unbillig wäre (Nr. 3 1. Halbsatz, Erlass).
Sachlich unbillig ist die Verfolgung eines Anspruches, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwider läuft, dass die Beitreibung des Anspruchs als ungerecht erscheint (so Brandt in Kreikebohm, SGB IV, § 76 Rdnr. 22). Die seit 1994 geltende Vorschrift erfolgte in Anlehnung an das entsprechende Steuerrecht (vgl. § 227 Abgabenordnung (AO); BT-Drucksache 12/5187 S. 31). Die vom Gesetzgeber damit angestrebte Gleichbehandlung des Erlasses von Forderungen im Steuer- und dem Beitragsrecht macht es erforderlich, die zu der Vorschrift des § 227 AO im Steuerrecht entwickelten Grundsätze zu beachten (so BSG, Urteil vom 4. März 1999 B 11/10 AL 5/98 R, juris Rdnr. 19).
Für die Erhebung von Steuern hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass das aus Art. 2 Abs. 1 GG zu entnehmende Gebot, nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zur Steuerleistung herangezogen zu werden, auch das auch dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot enthalte, das dahingehe, dass der Steuerpflichtige nicht zu einer unverhältnismäßigen (Vermögens-)Steuer herangezogen wird. Dies zwinge dazu, eine Befreiung von einer schematisierten Belastung zu erteilen, wenn die Folgen extrem über das normale Maß hinausschössen, das der Schematisierung zugrunde liege oder anders ausgedrückt: Wenn die Erhebung der Steuer im Einzelfall Folgen mit sich brächte, die unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Planvorstellung durch den gebotenen Anlass nicht mehr gerechtfertigt seien.
Billigkeitsmaßnahmen dürften jedoch nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen (BVerfG, Beschluss vom 5. April 1978 – 1 BvR 117/73 – juris-Rdnr. 35 f).
Unter Heranziehung dieser Grundsätze hat die Klägerin einen Anspruch auf Stundung und auch Erlass, wenn sich nach Offenlegung ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse herausstellt, dass sie unverschuldet nicht in der Lage ist, die Beitragsrückstände zu begleichen.
Das entsprechende Verpflichtungsbegehren ist allerdings nicht Gegenstand des hiesigen Rechtsstreits. Dieser wird nur um die (zu bejahende) Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Beitragsbescheide geführt.
Die Nebenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Die Revision wird nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen (grundsätzliche Bedeutung).
Tatbestand:
Im Streit ist ein Beitragsbescheid der Beklagten.
Die Klägerin ist 1992 geboren. Ihre Mutter verstarb 2006. Ihr Vater ist nach ihren (widersprüchlichen) Angaben nicht in Deutschland aufenthältlich bzw. ebenfalls bereits verstorben. Eine (Halb-)Waisenrente bezieht die Klägerin nicht.
Sie war bis zum 30. Juni 2011 als Bezieherin von Arbeitslosengeld II kranken- und pflegeversichert. Ab 1. Juni 2011 bis 30. Juni 2013 war sie Schülerin des ersten Bildungsweges am L Gymnasium B.
Sie erklärte auf einem entsprechenden Formular am 11. Juni 2011, der Beklagten zu 1) (nachfolgend nur noch: "die Beklagte") als Mitglied beizutreten, weil ihre bisherige Krankenkasse, die City-BKK, geschlossen werde. Beigefügt waren die Kopien eines Bescheids des Bezirksamts C, Amt für Ausbildungsförderung, vom 20. April 2011 über die Bewilligung von 465 Euro BAföG monatlich rückwirkend ab Februar 2011 bis Januar 2012, und die eines Bescheides des Jobcenters C vom 28. April 2011 über die Bewilligung eines Zuschusses zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung für Juni 2011 über 352,67 Euro.
Die Beklagte "begrüßte" die Klägerin mit Bescheid vom 10. August 2011 als freiwilliges Mitglied zu einer Mitgliedschaft ohne Krankengeldanspruch ab 1. Juli 2011. Sie setzte den monatlichen Beitrag auch im Namen der Pflegekasse in der Beitragsgruppe 5501 ausgehend von einem gesetzlichen fiktiven Mindesteinkommen von monatlich 851,67 EUR auf 126,90 EUR für die Kranken- und 16,61 EUR für die Pflegeversicherung fest.
Die Klägerin erhob Widerspruch. Sie müsse als Schülerin ihres Erachtens nur 77,90 EUR (64,77 Euro Krankenversicherung sowie 13,13 Euro für die Pflegeversicherung) bezahlen. Sie könne nicht mehr als den Beitrag für Berufsfachschüler leisten. Die Ungleichbehandlung zwischen Schülern allgemeiner Schulen und der Berufsfachschüler (bzw. zweiten Bildungsweg) sei verfassungswidrig.
Am 12. Januar 2012 beantragte die Klägerin beim Sozialgericht Berlin (SG), die Beklagte im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihren Beitragssatz auf die Höhe des Beitragssatzes der Berufsfachschüler und Studenten zu reduzieren.
Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 2012 den Widerspruch im Hauptsacheverfahren zurück. Zwar sei in § 236 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) für die nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 (Studenten) und 10 SGB V (u.a. Auszubildende des zweiten Bildungsweges) eine besondere – niedrigere – Beitragsfestsetzung vorgesehen. Die Klägerin besuche jedoch im Rahmen des ersten Bildungsweges das Gymnasium und gehöre deshalb nicht zu diesem Personenkreis. Die Beklagte habe nicht die Möglichkeit, im Ermessenswege die besonderen Beitragssätze auf andere Personenkreise auszuweiten. Für freiwillige Mitglieder ohne oder mit geringen Einkünften gelte nach § 249 Abs. 4 Satz 1 SGB V als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag mindestens der 90ste Teil der monatlichen Bezugsgröße. Für Mitglieder, die keinen Anspruch auf Krankengeld hätten, gelte der ermäßigte Beitragssatz von 14,9 Prozent, § 243 SGB V. Die Prüfung, ob diese Regelungen möglicherweise verfassungswidrig seien, falle nicht in den Aufgabenbereich der Krankenkassen.
Das SG hat mit Beschluss vom 13. März 2012 den Eilantrag abgelehnt (Az: S 208 KR 97/12 ER).
Die Klägerin hat am 22. März 2012 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgebracht, die Beitragseinstufung sei verfassungswidrig. Es verstoße gegen das verfassungsrechtlich verankerte Gleichheitsgebot, wenn sie als Schülerin fast doppelt so viel an Beiträgen zu zahlen habe, wie Studenten oder Berufsfachschüler. Es handele sich hier um eine Regelungslücke, da Schüler normalerweise über ihre Eltern kranken- und pflegeversichert seien. Ihre Mutter sei jedoch schon im Jahr 2006 verstorben.
Im Eilverfahren hat der Senat mit Beschluss vom 10. Juli 2012 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Beitragsfestsetzungsbescheid vom 10. August 2011 angeordnet, soweit darin höhere monatliche Beiträge für die Krankenversicherung als 64,77 Euro und für die Pflegeversicherung als 11,64 Euro zusammen mehr als 76,41 Euro festgesetzt sind. Die gerichtliche Interessenabwägung aller für und gegen einen Sofortvollzug sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen der Entscheidung nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) falle zugunsten der Klägerin aus. Die Beklagten seien nämlich nach § 86 a Abs. 3 Satz 2, 2. Alt. SGG an sich verpflichtet gewesen, von Amts wegen selbst die Aussetzung anzuordnen, da die Vollziehung für die Antragstellerin eine unbillige Härte bedeute, die nicht durch überwiegende öffentliche Interessen geboten sei. Für Schüler bestehe allgemein keine (originäre) Versicherungspflicht in der Krankenversicherung. Eine solche bestehe nur für Studenten (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V) und bestimmte Praktikanten (§ 5 Abs. 1 Nr. 10 SGB V). Die Klägerin, die als vermögens- und einkommenslose Gymnasiastin BAföG-Bezieherin sei, sei auch nicht familienversichert nach § 10 SGB V, da ihre Mutter bereits verstorben sei und der Vater unerreichbar im Ausland lebe. Sie sei deshalb freiwillig versichert, nach Aktenlage nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V. Da sie aber weder Berufs- noch Fachschülerin und auch keine Wandergesellin sei oder an einer Hochschule im Ausland eingeschrieben, sei die Beitragshöhe nach dem allgemeinen Satz für freiwillig Versicherte (Tarif 5501) zu bemessen und nicht nach dem ermäßigten für Studenten nach § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V i. V. m. §§ 236, 245 Abs. 1 SGB V entsprechend. Die Antragstellerin bleibe die Differenz zu den tatsächlich festgesetzten 126,90 Euro + 16,61 Euro = 143,51 Euro unverschuldet schuldig, da sie nicht über die Mittel verfüge. Weder das BAföG-Amt noch das Jobcenter hätten die Kostenübernahme bewilligt. Diese Situation sei ihr nicht zumutbar. Einerseits gingen hier alle Beteiligten davon aus, dass die einfach gesetzliche Rechtslage verfassungsrechtlich untragbar sei und irgendeiner der in Betracht kommenden Träger für die Deckung der anfallenden Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zuständig sein müsse. Es stehe nämlich außer Diskussion, der Antragstellerin anzusinnen, den Schulbesuch abzubrechen und sich eine (Hilfs-)Arbeit zu suchen. Andererseits müsse die Antragstellerin ohne Aussetzung damit rechnen, dass ihre Leistungsansprüche zum Ruhen gebracht würden (§ 16 Abs. 3 a SGB V). Auch der Beschluss des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 2000 (B 12 KR 2/00 B) stehe einer Aussetzung nicht entgegen. Obwohl das Gericht formuliert habe, es verstoße nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, freiwillig krankenversicherte Schüler einer allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler eine Fachschule oder Berufsfachschule, habe das BSG nämlich Bezug genommen auf frühere Entscheidungen, wonach maßgeblich sei, dass die Beiträge aufbringbar seien. Die hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen, weil jedenfalls der damalige Beschwerdeführer durch die angegriffene Beitragsregelung nicht überfordert worden sei (SozR 3-1300 § 40 Nr. 3). Von einer solchen Überforderung sei hier allerdings auszugehen. Der Fall der Klägerin zeige, dass die gesetzliche Typisierung, die davon ausgehe, dass Besucher einer allgemeinbildenden Schule angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert seien, nicht immer greife. Es spreche hier auch einiges dafür, die Gesetzeslücke durch eine entsprechende Anwendung des § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V zu Lasten der Krankenversicherung zu schließen: Da der Gesetzgeber selbst für kleine Personengruppen wie für im Inland versicherte Studenten ausländischer Hochschulen oder Wandergesellen Ausnahmevorschriften in § 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V geschaffen habe, spreche dies für ein Gebot, eine entsprechende Regelung auch für Vollwaisen bzw. für Halbwaisen, deren lebender Elternteil nicht greifbar sei oder für andere Fälle fehlende Familienversicherung ohne eigene Leistungsfähigkeit zu treffen.
Das SG hat mit Urteil vom 22. Mai 2013 den Bescheid der Beklagten vom 10. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. März 2012 insoweit aufgehoben, als darin für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis zum 31. Dezember 2011 höhere Beiträge als 77,90 Euro (64,77 + 13,13 Euro) und für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2013 höhere Beiträge als 78,50 Euro (64,77 Euro + 13,73 Euro) zur Kranken- und Pflegeversicherung festgesetzt wurden. Zwar habe das BSG entschieden, dass es nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße, freiwillig krankenversicherte Schüler einer Allgemeinbildenden Schule beitragsrechtlich anders zu behandeln als Schüler einer Fachschule oder Berufsfachschule, es handele sich jedoch um einen Sonderfall. Das SG schließe sich dem Beschluss des hiesigen Senats im Eilverfahren vom 10. Juli 2012 an.
Gegen das ihr am 30. Mai 2013 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 28. Juni 2013.
Die Klägerin wird seit 1. Juli 2013 von der Beklagten wieder als gesetzlich krankenversichert geführt aufgrund einer Meldung bei der Agentur für Arbeit/Jobcenter.
Zur Berufungsbegründung führen die Beklagten aus, ihr Bescheid entspreche der einfach gesetzlichen Rechtslage. Diese bedürfe auch keiner verfassungsrechtlichen Korrektur. Der Wortlaut des Gesetzes sei klar. Auch wenn der Fall eine unstreitig vorhandene und beachtliche Härte aufzeige, sei nicht zwingend, diese Rechtslage zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Wege einer Analogie zu ändern. So kämen nach wie vor Leistungspflichten anderer Sozialleistungsträger etwa nach § 27 Abs. 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) oder nach § 73 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) in Betracht. Ferner sei § 240 Abs. 4 SGB V bereits eine Bestimmung, die lediglich ausnahmsweise die Bemessung der Beiträge unterhalb der sonst relevanten Untergrenzen gestatte. Sie sei für Fachschüler und Berufsfachschüler mit Wirkung vom 12. August 1998 eingeführt und mit Wirkung vom 1. Januar 2004 auf Wandergesellen erstreckt worden. Dass diese Privilegierung nicht auf Schüler an allgemeinbildenden Schulen auszudehnen sei, habe das BSG im Urteil vom 30. März 2000 bereits entschieden. Von einer Regelungslücke könne nicht ausgegangen werden. Der Gesetzgeber habe den Beschluss des BSG auch nicht zum Anlass genommen, die Gesetzeslage zu reformieren, obgleich die Aufnahme der Gruppe der Wandergesellen zeige, dass der Gesetzgeber durchaus jederzeit gewillt und in der Lage sei, erkennbarem Handlungsbedarf auch im Hinblick auf zahlenmäßig kleinere Personengruppen Folge zu leisten.
Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Mai 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hat vorgebracht, enorm unter dem Verlust ihrer Eltern zu leiden. Außerdem leide sie an den Folgen daran, dass sie von Institutionen wie der Beklagten zusätzlich Unannehmlichkeiten erlebe und ihres Erachtens unnötige Schulden entstünden. Streitbefangen sei die Zeit vom 1. Juli 2011 bis zum 30. Juni 2013.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung hat Erfolg. Die Klage ist abzuweisen.
Der angefochtene Beitragsbescheid der Beklagten setzt die Beiträge in rechtmäßiger Höhe fest und verletzt die Klägerin deshalb nicht in ihren Rechten.
1. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 10. August 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 9. März 2012. Mit Beginn der Pflichtversicherung als Arbeitssuchende nach § 5 Nr. 2a SGB V ist dieser Bescheid wirkungslos.
2. Die Beklagte führte die Klägerin zunächst zu Recht als freiwillig Versicherte aufgrund ihres Formularschreibens "Ich möchte Mitglied der AOK Nordost ( ) werden ab 1.07.11", welches die Klägerin am 11. Juli 2011 eingereicht hat.
Sie war mangels Bezug von Arbeitslosengeld II ab diesem Zeitpunkt nicht mehr pflichtversichert. Die Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V für Bezieher von Arbeitslosengeld II ist nämlich u.a. nicht einschlägig, wenn das JobCenter – wie bei der Klägerin jedenfalls ab 1. Juli 2011 – nur noch einen Zuschuss zu den angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 7 SGB II gewährt, da dieser Zuschuss nach dem Gesetz nicht als Arbeitslosengeld II gilt.
Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V sind erfüllt, da die Klägerin seit 2004 in der City-BKK Mitglied gewesen war, und damit in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens 24 Monate und gleichzeitig unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert war.
3. Wie zwischen den Beteiligten außer Streit steht, hat die Beklagte die einfach gesetzliche Rechtslage zur Höhe der Beiträge in der Kranken- und Pflegeversicherung zutreffend umgesetzt.
§ 240 Abs. 4 Satz 7 SGB V enthält keine Regelungslücke, soweit dort nur Schüler in Fachschulen oder Berufsfachschulen, nicht hingegen solche an allgemeinbildenden Schulen aufgeführt sind.
Auch wenn die einfach gesetzliche Rechtslage unbillig erscheint, wonach es keinen Pflichtversicherungstatbestand für Schüler gibt und diese – soweit sie nicht familienversichert sind - gezwungen sind, als freiwillig Versicherte bzw. Versicherte der Auffangversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V oder Waisenrentenantragsteller nach § 189 SGB V Beiträge wie freiwillig Versicherte zu leisten, auch wenn sie dazu aufgrund fehlender Einkünfte und Vermögen objektiv und subjektiv nicht in der Lage sind, ist weder eine analoge Anwendung des § 240 Abs. 4 S. 7 SGB V möglich, noch besteht aus Sicht des Senats die Notwendigkeit einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art 100 Abs. 1 Grundgesetz.
4. Das BSG hat bereits entschieden, dass das Fehlen einer Pflichtversicherung für Schüler verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Bei typisierender Betrachtungsweise kann nämlich nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass für Besucher einer Berufsfachschule und Fachschule ein (beitragsfreier) Krankenversicherungsschutz durch eine Familienversicherung nach § 10 SGB V vermittelt wird. Insoweit unterscheiden sich die Besucher einer Fachschule und Berufsfachschule von den Besuchern einer allgemeinbildenden Schule, die angesichts ihres Alters regelmäßig familienversichert sind, wenn ihre Eltern in der Krankenversicherung versichert sind. Ob der Gesetzgeber mit der genannten Ausnahme von der Mindestbeitragsbemessungsgrundlage des § 240 Abs. 4 Satz 1 SGB V die bestmögliche Regelung getroffen hat, unterliegt nicht der gerichtlichen Prüfung, sondern ist Sache des gesetzgeberischen Ermessens (BSG, Beschluss vom 30. März 2000 -B 12 KR 2/00 B- juris-Rdnr. 10).
5. Die Beklagte verweist weiter zutreffend darauf hin, dass die betreffende etwaige Regelungslücken nicht zwingend durch Schaffung einer weiteren Ausnahmegruppe in § 240 Abs. 4 SGB V zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung geschlossen werden müsste, sondern dass es auch die Möglichkeit geben könnte, dass andere Sozialträger die Beiträge zur freiwilligen Versicherung übernehmen müssen.
Die Beklagte verweist konkret auf § 23 SGB XII (Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer) und § 27 Abs. 4 SGB II (Leistungen als Darlehen für Auszubildende über den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 5 SGB II hinaus).
Für Sozialhilfeempfänger sieht das Gesetz ausdrücklich die Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen vor: Nach § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB XII hat der Träger der Sozialhilfe für Weiterversicherte im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V die Krankenversicherungsbeiträge zu übernehmen, soweit die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 und 2 SGB XII erfüllt sind. Nach § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt den Personen zu leisten, die ihren notwenigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mittel bestreiten können. Eigene Mittel sind nach § 27 Abs. 2 SGB XII insbesondere das eigene Einkommen und eigenes Vermögen. Die Vorschrift umfasst die zentralen Voraussetzungen für eine Leistungsberechtigung und konkretisiert die allgemeine Vorschrift in § 19 Abs. 1 SGB XII (Coseriu in juris PK-SGB XII § 27 Rdnr. 7). Ganz allgemein entspricht dem Nachrang der Sozialhilfe, dass Sozialhilfe nicht erhält, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft selbst helfen kann, § 2 Abs. 1 SGB XII. Einem Leistungsberechtigten darf eine Tätigkeit nach § 11 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 SGB XII nicht zugemutet werden, wenn der Tätigkeit ein sonstiger wichtiger Grund entgegensteht.
Nach § 27 Abs. 4 S. 1 SGB II können unter anderem explizit notwendige Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als Darlehen erbracht werden, sofern der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 5 SGB II eine besondere Härte bedeuten würde.
6. Zusätzlich ist eine Korrektur der Beitragshöhe auch dann nicht zwingend geboten, wenn unterstellt würde, dass andere Leistungsträger außerhalb des SGB V im Allgemeinen oder speziell hier nicht verpflichtet werden könnten.
Das Sozialgesetzbuch selbst enthält nämlich ein differenziertes rechtliches Instrumentarium, das unzumutbare Belastungen auch bei rechtlich bestehenden Beitragszahlungspflichten verhindert:
Nach § 76 Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) sind die Sozialversicherungsträger zwar verpflichtet, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Nach § 76 Abs. 2 Satz 1 SGB IV darf der Versicherungsträger Ansprüche aber stunden, wenn die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für die Anspruchsgegner verbunden wäre und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet wird (Nr. 1, Stundung), (vorübergehend) niederschlagen, wenn feststeht, dass die Einziehung keinen Erfolg haben wird oder wenn die Kosten der Einziehung außer Verhältnis zur Höhe des Anspruchs stehen (Nr. 2, Niederschlagung) bzw. (dauerhaft) erlassen wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelnen Falles unbillig wäre (Nr. 3 1. Halbsatz, Erlass).
Sachlich unbillig ist die Verfolgung eines Anspruches, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwider läuft, dass die Beitreibung des Anspruchs als ungerecht erscheint (so Brandt in Kreikebohm, SGB IV, § 76 Rdnr. 22). Die seit 1994 geltende Vorschrift erfolgte in Anlehnung an das entsprechende Steuerrecht (vgl. § 227 Abgabenordnung (AO); BT-Drucksache 12/5187 S. 31). Die vom Gesetzgeber damit angestrebte Gleichbehandlung des Erlasses von Forderungen im Steuer- und dem Beitragsrecht macht es erforderlich, die zu der Vorschrift des § 227 AO im Steuerrecht entwickelten Grundsätze zu beachten (so BSG, Urteil vom 4. März 1999 B 11/10 AL 5/98 R, juris Rdnr. 19).
Für die Erhebung von Steuern hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, dass das aus Art. 2 Abs. 1 GG zu entnehmende Gebot, nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zur Steuerleistung herangezogen zu werden, auch das auch dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot enthalte, das dahingehe, dass der Steuerpflichtige nicht zu einer unverhältnismäßigen (Vermögens-)Steuer herangezogen wird. Dies zwinge dazu, eine Befreiung von einer schematisierten Belastung zu erteilen, wenn die Folgen extrem über das normale Maß hinausschössen, das der Schematisierung zugrunde liege oder anders ausgedrückt: Wenn die Erhebung der Steuer im Einzelfall Folgen mit sich brächte, die unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Planvorstellung durch den gebotenen Anlass nicht mehr gerechtfertigt seien.
Billigkeitsmaßnahmen dürften jedoch nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen (BVerfG, Beschluss vom 5. April 1978 – 1 BvR 117/73 – juris-Rdnr. 35 f).
Unter Heranziehung dieser Grundsätze hat die Klägerin einen Anspruch auf Stundung und auch Erlass, wenn sich nach Offenlegung ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse herausstellt, dass sie unverschuldet nicht in der Lage ist, die Beitragsrückstände zu begleichen.
Das entsprechende Verpflichtungsbegehren ist allerdings nicht Gegenstand des hiesigen Rechtsstreits. Dieser wird nur um die (zu bejahende) Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Beitragsbescheide geführt.
Die Nebenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Die Revision wird nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen (grundsätzliche Bedeutung).
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