L 10 U 3020/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 4874/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3020/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12.06.2012 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Verletztenrente auf Grund der bei ihr anerkannten Berufskrankheit (BK) Nr. 2301 (Lärmschwerhörigkeit) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Die 1947 geborene Klägerin arbeitete von Februar 1972 bis 1974 in der Porzellanfabrik B. , von Juni 1974 bis Juli 1976 in der Textilfirma B. , von Januar 1977 bis Mai 1987 für die P. GmbH & Co. und von Juni 1987 bis Dezember 1989 bei der Firma T. GmbH (jeweils als Maschinenbedienerin). Von Januar 1990 an bis zum Eintritt in die Altersrente 2012 war sie, mit krankheitsbedingter Unterbrechung von 1997 bis 2001 und neuerlich ab 2006 für die Firma A. als CNC-Maschinenbedienerin versicherungspflichtig beschäftigt.

Unter dem 20.11.2009 zeigte die AOK Nordschwarzwald bei der Beklagten den Verdacht auf eine BK 2301 an. Die Klägerin teilte in einem ihr von der Beklagten übersandten Ermittlungsbogen vom Januar 2010 mit, vor zwei bis drei Jahren hätten sich erstmalig Ohrgeräusche bemerkbar gemacht, die sich in ruhigen Momenten, wie beispielsweise vor dem Einschlafen oder beim Hören ruhiger Musik bemerkbar machen würden und sich wie die "Anlagen im Betrieb" anhören würden, nur leiser. Betroffen seien beide Ohren. In psychologischer bzw. psychiatrischer Behandlung sei sie wegen des Ohrgeräusches nicht. In seiner Stellungnahme vom Februar 2010 gegenüber der Beklagten berichtete der behandelnde HNO-Arzt Dr. V. von einem beidseitigen Hörverlust im Hauptsprachbereich. Einen Tinnitus erwähnte er nicht.

Der Präventionsdienst der Beklagten ermittelte, für die Klägerin folgende berufliche Lärmeinwirkung:

• Mai 1987 bis Dezember 1989 (T. GmbH): Lärmexpositionspegel 80 dB(A) • Januar 1990 bis August 1997 (Firma A. ): Lärmexpositionspegel 92 dB(A) • September 2001 bis März 2010 (Firma A. ): Lärmexpositionspegel 92 dB(A)

jeweils ohne impulsartigem Lärm. Für die Zeit von August 1997 bis einschließlich August 2001 lag keine Lärmexposition beruflicherseits vor, nachdem die Klägerin in diesem Zeitraum arbeitsunfähig krank war. Auf Grund von Untersuchungen der Klägerin im April 2010 und Mai 2010 erstattete Dr. K. , Facharzt für HNO-Heilkunde, im Auftrag der Beklagten ein hno-ärztliches Gutachten. Bei der Klägerin zeige sich eine hochtonbedingte Innenohrschwerhörigkeit, wie sie nach länger bestehender Lärmeinwirkung entstehen könne. Der ermittelte Hörverlust sei links höher als rechts, was im Widerspruch zu einer beiderseits stattgehabten Lärmexposition stehe. Bei der Ermittlung und Verdeckung des Tinnitus, der von der Klägerin angegeben werde, könnten sprachliche Verständnisprobleme eine Rolle spielen. Es liege eine zum Teil lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit vor. Ein komplexer chronischer Tinnitus liege nicht vor. Nachdem die Lärmexposition eine maßgebliche, aber nicht die alleinige Rolle bei der Entstehung der Schwerhörigkeit spiele und logischerweise die Lärmexposition beide Ohren gleich stark betroffen haben müsse, schlage er eine MdE von 15 v.H. vor.

Mit Bescheid vom 25.06.2010 anerkannte die Beklagte das Vorliegen einer BK 2301 bei der Klägerin und erklärte sich bereit, die Kosten der erforderlichen Hilfsmittel und Heilbehandlung zu übernehmen. Ein Anspruch auf Rente wegen der BK bestehe nicht. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2010 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 15.11.2010 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme der Dr. B. , HNO-Ärztin vom April 2011 vorgelegt, wonach die bei der Klägerin erhobenen Audiogramme ohne Ausnahme lärmuntypische Kurvenverlaufsformen anzeigen würden. Ein lärmbedingter Schwerhörigkeitsanteil lasse sich daher nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit abgrenzen und nach Größenordnung benennen. Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin gem. § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das Sozialgericht Karlsruhe Dr. V. mit der Erstellung eines hno-ärztlichen Gutachtens beauftragt. Dr. V. hat, beruhend auf einer Untersuchung im August 2011, bei der Klägerin eine beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, mit rechts geringgradiger und links mittelgradiger Ausprägung diagnostiziert, wobei das Muster der Schwerhörigkeit nicht vollständig typisch, aber durchaus vereinbar mit einer lärmbedingten Schwerhörigkeit sei. Weiterhin bestünde ein chronischer beidseitiger Tinnitus mit beginnender Sekundärsymptomatik (Einschlafstörungen). Im Zuge einer von ihm angeregten ergänzenden Ermittlung zur Arbeitsplatzexposition für den Zeitraum vor Mai 1987 ermittelte der Präventionsdienst der Beklagten für die Beschäftigung bei der Porzellanfabrik B. (Februar 1972 bis Juli 1974) einen Lärmexpositionspegel von über 85 dB(A), wobei von einer Einwirkung von impulsseitigem Lärm nicht auszugehen sei. Angaben zu den weiteren Beschäftigungszeiten waren nicht mehr möglich, da die Firmen nicht mehr existieren und auch keine sonstigen Unterlagen darüber vorlagen. Unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahme des Präventionsdienstes sei die Klägerin, so der Sachverständige, insgesamt mindestens 21 Jahre ihres Berufslebens gehörschädigendem Lärm ausgesetzt gewesen. Da das Hörvermögen der Klägerin an beiden Ohren unterschiedlich stark geschädigt sei, müsse aber zumindest am stärker geschädigten linken Ohr eine lärmunabhängige Schädigung mit vorliegen. Hierfür spreche auch das frequenzspezifische Schädigungsmuster, welches zwar überwiegend im Hochtonbereich oberhalb von zwei kHz bestehe, aber auch die mittleren Frequenzen um 500 Hz bis 1500 Hz miterfasse. Bei einem vorliegenden Hörverlust von 30% rechts und 55% links müsse der darüber hinausgehende Hörschaden links als nicht lärmbedingt angesehen werden, weshalb der Lärmschaden des rechten Ohres im etwa gleichen Ausmaß auch für das linke Ohr angenommen werden könne (sogenannte Symmetrieregel). Danach betrage die lärmbedingte MdE für den Hörverlust 15 v.H. Der Tinnitus als chronischer Tinnitus mit beginnenden psychovegetativen Begleiterscheinungen sei mit einer MdE von 10 v.H. zu veranschlagen, woraus sich insgesamt eine MdE durch Lärmeinwirkung am Arbeitsplatz von 20 v.H. ergebe.

Mit Urteil vom 12.06.2012 hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin auf Grund der anerkannten BK 2301 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu zahlen. Es hat sich hierbei im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. V. gestützt. Nach der sogenannten Symmetrieregelung betrage die MdE für den lärmbedingten Hörverlust der Klägerin 15 v.H. Daneben leide die Klägerin unter einem ständigen beidseitigen Tinnitus, der gleichfalls lärmbedingt sei. Auf Grund des Hinzutretens von sekundären Störungen durch den Tinnitus sei dieser mit 10 v.H. einzuschätzen. Die Gesamt-MdE durch Lärmeinwirkung am Arbeitsplatz werde in Übereinstimmung mit Dr. V. auf 20 v.H. geschätzt.

Gegen das der Beklagten am 25.06.2012 zugestellte Urteil hat diese am 16.07.2012 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, zwar sei der Hörverlust sowie die Bewertung dessen mit 15 v.H. unstreitig. Nicht folgen könne man hingegen der Bewertung des Tinnitus. Auffällig sei, dass sich den im Berufungsverfahren eingeholten zeugenschaftlichen Stellungnahmen der behandelnden Ärzte entnehmen lasse, dass Tinnitusbeschwerden nicht vorrangig geklagt worden seien und auch nicht im Vordergrund der Behandlung gestanden seien. Insbesondere im Vordergrund der psychiatrischen Behandlung stehe nicht die Tinnituserkrankung, sondern die schwere depressive Symptomatik mit psychotischen Symptomen. Ergänzend hat die Beklagte Bezug auf zwei beratungsärztliche Stellungnahmen des Prof. Dr. P. , HNO-Arzt, genommen. Danach sei die Charakteristik untypisch für lärmbedingte Ohrgeräusche. Es lägen behandlungsbedürftige Erkrankungen vor, z.B. ein Hochdruckleiden und eine Schilddrüsenfunktionsstörung, die ihrerseits geeignet sein könnten, cochleäre Störungen mit Tinnitus zu verursachen. HNO-ärztlicherseits sei es nicht wahrscheinlich, dass die von der Klägerin geklagten Ohrgeräusche lärmbedingt seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12.06.2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist nach wie vor der Auffassung, dass auch die Ohrgeräusche und die hieraus resultierende psychische Erkrankung auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen sind und die hierdurch bedingte MdE wenigstens 20 v.H. beträgt.

Der Senat hat zunächst von Amts wegen zwei ergänzende Stellungnahmen des Dr. V. nach Aktenlage eingeholt. Der Sachverständige hat zusammenfassend ausgeführt, die Klägerin habe bei der gutachtlichen Untersuchung im August 2011 überzeugend dargelegt, wie sie an dem Tinnitus leide. Es gebe keinen Anlass, an den spontan geäußerten Beschwerden (vor allem Konzentrations- und Einschlafstörungen) zu zweifeln. Nach seinem Schweregrad müsse der Tinnitus der Klägerin mit Grad III nach Göbel und Hiller bzw. nach Biesinger eingeordnet werden; es handle sich um einen permanenten Tinnitus, der die Klägerin zwar tagsüber nicht ständig störe, aber ständig vorhanden sei und mit Konzentrationsstörungen und erheblichen Einschlafstörungen verbunden sei. Der Tinnitus der Klägerin sei daher als dekompensiert einzustufen. Er halte an seiner Bewertung mit einer MdE von 10 v.H. und integrierend von insgesamt 20 v.H. fest.

Der Senat hat weiterhin die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Tan hat mitgeteilt, die Klägerin befinde sich seit April 1999 in seiner hausärztlichen Behandlung und habe erstmalig am 31.10.2011 über einen Tinnitus beidseits geklagt. Dr. H. hat bei der Klägerin neben einem Tinnitus aurium eine paranoide Psychose, die durchgehend mit akustischen Halluzinationen vergesellschaftet sei, diagnostiziert. Der HNO-Arzt Dr. Schlemm hat bei einmaliger Vorstellung der Klägerin im April 2012 von einer mittelgradigen Schwerhörigkeit beidseits und einem Tinnitus beidseits, der anamnestisch auch Schlafstörungen hervorrufe, berichtet. Dr. M. , Nervenarzt, hat von einer psychotischen Störung mit akustischen Halluzinationen und Ängsten bei einmaliger Behandlung 2011 berichtet. Ein Tinnitus sei nicht erwähnt worden. Dr. C. , HNO-Arzt, hat im Rahmen der einmaligen Untersuchung im Oktober 2013 einen Tinnitus zum Zeitpunkt der Messung nicht lokalisieren können. Dieser sei so weit kompensiert, dass der Tagesablauf der Klägerin nicht wesentlich gestört und die Alltagsaufgaben ohne Hinderung erledigt werden könnten. Dr. S. , Internist, hat die Klägerin von 2003 bis 2010 internistisch betreut und in diesem Zeitraum von einer einmaligen Beschwerde der Klägerin über Tinnitus im August 2010 bei nicht eingenommener Blutdruckmedikation und erhöhtem Blutdruck berichtet. Der Nervenarzt V. hat über Behandlungen im Jahr 2012 berichtet, im Rahmen deren die Klägerin beklagt habe, seit Jahren akustische Halluzinationen im Sinne von Stimmenhören zu haben, wobei diese Stimmen manchmal imperativen Charakter hätten und manchmal wie das Lautwerden von Gedanken erschienen seien. Auch die Geräuschwahrnehmungen hätten Selbstbezug. Die Stimmen seien als ängstigend und störend beschrieben worden. Weitere psychische Auffälligkeiten hätten sich nicht ergeben. Ein Tinnitus sei bei den Kontakten in seiner Praxis nicht geschildert worden.

Der Senat hat weiterhin eine neurologisch-psychiatrische Fachbegutachtung durch Prof. Dr. Dr. W. veranlasst. Dieser ist in seinem Gutachten, beruhend auf einer ambulanten Untersuchung im April 2015, von einer depressiven Störung mit psychotischen Symptomen vor allem im Sinne akustischer Halluzinationen ausgegangen, wobei auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass es sich um eine eigenständige psychotische Erkrankung handle. Eine klare Differenzierung zwischen psychotischen Symptomen und einem durch Lärmschwerhörigkeit bedingten Ohrgeräusch sei weder anhand der Unterlagen noch anhand der aktuellen Untersuchung - wobei sich die Anamnese ausgesprochen schwierig gestaltet habe - möglich gewesen. Er könne zwar nicht ausschließen, dass sich auf Grund der beruflichen Tätigkeit tatsächlich ein Ohrgeräusch entwickelt habe. Wenigstens gleich wahrscheinlich, wenn nicht wahrscheinlicher sei jedoch, dass es sich bei dem geklagten "Tinnitus" um den Ausdruck einer psychotischen Erkrankung handle, welche mit der beruflichen Tätigkeit in keinem Zusammenhang stehe. Er vermöge letztlich nicht zu klären, ob und in welchem Umfang Beeinträchtigungen auf Grund einer möglichen lärmbedingten Tinnituserkrankung vorliegen.

Zur weiteren Darstellung des Sacherhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 SGG zulässige Berufung ist begründet.

Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 25.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2010 abgeändert und die Beklagte verurteilt, eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu zahlen. Die Beklagte hat in den angefochtenen Bescheiden zu Recht eine Rentengewährung abgelehnt. Zwar ist zwischen den Beteiligten unstreitig und steht auf Grund der im Bescheid vom 25.06.2010 erfolgten Anerkennung bestandskräftig fest, dass bei der Klägerin eine BK 2301 vorliegt. Die Erwerbsfähigkeit der Klägerin ist indes durch diese BK nicht um wenigstens 20 v.H. gemindert. Das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe ist daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperli¬chen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.06.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswir¬kungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Für die hier zur Beurteilung antstehende BK 2301 (Lärmschwerhörigkeit) ist danach zur Beurteilung die "Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) - Königsteiner Empfehlung -", 5. Aufl. 2012 heranzuziehen. Das Sozialgericht hat zutreffend, gestützt auf die übereinstimmenden Gutachten von Dr. K. und Dr. V. , deren Einschätzungen im Einklang mit der Königsteiner Empfehlung stehen, den lärmbedingten Hörschaden beidseits mit einer MdE von 15 v.H. bewertet. Dies ist im Übrigen zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Der Senat folgt den diesbezüglichen Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Die Voraussetzungen für eine Erhöhung dieser Teil-MdE auf Grund der Beeinträchtigungen der von der Klägerin beklagten Tinnituserkrankung auf eine Gesamt-MdE von 20 v.H. liegen indes nicht vor. Der Senat kann sich schon nicht mit der notwendigen Sicherheit davon überzeugen, dass die Klägerin infolge eines Tinnitus überhaupt Beeinträchtigungen des körperlichen und/oder geistigen Leistungsvermögens erfährt, weshalb auf die Frage, ob die Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung der Teil-MdE von 15 v.H. für die Hörschädigung eine Gesamt-MdE von wenigstens 20 rechtfertigen könnten sowie auf die Frage der Ursächlichkeit von berufsbedingtem Lärm für die beklagten Tinnitus-Beschwerden nicht mehr eingegangen werden muss.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht die anspruchsbe-gründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Arbeitsunfall bzw. Berufskrankheit) und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.1999, B 2 U 47/98 R in SozR 3-1300 § 48 Nr. 67; Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 16/00 R in SozR 3-2200 § 551 Nr. 16). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27.06.1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Der nach diesen Grundsätzen erforderliche Vollbeweis für die Tinnituserkrankung selbst und für die als Folge der Tinnitus-Erkrankung behaupteten Gesundheitsstörungen ist vorliegend nicht erbracht.

Zwar gehören Ohrgeräusche nicht zu den beherrschenden, regelmäßig anzutreffenden Symptomen der Lärmschwerhörigkeit, sie können aber doch mit ihr vergesellschaftet und Begleiterscheinung der Lärmschädigung des Innenohres sein (Königsteiner Empfehlung, a.a.O. Nr. 4.4.4; auch zum Nachfolgenden). Dabei werden Ohrgeräusche, die nicht permanent vorhanden sind, im versicherungsrechtlichen Sinne als nicht erheblich eingestuft und sind somit bei der MdE-Einstufung nicht zu berücksichtigen. In Fällen dauerhafter Ohrgeräusche kann ein lärmbedingter Begleittinnitus bei der Bewertung des Gesamtschadens mit einer MdE bis zu 10 berücksichtigt werden, wobei dies im Sinne einer integrierenden MdE-Bewertung geschehen muss (Bildung einer Gesamt-MdE) und nicht durch eine einfache Addition.

Dem Sachverständigen Prof. Dr. Dr. W. folgend kann sich der Senat indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit vom Vorliegen eines Begleittinnitus in diesem Sinne überzeugen. In Übereinstimmung mit den behandelnden Nervenärzten der Klägerin Dr. B. , Dr. H. , Dr. M. und V. hat Prof. Dr. Dr. W. bei der Klägerin eine depressive Störung mit psychotischen Symptomen bzw. eine eigenständige psychotische Erkrankung festgestellt, die mit akustischen Halluzinationen einhergeht. Dabei hört die Klägerin Frauen und Männer, die schlechte Dinge über sie reden, sie auch beschimpfen und zum Teil auch befehlenden Charakter haben. Zu diesen akustischen Halluzinationen gehören auch Geräuschwahrnehmungen mit Selbstbezug (so der sachverständige Zeuge V. ). Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. W. hat in seinem neurologisch-psychiatrischen Fachgutachten trotz einer umfangreichen Anamnese und Untersuchung und umfassender Bewertung der vorliegenden medizinischen Stellungnahmen bei der Klägerin keine hinreichend klare Abgrenzung zwischen diesen akustischen Halluzinationen und einem isolierten Ohrgeräusch im Sinne eines "Tinnitus" im engeren Sinne herausarbeiten können. Trotz mehrmaliger Anläufe des Sachverständigen und Einsatz einer Dolmetscherin - die vorherigen Sachverständigen und behandelnde Ärzte haben bei der nur unzulänglich deutsch sprechenden Klägerin auf Familienangehörige zu Übersetzungszwecken zurückgegriffen - ist seitens der Klägerin keine klare Differenzierung zwischen Ohrgeräuschen im Sinne eines Tinnitus und Ohrgeräuschen im Sinne von Stimmenhören zu erreichen gewesen. So hat diese auf die Versuche des Sachverständigen, den von ihr geklagten und auch so bezeichneten Tinnitus näher einzuengen, jeweils in ein und demselben Satz von einem Maschinengeräusch und von Stimmen gesprochen, ohne dass sich dies hat differenzieren lassen. Eine Klärung dieser Frage bzw. eine klare Differenzierung ist auch daran gescheitert, dass die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen auffällig widersprüchliche Angaben gemacht hat, sowohl was die tageszeitliche Bindung der verschiedenen Ohrsensationen als auch die Lateralisierung betrifft. Auch hat die Klägerin gegenüber Prof. Dr. Dr. W. angegeben, auf dem rechten Ohr gar nichts zu hören, was zum einen mit dem mitgebrachten Audiogramm von Dezember 2014 ausgeprägt kontrastiert und zum anderen im Widerspruch zu den beiden Gutachten auf hno-ärztlichem Fachgebiet steht, wonach rechts eine nur geringgradige Innenohrschwerhörigkeit vorliegt. Auch hat der Sachverständige bei einem Test mit einem Tongenerator, mit welchem er der Klägerin verschiedene Frequenzen zu hören gegeben hat, wechselhafte Ergebnisse, die nicht mit dem in der HNO-ärztlichen Voruntersuchung bekundeten Befund eines bei drei kHz lokalisierten Tinnitus übereinstimmen, erhoben. Bei Prüfung der Handkraft hat die Klägerin wiederum keinerlei Kraftentfaltung demonstriert, was in deutlichem Widerspruch zur Beobachtung während des Aus- und Ankleidens in der Begutachtungssituation sowie zur ersichtlichen Muskulatur steht. Der Versuch, durch Selbstbeurteilungsskalen der Problematik näherzutreten, ist gescheitert, weil die Klägerin trotz wiederholter Versuche sowohl der Dolmetscherin als auch des Sachverständigen selbst nicht dazu zu motivieren gewesen ist, diese auszufüllen. Wenn danach eine endgültige Klärung, ob und in welchem Umfang bei der Klägerin eine Tinnitus-Erkrankung vorliegt, abschließend nicht möglich gewesen ist, so ist dies letztlich auf ein zumindest in großen Teilen willensgesteuertes Verhalten der Klägerin zurückzuführen gewesen und geht zu deren Lasten. Soweit die Klägerin im Nachgang zur Begutachtung durch Prof. Dr. Dr. W. schriftsätzlich durch ihren Prozessbevollmächtigten angeboten hat, die vom Sachverständigen ihr vorgelegten und von ihr nicht bearbeiteten Fragebögen nunmehr auszufüllen, ist dem nicht nachzugehen. Denn bereits auf Grund des Verhaltens der Klägerin in der klinischen Situation unter Mitwirkung der Dolmetscherin ist es dem Sachverständigen, wie dargelegt, unmöglich gewesen, wesentliche Fragen zu klären. Angesichts des Umstandes, dass allein durch die Beantwortung der Fragebögen der Sachverhalt nicht zu klären ist, ist eine diesbezügliche weitere Sachaufklärung von vornherein nicht ergiebig.

Unabhängig davon ist angesichts der dem Sachverständigen trotz des Verhaltens der Klägerin möglichen Feststellungen wie aber auch der Stellungnahmen der verschiedenen behandelnden Nervenärzte ohnedies wahrscheinlicher, dass es sich bei dem geklagten "Tinnitus" nicht um ein isoliertes Ohrgeräusch im engeren Sinne, sondern vielmehr um den Ausdruck einer psychotischen Erkrankung handelt, welche mit der beruflichen Tätigkeit in keinem Zusammenhang steht, so Prof. Dr. Dr. W ... Auch der Nervenarzt V. , der die Klägerin im Jahre 2012 wiederholt behandelt hat, geht in seiner sachverständigen Zeugenaussage davon aus, dass die Klägerin die chronischen akustischen Halluzinationen fälschlich als Tinnitus bezeichnet und damit vielmehr das psychotische Stimmenhören, Gedankenlautwerden, wie auch Wahrnehmen von Geräuschen mit Bezug auf sich selbst meint.

Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht auf Grund der eingeholten Gutachten und Stellungnahmen auf hno-ärztlichem Fachgebiet. Dr. K. räumte in seinem Gutachtens ein, bei der Ermittlung und der Verdeckung des Tinnitus, der von der Klägerin angegeben worden sei, könnten auch sprachliche Verständnisprobleme eine Rolle spielen. Dabei besaß er keine Kenntnis über die bei der Klägerin vorliegenden akustischen Halluzinationen und konnte diese demgemäß nicht im Rahmen seines Gutachtens berücksichtigen. Dr. V. hat seine Diagnose eines ständigen beidseitigen Tinnitus im Wesentlichen auf die Angaben der Klägerin bei der gutachtlichen Untersuchung - hierbei hat für die der deutschen Sprache weitgehend unkundige Klägerin deren Sohn übersetzt - und auf die Angaben der Klägerin im Tinnitus-Fragebogen der Beklagten gestützt. Es habe dabei für ihn keinen Anlass gegeben, an den spontan geäußerten Beschwerden zu zweifeln, so Dr. V. in seiner ergänzende Stellungnahme vom Januar 2013. Gegen diese Einschätzung spricht aber, worauf Prof. Dr. Dr. W. zutreffend hinweist, dass Dr. V. die psychotische Symptomatik nur unzureichend berücksichtigt hat. Denn dieser ist, entgegen den Bekundungen der behandelnden Nervenärzte und den Feststellungen des Prof. Dr. Dr. W. , lediglich von einer Verdachtsdiagnose im Hinblick auf die Halluzinationen ausgegangen und hat - insoweit fachfremd und wiederum entgegen den Feststellungen der behandelnden Nervenärzte wie auch des Prof. Dr. Dr. W. - eine psychische Erkrankung als Ursache für die beklagten Ohrgeräusche von vornherein ausgeschlossen. Im erheblichen Gegensatz zur Begutachtung bei Dr. V. , dem die Klägerin lediglich über das maschinenartige Ohrgeräusch berichtet hat, hat sie im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. Dr. W. darüber geklagt, dass sie dieses maschinenartige Ohrgeräusch nur tagsüber habe, während sie abends die kommentierenden Stimmen am Einschlafen hindern würden. Diese psychotische Störung mit akustischen Halluzinationen und Ängsten, die, so der Nervenarzt V. , auch Trugwahrnehmungen in Gestalt von Geräuschen mit Bezug auf die Klägerin umfasst, hat aber Dr. B. bereits im September 2011, also nur wenige Tage nach der Begutachtung durch Dr. V. , auf Grund älterer fremdanamnestischer Angaben gegenüber Dr. Gül diagnostiziert. Damit hat Dr. V. im Hinblick auf die Tinnituserkrankung seiner Beurteilung einen unzutreffenden und unvollständigen medizinischen Sachverhalt zu Grunde gelegt, weshalb seiner Beurteilung bereits aus diesem Grunde nicht gefolgt werden kann.

Der Senat kann sich danach schon nicht vom Vorliegen einer Tinnitus-Erkrankung im eigentlichen Sinne überzeugen, sondern geht viel eher von den Folgen einer psychischen Erkrankung mit akustischen Halluzinationen als psychotische Symptomatik einer depressiven Störung bzw. als Ausdruck einer eigenständigen psychotischen Erkrankung aus. Anhaltspunkte dafür, dass die psychische Erkrankung ursächlich auf die berufliche Lärmexposition zurückzuführen ist, liegen nicht vor.

Nachdem sonstige Umstände, die eine höhere MdE rechtfertigen könnten, nicht vorliegen, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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