L 23 SO 198/15 B

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
23
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 20 SO 119/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 23 SO 198/15 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 27. Mai 2015 aufgehoben.

Gründe:

I.

Die Beklagte wendet sich mit der Beschwerde gegen die Aussetzung des Klageverfahrens durch Beschluss des Sozialgerichts.

Mit seiner am 4. Oktober 2012 (Schriftsatz vom 29. September 2012) erhobenen Klage begehrt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 571,20 Euro, die für die Räumung einer Wohnung entstanden sein sollen (Kostenvoranschlag vom 10.08.2012). Den entsprechenden Antrag hatte die Beklagte mit Bescheid vom 24. September 2012 abgelehnt. Vor der Klageerhebung hat der Kläger keinen Widerspruch bei der Beklagten eingelegt, ein Widerspruchsverfahren ist nicht durchgeführt worden.

Mit Beschluss vom 27. Mai 2015, der Beklagten am 4. Juni 2015 zugestellt, hat das Sozialgericht den Rechtsstreit zur Entscheidung über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 24. September 2012 ausgesetzt. Ein Widerspruch sei mit Klageerhebung erfolgt.

Mit der am 25. Juni 2015 eingelegten Beschwerde macht die Beklagte geltend, das Verfahren sei zu Unrecht ausgesetzt worden. In der Klageerhebung liege kein Widerspruch. Zudem rechtfertige die Nichtdurchführung eines Widerspruchs-verfahrens nicht die Aussetzung nach § 114 Sozialgerichtsgesetz - SGG -.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 27. Mai 2015 aufzuheben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen, der vorgelegen hat und Gegenstand der Beratung gewesen ist.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss zu Unrecht das Klageverfahren ausgesetzt. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung über ein Aussetzen des Rechtsstreits, die grundsätzlich in das Ermessen des Gerichts gestellt ist (LAG Hessen v. 20.04.2007 - 11 Ta 631/06 - juris; Leopold in Roos/Wahrendorf, SGG, § 114, Rn. 69; Lowe in Hintz/Lowe, SGG, § 114, Rn. 21; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 114, Rn. 7), liegen nicht vor.

Die Tatbestände des § 114 Abs. 1 SGG (Abhängigkeit der Entscheidung im Rechtsstreit von einem festzustellenden familien- oder erbrechtlichen Verhältnis) und des § 114 Abs. 2a SGG (Abhängigkeit der Entscheidung des Rechtsstreits von der Gültigkeit einer Satzung oder einer untergesetzlichen Vorschrift im Rahmen des § 22a Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II) oder des § 114 Abs. 3 SGG (Vorliegen des Verdachts einer Straftat, deren Ermittlung Einfluss auf den zu entscheidenden Rechtsstreit hat) sind nicht erfüllt. Auch liegen die Voraussetzungen des § 114 Abs. 2 SGG nicht vor, denn die Entscheidung über die vorliegende Klage hängt nicht ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Hierunter fällt nicht die vorliegende Prozesssituation, in der es an der Durchführung eines Vorverfahrens fehlt. Die Entscheidung der Widerspruchsbehörde über einen Widerspruch ist nicht eine für die gerichtliche Entscheidung vorgreifliche Entscheidung im Sinne des § 114 Abs. 2 SGG. (SG Berlin v. 16.05.2012 - S 205 AS 11726/09 - juris, Rn. 43). Die Nichtdurchführung eines Vorverfahrens vor Klageerhebung stellt auch keinen Verfahrens- oder Formmangel im Sinne des § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG dar, weil hierunter ausschließlich Mängel im Sinne des § 41 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X - fallen (Leopold, a.a.O., Rn. 29; Keller, a.a.O., Rn. 3d).

Jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem es offensichtlich für die Zulässigkeit der Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, 2, Abs. 4 SGG des Abschlusses eines Vorfahrens nach § 78 SGG bedarf, liegen die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Rechtsstreits in entsprechender Anwendung des § 114 SGG nicht vor.

Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, dass Gelegenheit zur Nachholung eines Vorverfahrens durch Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 114 SGG gegeben werden müsse, war in den Verfahren bei Erhebung der Klage unklar, ob ein Vorverfahren überhaupt durchzuführen und deshalb als Prozess-voraussetzung erforderlich war oder ob ein eröffnetes Widerspruchsverfahren bereits abgeschlossen war (BSG v. 18.02.1964 - 11/1 RA 90/61 - juris, BSGE 20, 199 ff.; v. 22.06.1966 - 3 RK 64/62 - juris; v. 03.03.1999 - B 6 KA 10/98 R, juris, Rn. 29; v. 13.12.2000 - B 6 KA 1/00 R - juris; v. 01.07.2014 - B 1 KR 99/13 B - juris zu der Fallgestaltung, dass die Vorinstanz von einer "konkludenten" Nachholung des Widerspruchsverfahrens ausgegangen ist; v. 04.03.2014 - B 1 KR 43/13 B - juris, zu einer weiteren Auslegung eines eingelegten Widerspruchs; zur Lit. vgl. Keller, a.a.O., Rn. 5 m.w.N.; Leopold, a.a.O., Rn. 47 f. m.w.N.).

In diesen Fällen war das Gericht schon mit dem (inhaltlichen) Begehren des Klägers in der Hauptsache befasst und erst im weiteren Verfahren vor dem Gericht wurde erkannt, dass die Durchführung eines Vorverfahrens für die Zulässigkeit der erhobenen Klage erforderlich ist. In solchen Fällen mag eine Aussetzung zur Nachholung von Prozessvoraussetzungen unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie in Betracht zu ziehen sein.

Dies ist jedoch nicht auf diejenigen Konstellationen zu übertragen, in denen die Notwendigkeit eines Vorverfahrens mit Erlass des Ausgangsbescheides nicht im Zweifel steht und ein Widerspruchsverfahren - aus welchen Gründen auch immer - nicht durchgeführt wird (so i.E. auch LSG Bayern v. 12.08.2013 - L 7 AS 455/13 - juris; Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, § 78, Rn. 36). In diesen Fällen ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen es prozessökonomisch sein soll, die Selbstkontrolle der Verwaltung im Widerspruchsverfahren vor Entscheidung über die mangels Sachurteilsvoraussetzungen unzulässige Klage abzuwarten.

Auch aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes erscheint eine entsprechende Anwendung des § 114 SGG in diesen Fällen nicht erforderlich. Legt der Betroffene keinen Widerspruch vor Klageerhebung ein, so geht die Nichtdurchführung eines gebotenen Vorverfahrens auf sein Unterlassen zurück. Es fehlt an einer Sachurteilsvoraussetzung und die Klage ist unzulässig. Die Einleitung und Durchführung des Widerspruchsverfahrens ist dabei eine vom Kläger vor Klageerhebung zu betreibende Angelegenheit (Becker, a.a.O., Rn. 36 zur "Obliegenheit"). Einer Nachholung des Widerspruchsverfahren während des Klageverfahrens bedarf es nicht, denn der Kläger hat - soweit die Widerspruchsfrist noch nicht verstrichen ist - die Möglichkeit, die Verwaltungsentscheidung durch die Behörde überprüfen zu lassen, so dass es möglicherweise nicht zu einem (weiteren) Gerichtsverfahren kommen muss (vgl. auch SG Stuttgart v. 09.05.2011 - S 20 SO 1922/11 - juris, Rn. 22). Ist die Widerspruchsfrist bereits verstrichen, werden die Rechte des Klägers, soweit nicht Gründe für eine Wiedereinsetzung in das Verfahren nach § 67 Abs. 1 SGG gegeben sind, dadurch gewahrt, dass über einen Antrag nach § 44 SGB X die materielle Rechtmäßigkeit einer Entscheidung außergerichtlich geprüft werden kann. Auch dieses bei der Behörde angesiedelte Verfahren kann zur außerprozessualen Klärung des Anliegens führen, was allenthalben "prozessöko-nomisch" wäre.

Gerade auch in Fällen wie dem vorliegenden, in denen der Adressat eines Bescheides nicht bei der zuständigen Behörde und jedenfalls auch nicht bei einer anderen Stelle ausdrücklich einen Widerspruch erhoben hat und die zuständige Behörde im weiteren Verfahren die Auffassung vertreten kann, mangels Widerspruchs nicht ein Widerspruchsverfahren durchführen zu müssen, führt der Gesichtspunkt der Prozessökonomie nicht zu einer Aussetzung des Klageverfahrens in entsprechender Anwendung des § 114 SGG. Im Falle der Aussetzung ist nicht gewährleistet, dass tatsächlich über einen Widerspruch entschieden wird. Eine für erforderlich gehaltene Entscheidung über einen Widerspruch ist nur im Wege einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG zu erreichen, die durch ein Aussetzen des Klageverfahrens nicht automatisch obsolet würde (vgl. insoweit aber das BSG, welches eine Möglichkeit der Verurteilung der Behörde im ausgesetzten Rechtsstreit zum Erlass eines Widerspruchsbescheides durch Zwischenurteil sieht (BSG v. 30.01.1980 - 9 RV 40/79 - juris, Rn. 15, ohne weitere rechtliche Begründung; v. 03.03.1999 - B 6 KA 10/98 R - juris, Rn. 32, allerdings mit der weiteren Feststellung in Rn. 29, dass grundsätzlich "die Situation einer Untätigkeitsklage" bestehe; zur Obliegenheit des Klägers für die Durchsetzung des Abschlusses des Widerspruchsverfahrens vgl. Becker, a.a.O., Rn. 36). Ein solches Verfahren wäre im Übrigen nach § 88 Abs. 1 Satz 2 SGG auszusetzen, wenn ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Widerspruchs vorliegt (vgl. hierzu auch Lowe, a.a.O., Rn. 13, § 88, Rn. 26). Bleibt die Behörde also nach einem Aussetzungsbeschluss in entsprechender Anwendung des § 114 SGG zur Nachholung eines Widerspruchs-verfahrens untätig, kann es erforderlich sein, einen weiteren Prozess durch Erhebung der Untätigkeitsklage anhängig zu machen, der u.U. gleichfalls zum Ruhen kommt. Auch dies entspricht nicht der Prozessökonomie (dies gilt auch, soweit nach Auffassung des BSG eine Klärung durch Zwischenurteil [vgl. oben] im ausgesetzten Prozess erforderlich werden würde.).

Der Streit, ob überhaupt ein Widerspruch vorliegt und ein Vorverfahren eröffnet ist, welches durch Abhilfebescheid oder Widerspruchsbescheid zu beenden ist, ist daher im Zweifel im Wege der Untätigkeitsklage zu klären.

Vorliegend ist das anhängige Klageverfahren entscheidungsreif. Hält das Sozialgericht - wie mit dem angefochtenen Beschluss angenommen - die Sachurteilsvoraussetzungen für die erhobene Klage für nicht erfüllt, wäre die Klage als unzulässig abzuweisen. Ob vorliegend mit der Klageerhebung ein Widerspruch gegen den Bescheid vom 24. September 2012 eingelegt wurde (zum Meinungsstand vgl. Becker in Roos/Wahrendorf, SGG, § 78, Rn. 32; abl. ders., a.a.O., § 83, Rn. 8; Lowe, a.a.O., § 83, Rn. 7), war vorliegend nicht zu entscheiden, da die zu entscheidende Frage, ob die Aussetzung mit dem angefochtenen Beschluss zu Recht erfolgt ist, hiervon unabhängig ist.

Nach allem lagen die Voraussetzungen für die Aussetzung des Rechtsstreits nicht vor.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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