L 11 KR 2896/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 1580/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2896/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29.06.2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 29.08.2014 zu bescheiden.

Die Beklagte erstattet die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Bescheidung eines Widerspruchs im Wege der Untätigkeitsklage.

Der 1949 geborene Kläger bezog vom 01.02.2012 bis 30.06.2014 Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Von der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV Bund) wurde ihm auf seinen Antrag vom 26.02.2014 rückwirkend ab 01.04.2014 Altersrente bewilligt. Die DRV Bund erstattete aus der zustehenden Rente dem Jobcenter die gewährten Leistungen für den Zeitraum 01.04. bis 30.06.2014. Die Voraussetzungen für die Krankenversicherung der Rentner (KVdR) erfüllt der Kläger nicht.

Mit Bescheid vom 13.06.2014 setzte die Beklagte im Rahmen einer freiwilligen Versicherung die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung – auch im Namen der Pflegekasse – für die Zeit ab 01.04.2014 auf insgesamt 168,30 EUR fest (146,55 EUR Krankenversicherung (KV); 21,75 EUR Pflegeversicherung (PV)). Der Kläger legte Widerspruch ein mit der Begründung, es könne kein Zahlbetrag festgesetzt werden, ohne dass entweder die bereits gezahlten Beiträge zurückgezahlt oder verrechnet würden. Mit Schreiben vom 22.07.2014 stundete die Beklagte die Beiträge für April bis Juli 2014 bis zum 15.09.2014.

Mit Schreiben vom 29.08.2014 fasste die Beklagte den bisherigen Ablauf zusammen und verwies darauf, dass Versicherungspflicht aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II bis 30.06.2014 bestanden habe und die Beitragsabführung bis 30.06.2014 durch das Jobcenter erfolgt sei. Eine telefonische Rücksprache mit dem Rentenversicherungsträger habe ergeben, dass bisher aufgrund eines eingeleiteten Klageverfahrens wegen der Rentenhöhe kein Beitragszuschuss ausgezahlt worden sei, der Kläger sei daher als versicherungspflichtiger Rentner ab 01.07.2014 gemeldet worden. Die Beitragsabführung erfolge über den Rentenversicherungsträger, bis über die Klage entschieden sei. Anschließend werde man den Beitragszuschuss rückwirkend auszahlen. Der Beitragsbescheid vom 13.06.2014 zur Beitragszahlung ab 01.07.2014 werde daher dahin ergänzt, dass die Beiträge ab 01.07.2014 bis zur Entscheidung des Klageverfahrens der DRV Bund, längstens bis 15.12.2014 gestundet würden. Das Schreiben enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 31.10.2014 Widerspruch ein. Es sei noch die Frage nach den doppelten Beiträgen zu beantworten. Alternativ würde ihm ein Bescheid des Jobcenters genügen, dass er nicht auf Rückzahlung der Beiträge für April bis Juni 2014 in Anspruch genommen werde.

Mit Schreiben vom 31.10.2014 teilte der Kläger der Beklagte mit, die DRV Bund habe jetzt die Beiträge zur KV und PV als freiwillig Versicherter ausgezahlt, die Nachzahlung für Juli bis Oktober 2014 betrage 684,44 EUR. Es bleibe die Klärung der doppelten Beiträge; die Beklagte habe wohl einen Beitrag von ihm und einen Beitrag durch das Jobcenter erhalten. Insoweit sei der Betrag von 504,90 EUR streitig, diesen Betrag halte er zurück. Gezahlt werde daher der Beitrag für November von 171,11 EUR sowie für Juli bis Oktober 2014 eine Nachzahlung der Differenz von 179,54 EUR.

Mit Bescheid vom 05.11.2014 setzte die Beklagte – auch im Namen der Pflegekasse - die Beiträge als freiwillig versicherter Rentner ab 01.07.2014 iHv insgesamt 171,11 EUR fest (KV 149,00 EUR, PV 22,11EUR). Der Beitragsrückstand für August und September 2014 betrage 333,79 EUR. Mit Schreiben vom 19.12.2014 mahnte die Beklagte die Zahlung von 338,73 EUR an und drohte die Einschränkung des Leistungsanspruchs bei fehlender Zahlung bis 05.01.2015 an.

Mit Bescheid vom 09.01.2015 setzte die Beklagte das Ruhen des Leistungsanspruchs ab 16.01.2015 fest. Mit Schreiben vom 17.02.2015 hob sie den Ruhensbescheid wieder auf.

Mit Schreiben vom 20.02.2015 mahnte die Beklagte die Beiträge für Januar 2015 zuzüglich Säumniszuschlag und Mahngebühren iHv insgesamt 179,53 EUR an. Der Kläger erhob Widerspruch und teilte mit Schreiben vom 09.03.2015 zusätzlich mit, er werde für die Dauer des Ruhens den KV-Beitrag mindern. Mit weiterem Schreiben vom 20.03.2015 mahnte die Beklagte für Februar 2015 einen Betrag iHv 179,53 EUR an. Auch hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. Er werde jetzt seit neun Monaten wegen eines Beitragsrückstands von April bis Juni 2014 verfolgt. Von der DRV Bund sei der Mitgliedsbeitrag für die KV/PV einbehalten worden, er gehe daher davon aus, dass dieser doppelt an die Beklagte gegangen sei. Mit Schreiben vom 14.04.2015 wies die Beklagte auf einen bestehenden Beitragsrückstand für die Zeit Juli 2014 bis Februar 2015 iHv 534,18 EUR hin. Mit Schreiben vom 21.04.2015 mahnte sie einen Rückstand für März 2015 iHv 179,53 EUR.

Mit Schreiben vom 18.05.2015, eingegangen beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) am 19.05.2015, hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Sein Widerspruch vom 18.09.2014 gegen den Bescheid vom 29.08.2014 sei bis heute nicht bearbeitet worden, daher sei Klage geboten.

Mit Gerichtsbescheid vom 29.06.2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Untätigkeitsklage nach § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) setze voraus, dass es überhaupt einen Verwaltungsakt gebe, gegen den sich der Widerspruch richten könne, denn ein Widerspruch könne zulässigerweise nur gegen einen Verwaltungsakt eingelegt werden. Das Schreiben der Beklagten vom 29.08.2014 enthalte allenfalls eine Regelung, die Stundung der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung. Allerdings wirke diese Regelung für den Kläger begünstigend, denn ohne die Stundung wären die Beiträge sofort fällig gewesen. Diese Regelung habe der Kläger auch nicht angegriffen. Im Übrigen habe sich die Stundung ohnehin durch Zeitablauf erledigt, denn der Stundungszeitraum sei verstrichen. Ansonsten erschöpfe sich das Schreiben der Beklagten in einer Darstellung der Sach- und Rechtslage, eine weitere Regelung finde sich nicht. Der Widerspruch des Klägers vom 18.09.2014 sei daher nicht statthaft, die Beklagte müsse darüber nicht entscheiden.

Hiergegen richtet sich die am 09.07.2015 eingelegte Berufung des Klägers. Die Vorinstanz habe zutreffend erwähnt, dass der mit Widerspruch angefochtene Bescheid nicht den Vorschriften eines Bescheids entspreche. Dieser sei aber noch existent und nicht zurückgenommen. Dem Kläger müsse Rechtssicherheit zustehen, denn ohne Widerspruch würde der Bescheid rechtskräftig und könnte eine nicht erkennbare Wirkung entfalten. Der Gerichtsbescheid werde dem Verfahrensgegenstand nicht gerecht, da er den angefochtenen Bescheid bedingungslos bestehen lasse und gleichzeitig dem Inhalt des Widerspruchs zustimme.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29.06.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Widerspruch vom 18.09.2014 zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie schließt sich den nach ihrer Ansicht zutreffenden Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheids an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs 1 SGG) eingelegte, statthafte (§ 143 SGG) und damit zulässige Berufung ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Bescheidung seines mit Schreiben vom 18.09.2014 eingelegten Widerspruchs.

Gemäß § 88 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 1 SGG ist die Untätigkeitsklage nicht vor Ablauf von drei Monaten seit Erhebung des Widerspruchs zulässig, wenn dieser ohne zureichenden Grund in angemessener Frist – drei Monate – nicht beschieden worden ist. Vorliegend hat der Kläger seine Untätigkeitsklage am 19.05.2015, also nach Ablauf von drei Monaten nach Einlegung des Widerspruchs am 19.09.2014, erhoben, so dass die Sperrfrist abgelaufen ist. Ein zureichender Grund für eine fehlende Bescheidung liegt nicht vor.

Der Senat kann offen lassen, ob eine Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 2 SGG dann unzulässig ist, wenn sich der Widerspruch nicht gegen einen Verwaltungsakt richtet (so Landessozialgericht (LSG) Hamburg 18.02.2004, L 1 KR 71/03; LSG Berlin-Brandenburg 16.07.2007, L 18 B 1185/07 AS, beide juris; aA Binder in Hk-SGG, 4. Aufl, § 88 RdNr 6). Denn der Bescheid der Beklagten vom 29.08.2014 stellt sich entgegen der Auffassung des SG sehr wohl als Verwaltungsakt dar. Zum einen enthält er als Regelung in ausdrücklicher Ergänzung des Beitragsbescheids vom 13.06.2014 eine Stundung der Beiträge bis 15.12.2014 und stellt damit eine Verfügung einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen dar entsprechend der gesetzlichen Begriffsbestimmung des Verwaltungsakts gemäß § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Zwar trifft es zu, dass der Kläger durch die ihn begünstigende Regelung der Stundung nicht beschwert ist. Dies ist jedoch eine Frage der Zulässigkeit des Widerspruchs, nicht der Untätigkeitsklage. Zweck des § 88 Abs 2 SGG ist, sicherzustellen, dass dem Bürger aus dem säumigen Verhalten der Verwaltung keine Nachteile erwachsen (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl, § 88 RdNr 13). Er soll insbesondere keinen Nachteil dadurch erleiden, dass die Behörde vor Erhebung der Anfechtungs- bzw Verpflichtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes in einem Vorverfahren nachzuprüfen hat (§ 78 Abs 1Satz 1, Abs 3 SGG) und er durch die Säumnis der Behörde von der Klagerhebung abgehalten wird. Deswegen hat die Verwaltung grundsätzlich auch einen unzulässigen Widerspruch zu bescheiden, zB bei Verfristung oder fehlendem Rechtsschutzbedürfnis (LSG Hamburg, aaO; Binder in Hk-SGG, 4. Aufl, § 88 RdNr 6; Ulmer in Hennig, SGG, Stand Juni 2015 § 88 RdNr 22). Im Widerspruchsbescheid wäre dann auszuführen, dass der Widerspruch mangels Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen keinen Erfolg haben konnte. Im vorliegenden Fall ist dieser Gesichtspunkt allerdings nicht entscheidend, denn der Kläger hat diese ihn begünstigende Regelung, die sich inzwischen auch durch Zeitablauf erledigt hat, mit seinem Widerspruch gar nicht angefochten.

Entscheidend ist vielmehr, dass der Bescheid der Beklagten vom 29.08.2014 schon wegen der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung einen Formalverwaltungsakt darstellt. Die Beklagte hat über zwei Seiten Ausführungen zur Sach- und Rechtslage gemacht, die – wie das SG zutreffend gesehen hat – keinerlei Regelungscharakter haben. Dadurch, dass die Beklagte dieses Schreiben mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen hat, hat sie es formal zu einem Verwaltungsakt gemacht (Bundessozialgericht (BSG) 20.10.2005, B 7a AL 18/05 R, BSGE 95, 176 = SozR 4-4300 § 119 Nr 3). Das Schreiben der Beklagten ist auch nicht in einer Form gestaltet, die erkennbar die allgemeinen Hinweise ohne Regelungscharakter von der Regelung (Stundung der Beiträge) trennen würde, so dass auch nicht ersichtlich ist, dass sich die Rechtsbehelfsbelehrung nur auf den Regelungsteil beziehen würde. Aus Sicht des objektiven Empfängerhorizonts hat die Beklagte damit den Rechtsschein von Regelungen auch im Bereich der allgemeinen Ausführungen gesetzt. Ein solcher formeller Verwaltungsakt ist vom Verwaltungsträger aufzuheben, denn allein durch seine Existenz ist der Kläger mit dem Risiko behaftet, dass ihm in Zukunft uU ein insoweit "bestandskräftiger Verwaltungsakt" entgegengehalten werden könnte (BSG 24.07.2003, B 4 RA 60/02 R, SozR 4-1200 § 52 Nr 1).

Angesichts der hier vorliegenden Konstellation ist auch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs keine Ausnahme von der Bescheidungspflicht des § 88 SGG zuzulassen. Denn dies käme nur in Betracht, wenn ein materiell-rechtlicher Anspruch offensichtlich unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vorläge und sich die Erhebung der Untätigkeitsklage lediglich als Ausnutzung einer formalen Rechtsposition ohne eigenen Nutzen und zum Schaden (Kostenlast) für den anderen Beteiligten darstellte (LSG Bremen 03.07.1996, L 4 BR 39/95, SGb 1997, 168; LSG Niedersachsen 26.11.1997, L 4 Kr 99/96, NZS 1998, 448; offengelassen BSG 11.11.2003, B 2 U 36/02 R, SozR 4-1500 § 88 Nr 1). Angesichts der obigen Ausführungen zum formellen Verwaltungsakt liegt eine derartige Fallgestaltung hier jedoch nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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