L 13 SB 153/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 45 SB 750/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 153/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Mai 2013 wird zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten noch hinsichtlich des Zeitraums von September 2008 bis Februar 2015 über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Der Beklagte hatte bei dem 1940 geborenen Kläger im Jahr 2000 einen GdB von 40 festgestellt. Auf den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 4. September 2008 stellte der Beklagte bei ihm mit Bescheid vom 27. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2012 einen Grad der Behinderung von 50 fest und lehnte die beantragte Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab. Hierbei ging er von folgenden (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewerteten) Funktionsbehinderungen aus:

1. Wegeunfallfolgen (30), 2. Gonarthrose links, Impingement-Syndrom rechte Schulter, Carpaltunnel-Syndrom beidseits (30), 3. Kunstgelenkersatz des Knies (20), 4. Halswirbelsäulen-Syndrom (10).

Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger einen höheren GdB als 50 und das Merkzeichen "G" begehrt.

Das Sozialgericht hat von Amts wegen das Gutachten des Facharztes für Orthopädie, Rheumatologie, Unfall- und Handchirurgie Prof. Dr. S vom 3. Dezember 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 2. April 2012 eingeholt, der einen Gesamt-GdB von 50 ermittelt und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneint hat.

Mit Urteil vom 16. Mai 2013 hat das Sozialgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, bei dem Kläger liege kein höherer GdB als 50 vor. Auch die Voraussetzungen des Merkzeichens G seien zu verneinen.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er einen GdB von 70 und die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab Antragstellung begehrt hat.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Orthopäden Dr. W vom 7. Mai 2014. Der Sachverständige hat nach Untersuchung des Klägers auf seinem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:

1. Arbeitsunfallfolgen (Schulterteilsteife rechts), Schulterengpasssyndrom links, Carpaltunnelsyndrom beidseits (30), 2. Wirbelsäulenfehlhaltung, Bewegungsstörung der Hals- und Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen (20), 3. Zustand nach Kunstgelenkersatz des rechten Knies, hochgradiger Kniegelenkverschleiß links mit Deformierung, chronisch venös-lymphatische Insuffizienz, Hautveränderungen (30).

Er hat weiterhin die Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50 für begründet gehalten.

Ferner hat der Senat das Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. A vom 22. Juni 2015 eingeholt, der folgende Funktionsbeeinträchtigungen ermittelt hat:

seit September 2008 4. zerebrale Malformation, 5. fokale Anfälle, 6. degenerative Umformungen im Bereich der Halswirbelsäule mit mittelgradigen Nervenwurzelreizerscheinungen, 7. degenerative Veränderungen im Bereich der Schultergelenke mit Impingement-Sndrom, 8. totalendoprothetische Versorgung des rechten Kniegelenks und mittelgradige Arthrose, 9. Krampfaderleiden,

seit März 2015 10. distal-symmetrische sensible Polyneuropathie der unteren Extremität, 11. Zustand nach schwerer kardialer Rhythmusstörung mit Vorhofflattern, Zustand nach Isthmus-Ablation und Zustand bei oraler Antikoagulation, kardiale Dekompensation, Belastungs-Dyspnoe.

Die neu festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen sind gutachterlich wie folgt bewertet worden:

- zerebrale Malformation (40), - zerebrale Anfallsäquivalente in Form von paroxysmalen Sehstörungen und fokalen Anfällen der linken oberen Extremität (30), - distal-symmetrische sensible Polyneuropathie der unteren Extremität (20), - Zustand nach kardialer Rhythmusstörung mit Vorhofflattern, Zustand nach Isthmus-Ablation und Zustand bei oraler Antikoagulation, kardiale Dekompensation, Belastungs-Dyspnoe (30).

Der Sachverständige hat vorgeschlagen, den Gesamt-GdB ab März 2015 auf 70 anzuheben. Von diesem Zeitpunkt an lägen auch die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vor.

In der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober 2015 hat der Beklagte erklärt, bei dem Kläger mit Wirkung vom 1. März 2015 an den GdB auf 70 zu erhöhen und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen und die Berufung, soweit sie den Zeitraum vor März 2015 betrifft, aufrecht erhalten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Mai 2013 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 27. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Februar 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab September 2008 einen Grad der Behinderung von 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Er ist der Ansicht, dass seine Entscheidung zutreffend ist.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, unbegründet. Das Sozialgericht hat insoweit die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid des Beklagten in diesem Umfang rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 70 für den Zeitraum von September 2008 bis Februar 2015.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in der Fassung von 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Nach dem überzeugenden Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr. W vom 7. Mai 2014 sind im Funktionssystem der oberen Extremitäten die Arbeitsunfallfolgen (Schulterteilsteife rechts), das Schulterengpasssyndrom links und das Carpaltunnelsyndrom beidseits mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Dies entspricht den Vorgaben in Nr. 26.18 der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 18.13 der Anlage zur VersMedV.

Die Wirbelsäulenfehlhaltung sowie die Bewegungsstörung der Hals- und Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen bedingen nach Nr. 26.18 der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 18.9 der Anlage zur VersMedV einen Einzel-GdB von 20.

Auf orthopädischem Fachgebiet hat der Gutachter Dr. W weiter vorgeschlagen, im Funktionssystem der unteren Extremitäten für den Zustand nach Kunstgelenkersatz des rechten Knies, den hochgradigen Kniegelenkverschleiß links mit Deformierung, die chronisch venös-lymphatische Insuffizienz und die Hautveränderungen einen Einzel-GdB von 30 zu vergeben. Dem schließt der Senat sich an (vgl. Nr. 26.18 der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 18.14 der Anlage zur VersMedV).

Im noch streitbefangenen Zeitraum ist nach dem Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. A vom 22. Juni 2015 ferner die zerebrale Malformation zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die von dem Sachverständigen festgestellten paroxysmalen Sehstörungen und die fokalen Anfälle der linken oberen Extremität ist nach Nr. 26.3 der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 3.1 der Anlage zur VersMedV hierfür ein Einzel-GdB von 40 in Ansatz zu bringen.

Die Zustände nach kardialer Rhythmusstörung mit Vorhofflattern, nach Isthmus-Ablation und bei oraler Antikoagulation sowie die kardiale Dekompensation und die Belastungs-Dyspnoe sind nach den gutachterlichen Darlegungen erst im März 2015 – und damit außerhalb des noch streitbefangenen Zeitraums – aufgetreten. Entsprechendes gilt für die distal-symmetrische sensible Polyneuropathie der unteren Extremität, die erst im Rahmen der durch den Sachverständigen Prof. Dr. A im Juni 2015 durchgeführten Untersuchung aufgedeckt wurde.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zur VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Danach ist im streitbefangenen Zeitraum der Einzel-GdB von 40 für die zerebrale Malformation mit Rücksicht auf die orthopädischen Leiden des Klägers um einen Zehnergrad auf den Gesamt-GdB von 50 anzuheben. Eine weitere Erhöhung kommt nach den gutachterlichen Darlegungen, denen der Senat sich anschließt, erst mit Wirkung ab März 2015 im Hinblick auf die zu diesem Zeitpunkt hinzutretenden Einschränkungen der Herz- und Lungenfunktion, die einen GdB von 30 bedingen, in Betracht.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" für den Zeitraum von September 2008 bis Februar 2015.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe BSG, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, vgl. Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 11 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da der Verordnunggeber materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.

Gemessen an diesen Grundsätzen liegen bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" im streitbefangenen Zeitraum nicht vor. Der Kläger ist erst seit März 2015 behinderungsbedingt erheblich in seinem Gehvermögen eingeschränkt. Der Sachverständige Prof. Dr. A hat überzeugend dargelegt, dass sich die Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung und die Atembehinderungen aufgrund der kardialen Einschränkungen der Lungenfunktion, die erst im März 2015 aufgetreten sind, sowie die hirnorganischen Anfälle auf die Gehfähigkeit des Klägers negativ auswirken. Allein im Hinblick auf die außergewöhnliche Summierung der die Gehleistung limitierenden Funktionsbeeinträchtigungen aus drei unterschiedlichen Funktionssystemen (Gehirn Atmung und Herz- Kreislauf) ist von diesem Zeitpunkt an die Zuerkennung des Merkzeichens "G" gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits und den Umstand, dass der Beklagte auf die Veränderungen im Gesundheitszustand des Klägers mit dem Teilanerkenntnis reagiert hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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