L 9 R 1603/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 355/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 1603/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. März 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 30.09.2011 hinaus.

Die am 1958 geborene Klägerin, die keinen Beruf erlernt hat, war als Zimmermädchen und zuletzt als Verpackerin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Oktober 2004 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Nachdem die Klägerin aus einer Rehabilitationsmaßnahme in der A.klinik am 09.12.2004 zwar in Bezug auf die orthopädischen Beschwerden als arbeitsfähig für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit einer Verpackerin entlassen, jedoch im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme nach konsiliarischer Untersuchung durch die psychologische Abteilung wegen mittelgradiger Depression, Panikstörung und somatoformer Schmerzstörung als derzeit nicht leistungsfähig eingestuft worden war, gewährte die Beklagte ihr nach Einholung eines ärztlichen Befundberichtes beim behandelnden Nervenarzt Dr. B. ab dem 01.04.2005 bis zum 30.09.2011 befristet Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Mit Schreiben vom 26.05.2011 beantragte die Klägerin die Fortzahlung der Rente.

Die Beklage beauftragte daraufhin Dr. H. mit der Erstellung eines nervenfachärztlichen Gutachtens, der darin nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 02.08.2011 die Diagnosen Angst und depressive Störung gemischt und undifferenzierte Somatisierungsstörungen stellte und ausführte, bei der Untersuchung habe sich ein internistisch und neurologisch völlig unauffälliger Befund gezeigt. Die Klägerin wirke psychisch jugendlich und sei außerordentlich gepflegt und modisch gekleidet. Sie sei sehr lebhaft in Gestik und Mimik, und es bestehe kein Hinweis auf ein wesentliches depressives Syndrom, es liege keine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls vor, sondern die Klägerin wirke vital und dynamisch. Hinweise auf Interessenverlust oder Freudlosigkeit, psychotische Elemente oder ein hirnorganisches Psychosyndrom fehlten. Zusammenfassend bestünden bei der Klägerin keine gravierende körperliche Erkrankung und auch keine schwerwiegende seelische Störung, die eine zeitliche Leistungsminderung im Erwerbsleben rechtfertigen könnten. Mittelschwere Arbeiten auf dem gesamten allgemeinen Arbeitsmarkt ohne besonders hohe Anforderungen an die psychische Belastbarkeit seien mehr als sechs Stunden täglich zumutbar.

Mit Bescheid vom 08.09.2011 lehnte die Beklagte daraufhin die Weitergewährung der Rente ab.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein mit der Begründung, ihr Gesundheitszustand habe sich nicht gebessert, sondern im Gegenteil hätten sich die Krankheitssymptome verstärkt. Der behandelnde Neurologe Dr. B. habe bereits im Jahre 2006 attestiert, dass es sich bei der zugrunde liegenden Erkrankung um eine chronifizierte Entwicklung handle. Dr. H. sei demgegenüber bekannt für seine äußerst restriktiven Gutachten, das vorliegend im krassen Missverhältnis zu den eingeholten ärztlichen Berichten der letzten Jahre stehe.

Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2012 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 14.02.2012 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) eingereicht unter Wiederholung der Begründung im Widerspruchsverfahren.

Das SG hat zunächst den behandelnden Neurologen und Psychiater Dr. B. als sachverständigen Zeugen befragt, der daraufhin in seinem Bericht vom 15.05.2012 ausgeführt hat, es sei im Laufe der Jahre zu einem persistierenden schweren Erschöpfungssyndrom mit manifest depressiver Störung gekommen, verbunden mit einem Verlust der Lebensfreude, innerer Getriebenheit, Zukunftsängsten, chronischen Schlafstörungen, Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Antriebsstörungen mit Fixierung auf körperliche Beschwerden mit anhaltenden massiven Verspannungen speziell auch im Nacken-/Schultergürtelbereich mit kephalgischer Ausstrahlung. Hierbei handle es sich um eine völlig chronifizierte Störung ohne Aussicht auf durchgreifende Besserung. Eine leichte Tätigkeit könne sie auf keinen Fall mehr vollschichtig ausüben.

Im Anschluss hieran hat das Gericht den Neurologen und Psychiater Dr. T. mit der Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens betraut, der darin am 27.08.2012 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin als Diagnosen Angst und Depressionen gemischt, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie ein chronisches HWS- und LWS-Syndrom gestellt hat. Bei der aktuellen psychiatrischen Begutachtung zeige sich wie bei der gutachterlichen Untersuchung von Dr. H. keine wesentliche depressive Symptomatik. Die Klägerin habe weder depressiv gewirkt, noch seien in der Verhaltensbeobachtung wesentliche Schmerzen aufgefallen. Von körperlicher Seite ergäben sich keine gravierenden Einschränkungen, die eine berufliche Leistungsminderung rechtfertigen würden. Gegen eine schwerwiegende depressive Symptomatik spreche eine gut erhaltene Tagesstruktur. Die Klägerin sei durchaus in der Lage, angenehme Tätigkeiten wie z. B. Spazierengehen auszuüben. Aktuell sei sie auch auf einer Urlaubsreise nach B. gewesen. Die von ihr angegebenen Schmerzen seien in dieser Intensität nicht nachzuvollziehen. Diesbezüglich ergäben sich deutliche Hinweise für eine Aggravation und Syndromüberbewertungstendenzen. Gegen eine erhebliche Schmerzsymptomatik sprächen auch geringe schmerztherapeutische Maßnahmen, da die Klägerin lediglich Ibuprofen als Schmerzmedikation einnehme. Eine schmerztherapeutische Vorstellung z. B. in einer Schmerzambulanz sei noch nie erfolgt. Auch eine akut stationäre Depressionsbehandlung oder Schmerzbehandlung seien nach Angaben der Klägerin nicht durchgeführt worden. Bei entsprechender Willensanstrengung könne die Klägerin leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leisten.

Im Anschluss hieran hat das Gericht auf Antrag der Klägerin Prof. Dr. B. gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mit der Erstellung eines psychiatrischen-schmerzpsychologischen Gutachtens beauftragt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 24.03.2013 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin eine Dysthymia und eine mittelschwere depressive Symptomatik auf dem Boden von chronischer Schmerzstörung mit somatischen Faktoren im Sinne eines chronifizierten Schmerzsydroms nach Gerbershagen Stadium 1 - 2 diagnostiziert. Hierdurch sei die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin praktisch aufgehoben. Sie könne aufgrund der formal gedanklichen Beeinträchtigung mit Grübeln, Gedankeninterferenz, Gedankenjagen, Antriebsstörung, Konzentrationsstörung, mangelnder Impulsbildung und schlechtem Elan den Beruf als Zimmermädchen oder Verpackerin nicht mehr vollschichtig ausüben. Leichte typische Frauenarbeiten könne sie maximal noch drei Stunden täglich verrichten.

Auf Veranlassung des SG hat Dr. T. zum Gutachten des Prof. Dr. B. Stellung genommen und in seinem Schreiben vom 13.07.2013 u.a. ausgeführt, die Diagnose einer Dysthymia nicht nachvollziehen zu können. Diese führe üblicherweise auch nicht zu einer dauerhaften Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit, da es sich hier um eine affektive Störung handle, die den Schweregrad einer leichten depressiven Episode nicht erfülle. Insofern könne auch eine mittelgradige depressive Episode nicht neben einer Dysthymia bestehen, höchstens als "double-Depression" zeitlich begrenzt.

Mit Urteil vom 20.03.2014 hat das SG ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG die Klage abgewiesen, da die Klägerin zumindest noch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne, wie sich insbesondere aus den Gutachten des Dr. H. sowie Dr. T. ergäbe. Bereits die niedrigfrequente fachpsychiatrische und die nicht nachgewiesene medikamentöse Behandlung sprächen gegen einen bedeutenden Leidensdruck und mithin gegen eine die quantitative Leistungsfähigkeit beeinträchtigende Erkrankung. Zudem lasse die bei Dr. T. geschilderte Alltagsgestaltung der Klägerin keine Anhaltspunkte für eine relevante Einschränkung erkennen. Der Einschätzung des Prof. Dr. B. sei nicht zu folgen, da diese nicht mit der von Dr. H. und Dr. T. beschriebenen niedrig frequenten fachpsychiatrischen oder zumindest nicht belegten bedeutenden medikamentösen Behandlung in Einklang zu bringen sei. Letztlich stütze sich die Beurteilung des Prof. Dr. B. im Wesentlichen auf Fremd- und insbesondere Selbstbeurteilungsskalen. Der behandelnde Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. begründe die von ihm angenommene zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens nicht. Die Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit komme ebenfalls nicht in Betracht, da die Klägerin auf alle auf dem Arbeitsmarkt vorkommenden Tätigkeiten verwiesen werden und im Übrigen auch ihre letzte Tätigkeit als Verpackerin weiterhin ausüben könne.

Hiergegen hat die Klägerin am 08.04.2014 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt mit der Begründung, es bestünden erhebliche Abweichungen hinsichtlich der diagnostischen Einschätzung. Die bisherige bereits bezogene Rente sei anlässlich der konsiliarischen Untersuchung in der A.klinik durch die leitende Diplompsychologin G. gewährt worden, die zu dem Ergebnis gekommen sei, die Klägerin sei in psychischer Hinsicht nicht leistungsfähig. Auch der behandelnde Arzt Dr. B. berichte im Lauf des Verfahrens stets vom Vorliegen einer anhaltenden chronifizierten depressiven Entwicklung mit Angststörung, zumindest mittelschwer ausgeprägt. Soweit das SG die von Prof. Dr. B. gestellte Diagnose für unzutreffend halte, sei darauf hinzuweisen, dass die Diagnosen verkürzt dargestellt worden seien und vollkommen unberücksichtigt gelassen worden sei, dass Prof. Dr. B. die gestellten Diagnosen nochmals begründet habe. Im Übrigen seien bei diesem zwei Fremdbeurteilungsskalen zum Einsatz gekommen, die nicht lediglich die subjektiven Einschränkungen wiedergeben. Zuletzt hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 16.10.2015 noch vorgetragen, sich ab dem 19.10.2015 für voraussichtlich etwa zwei Wochen in Schmerztherapie im D. M.-M. zu befinden.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. März 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. September 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Februar 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr über den 30. September 2011 hinaus Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat auf den Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sowie auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil verwiesen.

Der Senat hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. mit der Erstellung eines nervenfachärztlichen Gutachtens beauftragt, der darin am 17.07.2015 als Hauptdiagnose eine Dysthymia gestellt sowie zudem eine undifferenzierte Somatisierungsstörung diagnostiziert hat. Hierbei handle es sich um psychische Störungen von Krankheitswert, doch wäre durch eine eigene Willensanspannung eine regelmäßige Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich möglich. Von der Leistungseinstufung des Prof. Dr. B. sei abzuweichen, da eine mittelgradige Depression nicht neben einer Dysthymia diagnostiziert werden könne. Die von Prof. Dr. B. geschilderten formalen Störungen des Denkens könnten sozialmedizinisch stets nur zur qualitativen Leistungseinschränkungen, nicht jedoch zu quantitativen Leistungsminderungen führen. Auch dem Nervenarzt Dr. B. sei nicht zu folgen, weil bei einer mittelschweren depressiven Episode über Jahre hinweg nicht nachvollziehen sei, warum niemals eine stationäre psychiatrische Krankenhausbehandlung bzw. eine Intensivierung der Behandlung eingeleitet worden sei. Es sei zudem nie eine ernst zu nehmende, für mittelschwere Depressionen ausgerichtete Medikation erfolgt.

Zuletzt hat die Klägerin noch einen Bericht des Dipl.-Psych. S. vom 16.07.2015 vorgelegt, in dem dieser eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert hat. Während der Therapie vom 15.05.2014 bis 16.07.2015 sei keine deutliche Symptomverbesserung feststellbar gewesen. Vor dem Hintergrund des anhaltend somatisch geprägten Verständnisses der Schmerzsymptomatik und des weiter schwebenden Rentenverfahrens erscheine zum aktuellen Zeitpunkt eine psychotherapeutische Weiterbehandlung in Form einer ambulanten Verhaltenstherapie nicht aussichtsreich.

Mit Schreiben vom 29.07.2015 bzw. 11.08.2015 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet, da das angefochtene Urteil des SG sowie der Bescheid der Beklagten vom 08.09.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2012 nicht zu beanstanden sind.

Der Senat konnte vorliegend ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben. Ein Widerruf dieser Einverständniserklärung ist nicht möglich (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 124 Rdnr. 3d), und es ist auch keine wesentliche Änderung der Prozesslage eingetreten. Insbesondere enthält der Schriftsatz der Kläger-Seite vom 16.10.2015 mit dem Bericht des Dipl.-Psych. S. und dem Hinweis auf eine demnächst beginnende Schmerztherapie - wie nachfolgend ausgeführt wird - kein erhebliches neues Vorbringen bzw. neue Beweismittel, die eine solche wesentliche Veränderung der Tatsachen- oder Beweislage begründen würden.

Hinsichtlich der rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung verweist das Gericht auf die zutreffenden Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils und sieht von einer Wiederholung ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend ist noch auszuführen, dass sich der Senat nicht von einer quantitativen Einschränkung des Leistungsvermögens überzeugen konnte. Der Senat stellt fest, dass die Klägerin unter einer Dysthymia und einer undifferenzierten Somatisierungsstörung leidet. Hierbei stützt sich der Senat auf die Ausführungen des Gutachters Dr. S., der ausführlich und nachvollziehbar dargelegt hat, dass sämtliche Gutachter sowohl im Verwaltungs- als auch Klageverfahren übereinstimmend als Hauptdiagnose eine leichte psychische Störung diagnostiziert hätten, deren Schweregrad leichter sei als eine leichte depressive Störung. Sowohl die Diagnosen Angst und Depressive Störung gemischt (Dr. T., Dr. H.) als auch eine Dysthymia seien Krankheitsbilder, die leichter seien als eine leichte depressive Episode. Bei der Diagnose Angst und depressive Störung gemischt durchmischen sich leichtere depressive Krankheitszeichen, ohne dass eine eigenständige Depression diagnostiziert werden könne, mit Ängsten, ohne dass eine eigenständige Angststörung bestehe. Hiervon ausgehend hat sich Dr. S. nachvollziehbar für die Diagnose einer Dysthymia entschieden, bei der über weite Strecken des Jahres eine missmutige Herabgestimmtheit vorherrscht und die sich auf die Schlafstörungen der Klägerin, eine leichte Neigung zum Weinen und leichtere Zeichen der Resignation, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung stützt. Dieser Einschätzung schließt sich der Senat an. Eine quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit folgt hieraus indes nicht. Bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit folgt der Senat zum einen dem im Verwaltungsverfahren eingeholten und nunmehr im Wege des Urkundsbeweises zu verwertenden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 27.08.2015, L 6 VG 2141/13, Juris) Gutachten des Dr. H. und zum anderen den in der ersten und zweiten Instanz bei Dr. T. bzw. Dr. S. eingeholten nervenärztlichen Gutachten. Hiernach steht fest, dass die Klägerin noch leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen verrichten kann. Bereits Dr. H. beschrieb eine bewusstseinsklare, örtlich, zeitlich, zur Person und situativ voll orientierte Klägerin, die sehr lebhaft in Gestik und Mimik, im Gespräch ausreichend gut zugewandt, kontaktbereit und auch sehr wendig wirkte. Die Stimmungsfähigkeit beschrieb Dr. H. als gut, Hinweise auf Interessensverlust oder Freudlosigkeit gab es nicht. Das Selbstwertgefühl war nicht beeinträchtigt, eine tiefer gehende depressive Herabstimmung fehlte ebenso wie formale oder inhaltliche Denkstörungen, Wahnwahrnehmungen oder Anpassungsstörungen. Auch waren die Konzentrations- und Merkfähigkeit nicht beeinträchtigt. Gegenüber Dr. H. hatte die Klägerin zudem angegeben, ihren Haushalt zu versorgen, zu waschen und zu kochen, Kontakt zu Freundinnen zu haben, viel spazieren zu gehen und sich an ihren Töchtern und Enkelkinder zu erfreuen. Aufgrund dieser Schilderung des Tagesablaufs und auch im Hinblick auf die sonstigen Untersuchungsbefunde des Dr. H. war seine Einschätzung eines vollschichtigen Leistungsvermögens im Hinblick auf die psychischen Erkrankungen der Klägerin nachvollziehbar. Dies deckt sich mit der Einschätzung des im erstinstanzlichen Verfahren beauftragten Gutachters Dr. T., der ebenfalls keine wesentliche depressive Symptomatik während der gutachterlichen Untersuchung feststellen konnte. Nach dessen überzeugenden Ausführungen spricht gegen eine schwerwiegende depressive Symptomatik eine gut erhaltene Tagesstruktur. Die Klägerin sei durchaus in der Lage, angenehme Tätigkeiten wie z. B. Spazierengehen auszuführen. Aktuell sei sie auch auf einer Urlaubsreise nach B. gewesen. Auch der vom Senat beauftragte Dr. S. hat eine bewusstseinsklare und orientierte, durchaus energievolle und keinesfalls antriebsgeminderte Klägerin beschrieben, die zwar missmutig und unzufrieden, auch resigniert wirke, nicht jedoch tiefer deprimiert. Konzentrationsvermögen und Aufmerksamkeit waren während seiner Begutachtung nicht fassbar eingeschränkt. Aufgrund dieser Gutachten hat sich der Senat davon überzeugt, dass die psychischen Beschwerden der Klägerin ihre Leistungsfähigkeit nicht wesentlich einschränken.

Auch die Schmerzen und orthopädischen Beschwerden der Klägerin bedingen keine zeitliche Einschränkung ihrer Leistungsfähigkeit. Zwar hat die Klägerin gegenüber den Gutachtern Schmerzen im Bereich der Lenden- und Halswirbelsäule, Kopf- und Gliederschmerzen beklagt, doch konnte sich der Senat nicht davon überzeugen, dass diese Schmerzen ein Ausmaß erreichen, das einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit entgegensteht. So schilderte bereits Dr. H. im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eine weitgehend freie Beweglichkeit der Hals- bzw. Lendenwirbelsäule bei einem Finger-Bodenabstand von etwa fünf Zentimetern und nicht beeinträchtigter Seitwärtsneigung. Auch Dr. T. fielen bei der Verhaltensbeobachtung während der Begutachtung keine Schmerzen auf, und er konnte auch keine gravierenden körperlichen Einschränkungen feststellen. Gleiches hat auch Dr. S. bestätigt, der in seinem Gutachten ausgeführt hat, die Klägerin habe während der Begutachtung ruhig gesessen und zu keinem Zeitpunkt schmerzgeplagt oder leidend gewirkt. Gegen eine Schmerzintensität, die eine vollschichtige Erwerbstätigkeit ausschlösse, spricht auch die nur niedrig dosierte Medikation der Klägerin, die nach Angaben des Dr. S. lediglich morgens eine einzige Schmerztablette einnimmt. Schmerztherapeutische, orthopädische oder allgemein ärztliche Behandlungsmaßnahmen zur Schmerzlinderung wurden von der Klägerin bisher nicht ergriffen. Auch eine schmerztherapeutische Vorstellung in einer Schmerzambulanz war jedenfalls bis dahin nie erfolgt, wie Dr. T. betont hat, so dass der Senat nicht von einem hohen Leidensdruck ausgeht. Der Senat hat sich angesichts dieser übereinstimmenden Beurteilungen der genannten Gutachter davon überzeugt, dass die Klägerin weder aus psychischen Gründen noch aufgrund ihrer Schmerzen bzw. orthopädischer Beschwerden in ihrer Erwerbsfähigkeit in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist. Vielmehr ist sie noch in der Lage, sechs Stunden und mehr eine leichte Arbeit ohne besondere geistige Verantwortung/Anstrengung, ohne Zeitdruck, Akkord, ohne das Heben und Tragen von schweren Lasten, ohne Nässe und Kälte, Wechsel- und Nachtschicht auszuüben.

Die entgegenstehende Beurteilung des Prof. Dr. B. vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Dr. B. hat zum einen als Diagnose eine Dysthymia gestellt, zum anderen hingegen auch eine mittelschwere depressive Symptomatik, die bereits jahrelang anhalte. Wie sowohl Dr. T. als auch Dr. S. nachvollziehbar dargelegt haben, handelt es sich bei einer Dysthymia um eine leichtere psychische Störung, die leichter ist als eine leichte depressive Episode. Diese schließt die gleichzeitige Diagnose einer mittelschweren depressiven Symptomatik aus, jedenfalls wenn die depressive Symptomatik länger andauert (vgl. Stellungnahme des Dr. T. vom 13.07.2013). Eine Dysthymia führt aber als leichtere psychische Störung nicht zu einer dauerhaften quantitativen Einschränkung der Leistungsfähigkeit, wie Dr. T. nachvollziehbar begründet hat. Hinzu kommt, dass Prof. Dr. B. sich in seinem Gutachten im Wesentlichen auf die subjektiven Angaben der Klägerin sowie Selbstbeurteilungstests stützt und eine kritische Auseinandersetzung mit den Beschwerdeangaben der Klägerin über eine Verhaltensbeobachtung fehlt. Auch begründet Prof. Dr. B. die zeitliche Begrenzung einer möglichen Tätigkeit z.B. als Verpackerin vor allem mit einer formalgedanklichen Beeinträchtigung mit Grübeln, Gedankeninferenz und -jagen, Antriebsstörung, Konzentrationsstörung, mangelnder Impulsbildung und schlechtem Elan, obwohl diese Beeinträchtigungen - worauf Dr. S. für den Senat nachvollziehbar unter Hinweis auf das sozialmedizinische Schrifttum hinweist - nur eine qualitative Limitierung der Erwerbstätigkeit hervorrufen können. Dementsprechend ist für den Senat nicht nachvollziehbar, warum Prof. Dr. B. zwar typische Frauenarbeiten für die Dauer von drei Stunden täglich für möglich erachtet, nicht aber für mehr als sechs Stunden. In Bezug auf die Schmerzen der Klägerin hat überdies selbst Prof. Dr. B. ausgeführt, dass diese nicht im Vordergrund stünden und auch nur ein Stadium von 1-2 (von 3 möglichen Stadien) nach Gerbershagen erreichen.

Auch die Beurteilung des Dr. B. überzeugt angesichts der entgegenstehenden eindeutigen Gutachten des Dr. H., Dr. T. sowie Dr. S. nicht und ist dem Umstand geschuldet, dass ein behandelnder Arzt seinem Patienten im Rahmen des zu ihm bestehenden Vertrauensverhältnisses eine Behandlung anhand dessen Angaben angedeihen lässt, während ein Gutachter gerade die Aufgabe hat, die Angaben des Versicherten zu überprüfen und auch kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für die Angaben des Dipl.-Psych. S., der die Klägerin seit dem 15.05.2014 bis zum 16.07.2015 behandelt und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, sowie ein chronisches Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren diagnostiziert hat. Nachdem indes wie oben dargelegt sämtliche Gutachter als Hauptdiagnose nur eine leichte psychische Störung feststellen konnten, konnte sich der Senat vom Vorliegen einer mittelgradigen depressiven Episode nicht überzeugen. Auch lässt sich eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht feststellen, da die Begutachtung durch Dr. S. am 06.07.2015 zeitlich mit dem Ende der Behandlung durch Dipl.- Psych. S. zusammenfällt (16.07.2015). Im Übrigen hat Dipl.- Psych. S. einen wesentlichen Grund für die erfolglose Behandlung der Klägerin im schwebenden Rentenverfahren gesehen, so dass bei Abschluss desselben sogar eine Verbesserung der psychischen Beeinträchtigungen zu erhoffen ist.

Es bestand somit für den Senat mangels Vorliegens konkreter Anhaltspunkte für eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes kein Anlass, den Ausgang der soeben begonnenen Schmerztherapie im D. M.-M. abzuwarten.

Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall trotz vollschichtigen Leistungsvermögens der Arbeitsmarkt gemäß § 43 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) infolge einer schweren spezifischen Leistungseinschränkung oder durch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist bzw. von der Beklagten zur Abwendung des Rentenanspruchs eine konkrete Tätigkeit benannt werden müsste, liegen nicht vor (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteile vom 09.05.2012, B 5 R 68/11R, und 19.10.2011, B 13 R 78/09 R, jeweils m.w.N., Juris). Auch ist die Wegefähigkeit der Klägerin nicht eingeschränkt (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, Juris; Großer Senat in BSGE 80, 24, 35 = SozR 3-2600 § 44 Nr. 8).

Wie das SG zutreffend dargelegt hat, besteht auch kein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gem. § 240 SGB VI, weil die Klägerin nicht berufsunfähig ist. Selbst wenn die Klägerin ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Verpackerin nicht mehr ausüben könnte, wäre sie als der Gruppe der ungelernten Arbeiter zugehörig auf alle auf dem Arbeitsmarkt vorkommenden Tätigkeiten verweisbar. Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist in diesen Fällen regelmäßig nicht erforderlich, weil auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung steht, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist (BSG, Urteil vom 14.09.1995, 5 RJ 50/94, SozR 3-2200 § 1246 Nr. 50).

Das SG hat somit die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, so dass auch die Berufung zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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