S 33 KR 1300/12

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
33
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 33 KR 1300/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 06.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2012 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass der Kläger in der Zeit vom 01.04.2008 – 31.07.2009 in der Krankenversicherung der Studenten pflichtversichert gewesen ist. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten.

Der Januar 1977 geborene Kläger absolvierte 1994 bis 1997 eine Ausbildung zum Industriekaufmann. Im Anschluss verpflichtete er sich für 8 Jahre (März 1998 bis März 2006) bei der Bundeswehr in der Unteroffizierslaufbahn (Oberfeldwebel in der Fernmeldetruppe), er erwarb während der Dienstzeit die Fachhochschulreife (06/2004 bis 06/2005). In der Zeit von April 2008 bis März 2010 studierte der Kläger an der Universität H. Von 2004-2008 ging der Kläger einer geringfügigen Beschäftigung bei der Firma S. GmbH nach. Darüber hinaus arbeitete er im Zeitraum vom 8. Februar 2008 bis 31. Juli 2009 als Werkstudent bei der Fa. A. GmbH. Er verdiente dort monatlich 380 EUR. Am 1. August 2008 nahm der Kläger eine versicherungspflichtige Tätigkeit auf.

Der Kläger war bei der Beklagte in den Jahren 2008 und 2009 familienversichert über seinen Lebenspartner.

Mit Schreiben vom 6. Dezember 2010 teilte die Beklagte mit, dass eine aufsichtsrechtliche Prüfung ergeben habe, dass im Zeitraum vom 8. Februar 2008 bis 31. Juli 2009 die Voraussetzungen für eine Familienversicherung wegen Überschreitung der Einkommensgrenze nicht mehr gegeben seien. Der Kläger sei einer Tätigkeit als Werkstudent nachgegangen und habe lediglich eine geringfügige Beschäftigung angegeben. Der Anspruch auf Familienversicherung erlösche rückwirkend.

Am 19. Dezember 2010 erhob der Kläger Widerspruch und trug vor, dass die Voraussetzungen für eine Versicherung in der Krankenversicherung der Studenten im streitbefangenen Zeitraum vorgelegen hätten, weil er sich für acht Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet habe und ein Verlängerungstatbestand eingreife. Darüber hinaus habe er erst später die Voraussetzungen für das Studium in Form der Fachhochschulreife erworben.

Mit Schreiben vom 16. April 2012 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass ein Verlängerungstatbestand für den Erwerb der Fachhochschulreife im Zeitraum 8. Februar 2008 bis 31. März 2008 anerkannt werde. Die Bundeswehrzeit könne nicht berücksichtigt werden. Insoweit sei auf ein gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 21. März 2006 zu verweisen. Danach sei eine Anerkennung bei einer Dienstzeit von mehr als drei Jahren ausgeschlossen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2012 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten lägen nicht vor. Im Zeitraum vom 1. April 2008 bis 31. Juli 2009 ergebe sich eine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V.

Hiergegen hat der Kläger am 30. Oktober 2012 Klage erhoben und verweist auf seine Ausführungen im Vorverfahren.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 06.12.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.10.201 abzuändern und festzustellen, dass der Kläger in der Zeit vom 01.04 2008 bis 31.07. 2009 in der Krankenversicherung der Studenten pflichtversichert gewesen ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen.

Nachdem das Gericht mit Schreiben vom 30. Juni 2005 auf die Gesetzesmaterialien hingewiesen hatte, aus denen sich als Beispielsfall eine mindestens achtjährige Dienstverpflichtung als Soldat ergibt, hat die Beklagte argumentiert, dass es sich bei der Dienstverpflichtung nicht um einen rechtfertigenden Grund handele. Der Wortlaut der Vorschrift lasse einen persönlichen Hinderungsgrund im Hinblick auf die Tätigkeit als Zeitsoldat nicht zu. Ebenso wie eine andere berufliche Tätigkeit handele es sich nicht um einen persönlichen Rechtfertigungsgrund. Allgemeinpolitische Erwägungen ließen sich nicht auf die Krankenversicherung der Studenten übertragen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit rechtswidrig als eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Studenten nicht anerkannt wurde.

Die Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten liegen im streitbefangenen Zeitraum vom 1. April 2008 bis 31. Juli 2009 vor. Versicherungspflichtig sind Studenten gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 1 Sozialgesetzbuch-Fünftes Buch (SGB V), die an staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind, grundsätzlich nur bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres.

Der Kläger erfüllt diese Voraussetzung zwar nicht, denn er ist Januar 1977 geboren und hatte das 30. Lebensjahr bereits Januar 2007 vollendet. Jedoch liegen die Voraussetzungen für einen Ausnahmetatbestand aus persönlichen Gründen aufgrund der achtjährigen Dienstverpflichtung bei der Bundeswehr vor. Denn § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 2 SGB V sieht vor, dass Studenten auch nach Vollendung des 30. Lebensjahres dann versicherungspflichtig sind, wenn die Art der Ausbildung oder familiäre sowie persönliche Gründe, insbesondere der Erwerb der Zugangsvoraussetzungen in einer Ausbildungsstätte des Zweiten Bildungsweges, die Überschreitung der Altersgrenze rechtfertigen.

Hinderungsgründe müssen im Allgemeinen von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass sie nicht nur aus Sicht des Einzelnen, sondern auch bei objektiver Betrachtungsweise die Aufnahme des Studiums oder seinen Abschluss verhindert haben oder als unzumutbar erscheinen ließen.

- Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 5 SGB V Rn. 36 mit weiteren Nachweisen. Bei der achtjährigen Dienstzeit bei der Bundeswehr handelt es sich nach allgemeiner Auffassung um einen Hinderungsgrund im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 9 Halbsatz 2 SGB V. - BSG v. 30.09.1992 – 12 RK 3/91 in juris, Rn. 15; LSG Berlin-Brandenburg v. 06.08.2008 – L 9 KR 680/07; Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 5 SGB V Rn. 39; Noftz in Hauck-Noftz, SGB V, § 5 Rn 84; Orlowski/Rau/Wasem/Zipperer, SGB V- Kommentar, § 5 Rn. 84; Just in Becker/Kingreen, SGB V, 3. Auflage, § 5 Rn. 38; a.A. Sommer, SGB V, § 5 Rn. 143. Das ergibt sich bereits ausdrücklich aus den Gesetzesmaterialien. Hier heißt es:

Die Ausnahmeregelung im zweiten Halbsatz ist eng auszulegen. Persönliche oder familiäre Gründe sind z.B. Erkrankung, Behinderung, Schwangerschaft, Nichtzulassung zur gewählten Ausbildung im Auswahlverfahren, Eingehen einer insgesamt mindestens achtjährigen Dienstverpflichtung als Soldat oder Polizeivollzugsbeamter im Bundesgrenzschutz auf Zeit bei einem Dienstbeginn vor Vollendung des 22. Lebensjahres, Betreuung von behinderten oder aus anderen Gründen auf Hilfe angewiesenen Kindern (BT-Drs. 11/2237 S.159).

Eine mindestens achtjährige Dienstverpflichtung als Soldat auf Zeit hat damit als Beispielsfall für eine Überschreitung der Altersgrenze aus persönlichen Gründen ausdrücklich in der Gesetzesbegründung Erwähnung gefunden. Die gesetzgeberische Intention ist damit eindeutig, dementsprechend ist dieser Tatbestand vielfach in Rechtsprechung und Literatur unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien als Beispielsfall eines persönlichen Hinderungsgrundes genannt worden.

- BSG v. 30.09.1992 – 12 RK 3/91 in juris, Rn. 15; LSG Berlin-Brandenburg v. 06.08.2008 – L 9 KR 680/07; Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 5 SGB V Rn. 39; Noftz in Hauck-Noftz, SGB V, § 5 Rn 84; Orlowski/Rau/Wasem/Zipperer, SGB V- Kommentar, § 5 Rn. 84; Just in Becker/Kingreen, SGB V, 3. Auflage, § 5 Rn. 38; a.A. Sommer, SGB V, § 5 Rn. 143.

Weder der Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift gebieten eine von der Gesetzesbegründung abweichende Auslegung, so dass der klar zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wille zu beachten ist.

Nach dem Gesetzeswortlaut müssen persönliche Gründe vorliegen, die eine Überschreitung der Altersgrenze oder eine längere Fachstudienzeit rechtfertigen. Ein absoluter Hinderungsgrund ist gerade nicht erforderlich und lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn und Zweck der Regelung herleiten. Richtig ist, dass gewichtige, objektiv vorliegende Gründe gegeben sein müssen, die den Versicherten tatsächlich an der Aufnahme oder Fortsetzung des Studiums gehindert haben oder dies als unzumutbar erscheinen ließen. Es handelt sich dabei im Ergebnis um eine Gewichtung und Bewertung der Gründe, die den Versicherten am Studium gehindert haben. Nicht erforderlich ist es hingegen, dass es faktisch und tatsächlich unmöglich gewesen wäre, zu studieren. Denn dann könnte eine Vielzahl von Hinderungsgründen nicht anerkannt und im Grunde nur Krankheiten oder Behinderungen berücksichtigt werden. Die Betreuung eines Kindes oder die Pflege eines Angehörigen müssen beispielsweise nicht zwangsläufig – je nach persönlicher Belastbarkeit – an der Ausübung eines Studiums hindern. Sie werden aber dennoch – jedenfalls unter gewissen Voraussetzungen – als Verlängerungstatbestand anerkannt. Es handelt sich aber um Gründe, die die Durchführung oder Fortsetzung eines Studiums zumindest unzumutbar erscheinen lassen.

Der Fall einer mindestens achtjährigen Dienstzeit hat den Kläger objektiv an der Durchführung eines Studiums gehindert. Es gibt auch gewichtige, objektive Gründe, die es unter dem Blickwinkel der freiwilligen Aufnahme einer solchen Dienstverpflichtung, als gerechtfertigt erscheinen lassen, die Altersgrenze zu überschreiten. Die von der Beklagten angeführte Vergleichbarkeit mit einer normalen beruflichen Tätigkeit, die gerade keinen Rechtfertigungsgrund darstellt, ist nicht gegeben. Es ist zwar zutreffend, dass es sich auch bei der Dienstverpflichtung um eine den Lebensunterhalt sicherstellende Tätigkeit handelt, jedoch bestehen im Hinblick auf die Krankenversicherung der Studenten maßgebliche Unterschiede.

So handelt es sich um eine von vornherein nicht auf Dauer angelegte, zeitlich begrenzte Dienstverpflichtung bei der Bundeswehr oder der Bundespolizei (früher Bundesgrenzschutz), die im Interesse der Allgemeinheit steht. Das Dienstverhältnis wird zwar im Gegensatz zu einer Wehrpflicht freiwillig eingegangen. Wie sich aus dem Wort Verpflichtung ergibt, soll das Dienstverhältnis jedoch für die Dauer des festgelegten Zeitrahmens Bestand haben. Im Gegensatz zu herkömmlichen Arbeitsverhältnissen ist eine (ordentliche) Kündigung nicht vorgesehen. Zwar kann das Dienstverhältnis im Ausnahmefall beendet werden, damit sind in der Regel erhebliche Nachteile verbunden. Im Vordergrund steht aber als Unterscheidungskriterium das Allgemeininteresse an einer solchen, gerade auch längeren Dienstverpflichtung, von der der Staat in hohem Maße profitiert und die deshalb auch entsprechend mit Vergünstigungen verbunden ist. Es ist daher legitim, Anreize zu setzen, dass das Dienstverhältnis eingegangen, ausgeführt und nicht vorzeitig beendet wird sowie im Übrigen Regelungen zu schaffen, die die aus einer solchen längeren Dienstverpflichtung folgenden Nachteile abmildern oder beseitigen. Damit soll die Durchführung des Dienstes sichergestellt und verhindert werden, dass ein vorzeitiger Abbruch erfolgt. Gerade für Personen, die eine längere Dienstverpflichtung eingegangen sind, stellt sich die Frage nach der sich anschließenden beruflichen Orientierung. Aus diesem Grunde werden Qualifizierungsmaßnahmen während und gerade gegen Ende der Dienstzeit angeboten, um einen ordnungsgemäßen Übergang in das Zivil bzw. Berufsleben zu gewährleisten. Es liegt auf der Hand, dass sich auch für diejenigen, die ein Hochschul-oder Fachhochschulstudium beginnen wollen, keine gravierenden finanziellen Nachteile aus der – längeren - Dienstverpflichtung ergeben sollen. Denn andernfalls würden Anreize geschaffen, das Dienstverhältnis vorzeitig zu beenden oder gar nicht erst einzugehen. Und insofern ist es folgerichtig und legitim, dass der Gesetzgeber längere Dienstverpflichtungen bei der Bundeswehr und der Bundespolizei als (persönlichen) Rechtfertigungsgrund - im Gegensatz zu herkömmlichen Arbeits- und Berufsverhältnissen - für eine Überschreitung der Altersgrenze qualifiziert. Da nur eine längere Dienstverpflichtung an einem Studium hindert, ist es gerechtfertigt, nicht jede bzw. auch kürzere Dienstverpflichtung mit einzubeziehen.

Folgerichtig hat sich das BSG - wenn auch nicht entscheidungserheblich - mit der in Rede stehenden Problematik auseinandergesetzt und in der Entscheidung vom 30. September 1992 (12 RK 3/91) die mindestens achtjährige Dienstverpflichtung als Beispielsfall für ein zulässiges Überschreiten der Altersgrenze genannt und relativ ausführlich in der Argumentation behandelt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das BSG den Fall bewusst herangezogen und als zulässigen Verlängerungstatbestand angesehen hat. Von einer nicht reflektierten Übernahme der Gesetzesbegründung kann aufgrund der ausführlichen Auseinandersetzung als Teil der die Entscheidung tragenden Gründe gerade nicht ausgegangen werden.

Eine Vergleichbarkeit mit der Gewährung von einem Kinderzuschuss zu einem Altersruhegeld oder einer Rente ist entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gegeben. Insofern geht der Verweis auf entsprechende Entscheidungen des BSG (vgl. BSG v. 10.09.1980 – 11 RA 129/79 und vom 05.11.1974 – 4 RJ 37/73, jeweils in juris) ebenso fehl wie die hieraus abgeleiteten Empfehlungen des Spitzenverbandes der Krankenkassen (vom 21.März 2006, Pkt. 1.1 Abs. 9 und 12). Denn die zu Grunde liegenden gesetzlichen Regelungen stellen abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V ausdrücklich auf die Erfüllung des gesetzlichen Wehrdienstes oder Ersatzdienstes ab. Für diese Fragestellung bzw. das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung gesetzlicher Wehrdienst ist der Grad der Freiwilligkeit, der sich bei einer längeren Verpflichtung erhöht und damit von einer Verpflichtung immer mehr abweicht, von Bedeutung. Eine entsprechende Regelung für die Krankenversicherung der Studenten gibt es im SGB V nicht, denn es wird nicht auf Wehr- oder Ersatzdienst abgestellt. Und es besteht auch eine andere Interessenlage als bei der Gewährung einer Sozialleistung. Denn vorliegend ist die Mitgliedschaft eines Zweiges der Krankenversicherung im Streit und nicht die Zahlung einer Rente bzw. einer vergleichbaren Leistung.

Der Kläger erfüllt die für den Ausnahmetatbestand erforderlichen Voraussetzungen. Denn er hat sich vor Vollendung des 22. Lebensjahrs für acht Jahre bei der Bundeswehr als Zeitsoldat verpflichtet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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