S 18 KA 41/14

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
18
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 18 KA 41/14
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KA 5/15
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Kostenbeschluss
Leitsätze
(1.) Nach Abschluss einer praxisindividuellen Richtgrößenvereinbarung ist die nachträgliche Geltendmachung von Praxisbesonderheiten ausgeschlossen.
(2.) Als Änderung der Geschäftsgrundlage können nur Umstände berücksichtigt werden können, die bei Abschluss der individuellen Richtgrößenvereinbarung weder bekannt noch vorhersehbar oder vom Arzt zu beeinflussen gewesen waren. Zudem müssen solche Umstände dem Arzt ein Festhalten an den vereinbarten Richtgrößen bis zum Ende der Frist von längstens einem Jahr bis zur Überprüfung unzumutbar machen.
(3.) Umstände, aus denen der Arzt den Wegfall der Geschäftsgrundlage für die individuelle Richtgrößenvereinbarung ableitet, sind den Prüfgremien im Verwaltungsverfahren zu unterbreiten und können nicht erstmals im Klageverfahren vorgetragen werden.
(4.) Materielle Fehler der Richtgrößenvereinbarung, die nicht deren Nichtigkeit bewirken, stehen der Bindung an die vereinbarten Richtgrößen nicht entgegen.
(5.) Verfahrensgang: nachgehend Sächsisches LSG, Az. L 8 KA 5/15
I. Die Klage wird abgewiesen. II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin. III. Der Streitwert wird auf 52.350,23 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Regress wegen der Überschreitung praxisindividueller Arzneimittelrichtgrößen. Die Klägerin nimmt mit Praxissitz in S. an der hausärztlichen Versorgung teil. Zur Ablösung eines Regresses aus einer Richtgrößenprüfung der Arzneimittelverordnungen des Jahres 2007 vereinbarten die Klägerin und die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Sachsen unter dem 24.11./07.12.2009 für die Quartale I bis IV/2010 individuelle Richtgrößen gemäß § 106 Abs. 5d SGB V in Höhe von 65,03 EUR je Fall für Mitglieder und Familienversicherte und 211,36 EUR je Fall für Rentner. Die Prüfungsstelle unterzog die Arzneimittelverordnungen des Jahres 2010 einer Prüfung auf Grundlage der praxisindividuellen Richtgrößen und setzte mit Prüfbescheid auf Grund der Entscheidung vom 03.12.2012, ausgefertigt am 17.12.2012, gegen die Klägerin einen Regress in Höhe von 61.003,09 EUR fest. Mit ihrem am 21.12.2012 hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin Veränderungen innerhalb der Patientenklientel und am Arzneimittelmarkt zwischen 2007 und 2010 als Ursache für die Überschreitung des Richtgrößenvolumens geltend. Die praxisindividuellen Richtgrößen seien entsprechend den Richtgrößen nach § 84 Abs. 6 Satz 1 SGB V anzupassen. Die im Prüfbescheid-Entwurf für das Jahr 2007 anerkannten Praxisbesonderheiten nach Indikationsliste seien im Jahr 2010 höher ausgefallen. Weitere indikationsbezogene Verordnungen, die den Fachgruppendurchschnitt übersteigen, seien als Praxisbesonderheiten anzuerkennen (Antibiotika, Allergenextrakte zur Hyposensibilisierung, Atemwegstherapeutika, Biophosphonate, Miktionshemmer, Avonex, Psychopharmaka und Analgetika, insbesondere für Heimpatienten), zumal sie viele Patienten leitliniengerecht behandele ohne sie an den Facharzt zu überweisen. Auf Grund seiner Sitzung vom 09.10.2013 änderte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.01.2014, zugestellt am 08.01.2014, den Prüfbescheid dahingehend ab, dass er den Regress um 8.652,86 EUR auf 52.350,23 EUR reduzierte. Die praxisindividuelle Richtgröße für Mitglieder und Familienversicherte sei entsprechend den Richtgrößen nach § 84 Abs. 6 Satz 1 SGB V um 0,15 EUR auf 65,22 EUR zu erhöhen, was in einer Verringerung des Regresses um 284,91 EUR resultiere. Darüber hinaus ergäben sich Mehrkosten in Folge gestiegener Arzneimittelpreise bei Antirheumatika, Antidementiva und Epileptika im Umfang von 13.191,84 EUR, die zu Gunsten der Klägerin ohne Verrechnung mit Preissenkungen von den Bruttoverordnungskosten abgezogen würden. Nach Abzug des Rabattanteils (§ 130a Abs. 8 SGB V), Multiplikation mit der Nettokostenquote und Verrechnung mit Einzelregressen verbleibe der neu festgesetzte Regressbetrag. Mehrkosten wegen der von der Klägerin als Praxisbesonderheiten bezeichneten Umstände seien nicht zu berücksichtigen, weil dies der Grundkonzeption der Vereinbarung praxisindividueller Richtgrößen widerspreche. Als Änderung der Geschäftsgrundlage könnten darüber hinaus entsprechend § 313 BGB nur Umstände berücksichtigt werden, die bei Abschluss der praxisindividuellen Richtgrößenvereinbarung weder bekannt noch vorhersehbar oder vom Arzt zu beeinflussen gewesen seien, wie die berücksichtigten Kostensteigerungen. Hiergegen richtet sich die am 07.02.2014 eingegangene Klage, mit der die Klägerin geltend macht, die Geschäftsgrundlage für die individuelle Richtgrößenvereinbarung sei weggefallen und sie habe in jedem Einzelfall einer Verordnung das Wirtschaftlichkeitsgebot beachtet. Der Wegfall der Geschäftsgrundlage ergebe sich aus Änderungen der ärztlichen Versorgungstruktur, dem hohen Anteil an Rentnern und chronisch Kranken sowie aus der ausschließlichen Erreichbarkeit der Klägerin für viele Patienten, die deshalb zahlreiche Arzneimittel verordne, die sonst Fachärzte verschreiben. Zum Beweis für die Wirtschaftlichkeit jeder einzelnen Verordnung werden exemplarisch die Arzneimittelindikationen für 40 Patienten aufgezählt, die Einholung eines Sachverständigengutachten und Einsicht in die Patientenunterlagen aller Patienten angeboten. Die Klägerin beantragt, den Widerspruchsbescheid vom 09.10.2013 und den Beschluss der Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Sachsen vom 03.12.2012 insgesamt aufzuheben. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Die Klägerin habe nicht dargetan, dass die für eine Änderung der Geschäftsgrundlage angeführten ohnehin nicht an Hand belastbarer Daten untermauerten Umstände erst im Jahr 2010 hinzugetreten, unerwartet oder unvorhersehbar gewesen seien; zudem sei die Klägerin mit dem erstmals im Klageverfahren angebrachten Vortrag ausgeschlossen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht entscheidet über den Rechtsstreit gemäß § 105 Abs. 1 SGG durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten auf Anfrage keine Gründe vorgetragen haben, die einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid entgegen stehen würden. Zulässiger Anfechtungsgegenstand der Klage ist abweichend vom Klageantrag (§ 123 SGG) ausschließlich der Widerspruchsbescheid des Beklagten (BSG, Urt. v. 09.03.1994 6 RKa 5/92 juris Rn. 16). Insoweit ist die Klage unbegründet. Das Gericht nimmt zunächst auf die zutreffende Begründung des Widerspruchsbescheids Bezug und sieht insoweit von einer nochmaligen Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 SGG). Ergänzend wird noch Folgendes angemerkt: Zu Recht hat der Beklagte es abgelehnt, die von der Klägerin angeführten Umstände als Praxisbesonderheiten zu berücksichtigen. Die Auffassung des Beklagten, nach Abschluss einer praxisindividuellen Richtgrößenvereinbarung sei die nachträgliche Geltendmachung von Praxisbesonderheiten ausgeschlossen, entspricht dem von § 106 Abs. 5d SGB V verfolgten Sinn und Zweck individueller Richtgrößen und ist inzwischen höchstrichterlich bestätigt (BSG, Urt. v. 28.08.2013 B 6 KA 46/12 R juris Rn. 18). Ebenfalls zutreffend hat der Beklagte ausgeführt, dass als Änderung der Geschäftsgrundlage entsprechend § 313 BGB, § 59 Abs. 1 SGB X nur Umstände berücksichtigt werden können, die bei Abschluss der individuellen Richtgrößenvereinbarung weder bekannt noch vorhersehbar oder vom Arzt zu beeinflussen gewesen waren. Das trifft auf die behaupteten Änderungen ärztlichen Versorgungstruktur, den hohen Anteil an Rentnern und chronisch Kranken sowie aus der ausschließlichen Erreichbarkeit der Klägerin für viele Patienten mit Verordnung zahlreicher Arzneimittel, die sonst Fachärzte verschreiben, nicht zu. Die angeblichen Strukturänderungen sind zudem nicht einmal ansatzweise substantiiert dargelegt. Der Rentneranteil wird bereits durch die unterschiedlichen Richtgrößen abgebildet. Die Klägerin hat auch keine Verwerfungen solchen Ausmaßes beschrieben, das ihr entsprechend § 313 Abs. 1 BGB, § 59 Abs. 1 SGB X ausnahmsweise ein Festhalten an den vereinbarten Richtgrößen bis zum Ende der Frist von längstens einem Jahr bis zur Überprüfung (§ 106 Abs. 5d Satz 3 SGB V) unzumutbar machen würde. Mit den erstmals im Klageverfahren bezeichneten Umständen, aus denen die Klägerin einen Wegfall der Geschäftsgrundlage ableitet, kann sie schon deshalb nicht gehört werden, weil sie ihrer Obliegenheit nicht nachgekommen ist, diese spätestens dem für die Prüfung zuständigen Beklagten im Verwaltungsverfahren zu unterbreiten. Insoweit gilt für die Berücksichtigung neuer Tatsachen wegen Änderung der Geschäftsgrundlage einer individuell vereinbarten Richtgröße nichts anderes als für die Geltendmachung von Praxisbesonderheiten. Durch die Zulassung erstmals im Klageverfahren angebrachten Sachvortrags zur Sachprüfung im gerichtlichen Verfahren würde die Zuständigkeit der Prüfgremien unterlaufen und die diesen vorbehaltene Prüfung unzulässig in das gerichtliche Verfahren verlagert (vgl. BSG, Urt. v. 21.03.2012 B 6 KA 17/11 R juris Rn. 41 ff.). Das Gericht ist nicht gehalten, an Hand der Patientenunterlagen der Behauptung nachzugehen, jede einzelne Verordnung sei wirtschaftlich. Dieser erstmals im gerichtlichen Verfahren erhobene Vortrag ist schon wegen der abschließenden Geltung der individuellen Richtgrößenvereinbarung materiell unzulässig (BSG, Urt. v. 28.08.2013 B 6 KA 46/12 R juris Rn. 18). Er ist zudem prozessual wegen der Prüfzuständigkeit des Beklagten präkludiert (vgl. BSG, Urt. v. 21.03.2012 B 6 KA 17/11 R juris Rn. 41 ff.). Darüber hinaus lässt sich der bereits auszugsweise ins Verfahren eingeführten Behandlungsdokumentation von 40 Patienten allenfalls entnehmen, dass die Klägerin die verordneten Arzneimittel im Rahmen der Zulassung und nicht in rechtswidriger Weise verschrieben hat. Für eine wirtschaftliche Verordnungsweise ist das eine notwendige, allein aber nicht hinreichende Voraussetzung. Der Beweis der Wirtschaftlichkeit kann so nicht geführt werden. Der das Richtgrößenvolumen überschreitende Mehraufwand könnte nur dann von der Erstattungspflicht ausgenommen werden, wenn er auf Grund von Praxisbesonderheiten im Sinne von § 106 Abs. 5a Satz 3 SGB V gerechtfertigt wäre. Für die Darlegung von Praxisbesonderheiten reicht es indessen nicht aus, wenn ein Arzt lediglich seine Behandlungsfälle auflistet und sie einzeln mit Anführung von Diagnose sowie Behandlungs- und Verordnungsmaßnahmen erläutert, erst recht nicht, wenn er sich wie hier darauf zurückzieht, das Gericht möge sich selbst durch Einsicht in die Behandlungsunterlagen und ggf. Sachverständigenbeweis von der Wirtschaftlichkeit seiner Verordnungsweise überzeugen. Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen vielmehr nur Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Es genügt nicht schon, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes nur erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf die aufgezeigten Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (vgl. exemplarisch BSG, Urt. v. 21.06.1995 6 RKa 35/94 juris Rn. 16 f.). Keine Rolle für das vorliegende Verfahren spielen die von der Kammer (Urt. v. 11.12.2013 S 18 KA 31/10 juris Rn. 29 ff.) erhobenen Einwände gegen die Gliederung der Richtgrößen nach Versichertenklassen anstatt nach Altersgruppen. Für den streitgegenständlichen Prüfzeitraum hat das BSG die Gliederung nach Versichertenklassen gebilligt (Urt. v. 22.10.2014 B 6 KA 8/14 R juris Rn. 52 f.). Die materielle Rechtswidrigkeit der Gliederung stünde der Bindung an die Richtgrößenvereinbarung zudem nicht entgegen, weil sie nicht deren Nichtigkeit bewirkt (vgl. § 58 SGB X; BSG, Urt. v. 24.01.2008 B 3 KR 17/07 R – juris Rn. 25).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes auf § 52 Abs. 3 GKG, jeweils in Verbindung mit § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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