Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 83 KA 399/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 7 KA 57/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Mai 2012 wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die klagende Kassenärztliche Vereinigung (KV) begehrt die Änderung von Beschlüssen des (erweiterten) Bewertungsausschusses bzw. die Feststellung deren Rechtswidrigkeit.
In Umsetzung der Vorgaben des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378ff) und der damit verbundenen Reform des vertragsärztlichen Vergütungssystems fasste der (erweiterte) Bewertungsausschuss zahlreiche Beschlüsse, unter anderem zur für die einzelnen KVen geltenden Honorarverteilungsquote, zur (Nicht-)Berücksichtigung von Indikatoren zu regionalen Besonderheiten in der Versorgungs- und Kostenstruktur, zum Verfahren zur Berechnung des Regelleistungsvolumens (RLV), zu den Grundsätzen zur Bildung von Rückstellungen sowie zu einem sog. Konvergenzverfahren. Die in einem der "alten" Bundesländer angesiedelte Klägerin sieht sich durch diese Beschlüsse im Verhältnis zu anderen KVen benachteiligt und begehrt deswegen die Erhöhung der für sie geltenden Honorarverteilungsquote auf 0,9517 für die Jahre 2009 und 2010 sowie die Feststellung, dass die Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses zu den oben genannten Regelungspunkten "offensichtlich" gesetzwidrig sind und keine Wirkung für [sie] entfalten.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 2. Mai 2012 als unzulässig abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Zulässigkeit der Klage stehe die Nachrangigkeit der Normerlass- bzw. Normfeststellungsklage entgegen. Unmittelbarer Rechtsschutz gegen untergesetzliche Normen sei nur in denjenigen Ausnahmefällen eröffnet, in denen Betroffene ansonsten keinen effektiven Rechtsschutz erreichen könnten. Im konkreten Fall hätte die Klägerin die Möglichkeit gehabt, im Hinblick auf die von ihr für rechtswidrig erachteten Regelungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses entsprechenden gesamtvertraglichen Regelungen nicht zuzustimmen, das Schiedsamt anzurufen und gegen die Entscheidung des Schiedsamtes Klage zu erheben. In deren Rahmen hätte sie inzident auch die Unwirksamkeit der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses geltend zu machen. Gegen dieses ihr am 10. Mai 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 11. Juni 2012 (Montag), zu deren Begründung sie vorträgt: Als statthafte Klagearten kämen nur die Leistungs- bzw. Feststellungsklage in Betracht. Mit ihrem Leistungsantrag begehre sie eine entsprechende Anweisung der von der Beklagten jeweils in den Bewertungsausschuss bestellten Vertreter und damit ein positives Tun. Hilfsweise begehre sie die Feststellung, dass die angegriffenen Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses rechtswidrig seien. Würde ihr ein Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses verwehrt, wäre sie gezwungen, sehenden Auges Unrecht zu vollziehen, obwohl sie an das Rechtsstaatsprinzip gebunden sei. Ohne ein Recht auf gerichtliche Überprüfung würde dem (erweiterten) Bewertungsausschuss ein rechtsfreier Raum zugestanden, weil er nach Gutdünken seinen eigenen Gestaltungsspielraum abweichend von den gesetzlichen Vorgaben ziehen und die Grenzen je nach Bedarf verschieben könnte, ohne einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit ausgesetzt zu sein. Ein solches im Rechtsstaatsprinzip wurzelndes klagefähiges Recht sei auch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 3. Februar 2010 – B 6 KA 31/09 R) anerkannt. Ihr – der Klägerin – sei daher ausnahmsweise bei substantiiertem Vortrag zu den Kompetenzüberschreitungen und zur Überschreitung des Gestaltungsspielraums durch die Festsetzungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses ein klagefähiges Recht auf gerichtliche Überprüfung der Übertritte zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei ein Rechtschutzbedürfnis zu bejahen. Ihr – der Klägerin – aufzugeben, die Zustimmung zur Umsetzung auf gesamtvertraglicher Ebene zu verweigern und das Schiedsamt anzurufen, bedeute nichts anderes, als den Vollzug der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses hinauszuzögern, da auch das Schiedsamt an diese Beschlüsse gebunden sei. Das Sozialgericht verlange von ihr, durch die Weigerung, entsprechende Gesamtverträge abzuschließen, sich zunächst einmal gegen etwas zu wenden, das sie letztlich doch nicht verhindern könne. Es sei im Sinne des Rechtsschutzbedürfnisses weitaus einfacher und kostengünstiger, die rechtswidrigen Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses direkt, d.h. ohne Umweg über die Anfechtung der Entscheidung des Schiedsamtes, einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Der vom Sozialgericht für richtig gehaltene Weg führe außerdem dazu, dass insgesamt ein Vertrag durch das Schiedsamt festzusetzen wäre. Bis zu dessen Zustandekommen gälten die Bestimmungen des bisherigen Vertrages nach § 89 Abs. 1 Satz 3 SGB V weiter. Dies habe zur Folge, dass eine Vielzahl zu regelnder Gegenstände im Vertrag offen bleiben müsse bis zu einer Entscheidung des Schiedsamtes. Da eine Klage gegen die Festsetzung des Schiedsamtes keine aufschiebende Wirkung habe, bliebe ihr – der Klägerin – allein die Möglichkeit, mit einem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung die Umsetzung der widerrechtlichen Bestimmung zu unterbinden. Der Ausgang eines solchen Verfahrens wäre freilich ungewiss. Der Vorrang der Inzidentprüfung könne ihr auch deshalb nicht entgegengehalten werden, weil die Subsidiarität der Feststellungsklage bei beklagten juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine Ausnahme erfahre. Eine Umgehung der besonderen Voraussetzungen der Anfechtungsklage sei im vorliegenden Fall nicht zu befürchten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Mai 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
1. die jeweils von ihnen in den Bewertungsausschuss bestellten Vertreter anzuweisen, einen Beschluss des Bewertungsausschusses zu fassen, mit dem die Honorarverteilungsquote(HVV-Quote) für die Kassenärztliche Vereinigung Nord¬rhein, zuletzt geändert durch Ziffer 2 des Beschlusses des Bewertungsausschusses in seiner 208. Sitzung am 8./9. Dezember 2009 (mir Wirkung zum 1. Januar 2010), aufgehoben und auf den Wert in Höhe von 0,9517 für das Jahr 2009 und das Jahr 2010 festgesetzt wird,
2. festzustellen, dass die durch den erweiterten Bewertungsausschusses und den Bewertungsausschusses getroffenen Festsetzungen
a) der HVV-Quoten für die Berechnung des Behandlungsbedarfs (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (Teil B Ziffer 1.2) (2) geändert durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 23. Oktober 2008 (unter 11.4) (3) fortgeschrieben und abgeändert für das Jahr 2010 durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009 (Teil B Ziffer 1.2 und Ziffer 2.1) (4) wiederum korrigiert für das Jahr 2010 durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 8./9. Dezember 2009
b) zur (Nicht-)Berücksichtigung von Indikatoren zu regionalen Besonderheiten in der Versorgungsstruktur und in der Kostenstruktur (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (2) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009
c) zum Verfahren zur Berechnung des Regelleistungsvolumens (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (2) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 17. Oktober 2008 (3) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 20. April 2009 (4) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 22. September 2009 (5) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 26. März 2010
d) zu den Grundsätzen zur Bildung von Rückstellungen durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (Teil G) und durch den Änderungsbeschluss des Bewertungsausschusses vom 17. Ok¬tober 2008 (Teil B Ziffer 18)
sowie
e) die Festsetzungen der Beschlüsse der Konvergenzverfahren vom 15. Ja¬nu-ar 2009 und vom 27. Februar 2009
offensichtlich gesetzeswidrig sind und keine Wirkung für die Klägerin entfalten.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung und zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat daher gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die völlig zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung.
1. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt kein anderes Ergebnis.
a. Soweit die Klägerin geltend macht, die vom Sozialgericht als vorrangig erachtete Rechtsschutzmöglichkeit – Anfechtung der Schiedsamtsentscheidung – sei langwieriger und teurer, trifft dies nicht zu; das Gegenteil ist der Fall.
Hätte sich die Klägerin auf gesamtvertraglicher Ebene einer Vereinbarung mit den Krankenkassen über den Honorarverteilungsmaßstab (§ 85 Abs. 4 SGB V in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung) – zumindest im Hinblick auf die hier in Frage gestellten Regelungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses – verweigert und die anschließende Entscheidung des Schiedsamtes angefochten, hätte sie wegen der kurzen für das Schiedsamtsverfahren vorgesehenen Fristen (vgl. § 89 Abs. 1 und 2 SGB V) schon im Sommer 2009 ein gerichtliches Verfahren einleiten können (und wegen der einmonatigen Klagefrist nach § 87 Abs. 1 S. 1 SGG auch müssen). Damit hätte sie gegenüber der hiesigen, erst im September 2010 anhängig gemachten Klage über ein Jahr gewonnen. Hinzukommt, dass für die Anfechtung der Schiedsamtsentscheidung gemäß § 29 Abs. 2 Nr. 1 SGG die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landessozialgerichts (hier: Nordrhein-Westfalen) gegeben gewesen wäre, sodass – bei Vorliegen eines Revisionsgrundes – höchstens zwei Instanzen (und nicht drei wie im hiesigen Verfahren) zu durchlaufen wären. Das Verfahren gegen die Schiedsamtsentscheidung hätte demnach nicht nur weniger Zeit beansprucht, sondern auch (wegen der fehlenden Instanz, aber auch wegen geringerer Fahrkosten zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG) geringere Kosten veranlasst.
b. Der Senat lässt offen, ob eine Klagebefugnis der klagenden KV gegeben ist, wenn diese durch einen Beschluss des (erweiterten) Bewertungsausschusses zwar nicht unmittelbar in ihrer Kompetenzwahrnehmung beeinträchtigt wird, dieser aber so offensichtlich den ihm zugewiesenen Regelungsauftrag überschritten hat, dass einer KV die Bindung an diese Entscheidung nicht zugemutet werden kann. Im Mehrebenensystem der Rechtsordnungen wird für das europäische Recht die Problematik der Unwirksamkeit von Rechtsakten wegen greifbarer Kompetenzüberschreitungen unter der Figur des "ausbrechenden Rechtsaktes" diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat darauf im Urteil vom 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267, 353f, vgl. auch Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014, BVerfGE 134, 366-438, zur Vereinbarkeit des sog. OMT-Beschlusses mit höherrangigem europäischem Recht) hingewiesen. Danach kann das BVerfG prüfen, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen im Wege begrenzter Einzelermächtigungen eingeräumten Hoheitsrechte halten. Diese ultra-vires-Kontrolle kann die Unanwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht in Deutschland zur Folge haben. Ob diese Gesichtspunkte auf die vielfach verschränkte untergesetzliche Normsetzung im Vertragsarztrecht zumindest entsprechend anzuwenden sind und ob – wenn das der Fall ist – diese ultra-vires-Kontrolle im Einzelfall zu einer Klagebefugnis einer KV gegenüber Beschlüssen des (erweiterten) Bewertungsausschusses – zu dessen Trägerorganisationen sie gerade nicht zählt – führen kann (vgl. insoweit auch BSG, Urteil vom 03. Februar 2010 – B 6 KA 31/09 R –, juris), kann der Senat offen lassen. Denn eine hieraus resultierende Klagebefugnis ist nur zu prüfen, wenn ausnahmsweise eine unmittelbar auf eine Normenkontrolle gerichtete Leistungs- oder Feststellungsklage statthaft wäre. Hieran fehlt es nach den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts bzw. nach dem oben Gesagten.
c. Unabhängig hiervon verkennt die Klägerin ihre Funktion innerhalb des vertragsärztlichen Systems. Auch wenn sie gesetzestechnisch als Selbstverwaltungskörperschaft organisiert ist, besteht ihre Aufgabe bei der Ausgestaltung des vertragsärztlichen Vergütungssystems doch primär darin, als Behörde i.S.v. § 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch die durch den Parlamentsgesetzgeber bzw. den (erweiterten) Bewertungsausschuss als untergesetzlichem Normgeber erlassenen rechtlichen Vorgaben umzusetzen. Hierbei ist sie gemäß Art. 20 Abs. 3, 2. Halbsatz Grundgesetz wie jede andere Verwaltungsbehörde als Teil der vollziehenden Gewalt an übergeordnetes Recht gebunden.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die klagende Kassenärztliche Vereinigung (KV) begehrt die Änderung von Beschlüssen des (erweiterten) Bewertungsausschusses bzw. die Feststellung deren Rechtswidrigkeit.
In Umsetzung der Vorgaben des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378ff) und der damit verbundenen Reform des vertragsärztlichen Vergütungssystems fasste der (erweiterte) Bewertungsausschuss zahlreiche Beschlüsse, unter anderem zur für die einzelnen KVen geltenden Honorarverteilungsquote, zur (Nicht-)Berücksichtigung von Indikatoren zu regionalen Besonderheiten in der Versorgungs- und Kostenstruktur, zum Verfahren zur Berechnung des Regelleistungsvolumens (RLV), zu den Grundsätzen zur Bildung von Rückstellungen sowie zu einem sog. Konvergenzverfahren. Die in einem der "alten" Bundesländer angesiedelte Klägerin sieht sich durch diese Beschlüsse im Verhältnis zu anderen KVen benachteiligt und begehrt deswegen die Erhöhung der für sie geltenden Honorarverteilungsquote auf 0,9517 für die Jahre 2009 und 2010 sowie die Feststellung, dass die Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses zu den oben genannten Regelungspunkten "offensichtlich" gesetzwidrig sind und keine Wirkung für [sie] entfalten.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 2. Mai 2012 als unzulässig abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Zulässigkeit der Klage stehe die Nachrangigkeit der Normerlass- bzw. Normfeststellungsklage entgegen. Unmittelbarer Rechtsschutz gegen untergesetzliche Normen sei nur in denjenigen Ausnahmefällen eröffnet, in denen Betroffene ansonsten keinen effektiven Rechtsschutz erreichen könnten. Im konkreten Fall hätte die Klägerin die Möglichkeit gehabt, im Hinblick auf die von ihr für rechtswidrig erachteten Regelungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses entsprechenden gesamtvertraglichen Regelungen nicht zuzustimmen, das Schiedsamt anzurufen und gegen die Entscheidung des Schiedsamtes Klage zu erheben. In deren Rahmen hätte sie inzident auch die Unwirksamkeit der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses geltend zu machen. Gegen dieses ihr am 10. Mai 2012 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin vom 11. Juni 2012 (Montag), zu deren Begründung sie vorträgt: Als statthafte Klagearten kämen nur die Leistungs- bzw. Feststellungsklage in Betracht. Mit ihrem Leistungsantrag begehre sie eine entsprechende Anweisung der von der Beklagten jeweils in den Bewertungsausschuss bestellten Vertreter und damit ein positives Tun. Hilfsweise begehre sie die Feststellung, dass die angegriffenen Beschlüsse des erweiterten Bewertungsausschusses rechtswidrig seien. Würde ihr ein Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses verwehrt, wäre sie gezwungen, sehenden Auges Unrecht zu vollziehen, obwohl sie an das Rechtsstaatsprinzip gebunden sei. Ohne ein Recht auf gerichtliche Überprüfung würde dem (erweiterten) Bewertungsausschuss ein rechtsfreier Raum zugestanden, weil er nach Gutdünken seinen eigenen Gestaltungsspielraum abweichend von den gesetzlichen Vorgaben ziehen und die Grenzen je nach Bedarf verschieben könnte, ohne einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit ausgesetzt zu sein. Ein solches im Rechtsstaatsprinzip wurzelndes klagefähiges Recht sei auch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 3. Februar 2010 – B 6 KA 31/09 R) anerkannt. Ihr – der Klägerin – sei daher ausnahmsweise bei substantiiertem Vortrag zu den Kompetenzüberschreitungen und zur Überschreitung des Gestaltungsspielraums durch die Festsetzungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses ein klagefähiges Recht auf gerichtliche Überprüfung der Übertritte zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei ein Rechtschutzbedürfnis zu bejahen. Ihr – der Klägerin – aufzugeben, die Zustimmung zur Umsetzung auf gesamtvertraglicher Ebene zu verweigern und das Schiedsamt anzurufen, bedeute nichts anderes, als den Vollzug der Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses hinauszuzögern, da auch das Schiedsamt an diese Beschlüsse gebunden sei. Das Sozialgericht verlange von ihr, durch die Weigerung, entsprechende Gesamtverträge abzuschließen, sich zunächst einmal gegen etwas zu wenden, das sie letztlich doch nicht verhindern könne. Es sei im Sinne des Rechtsschutzbedürfnisses weitaus einfacher und kostengünstiger, die rechtswidrigen Beschlüsse des (erweiterten) Bewertungsausschusses direkt, d.h. ohne Umweg über die Anfechtung der Entscheidung des Schiedsamtes, einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Der vom Sozialgericht für richtig gehaltene Weg führe außerdem dazu, dass insgesamt ein Vertrag durch das Schiedsamt festzusetzen wäre. Bis zu dessen Zustandekommen gälten die Bestimmungen des bisherigen Vertrages nach § 89 Abs. 1 Satz 3 SGB V weiter. Dies habe zur Folge, dass eine Vielzahl zu regelnder Gegenstände im Vertrag offen bleiben müsse bis zu einer Entscheidung des Schiedsamtes. Da eine Klage gegen die Festsetzung des Schiedsamtes keine aufschiebende Wirkung habe, bliebe ihr – der Klägerin – allein die Möglichkeit, mit einem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung die Umsetzung der widerrechtlichen Bestimmung zu unterbinden. Der Ausgang eines solchen Verfahrens wäre freilich ungewiss. Der Vorrang der Inzidentprüfung könne ihr auch deshalb nicht entgegengehalten werden, weil die Subsidiarität der Feststellungsklage bei beklagten juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine Ausnahme erfahre. Eine Umgehung der besonderen Voraussetzungen der Anfechtungsklage sei im vorliegenden Fall nicht zu befürchten.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Mai 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
1. die jeweils von ihnen in den Bewertungsausschuss bestellten Vertreter anzuweisen, einen Beschluss des Bewertungsausschusses zu fassen, mit dem die Honorarverteilungsquote(HVV-Quote) für die Kassenärztliche Vereinigung Nord¬rhein, zuletzt geändert durch Ziffer 2 des Beschlusses des Bewertungsausschusses in seiner 208. Sitzung am 8./9. Dezember 2009 (mir Wirkung zum 1. Januar 2010), aufgehoben und auf den Wert in Höhe von 0,9517 für das Jahr 2009 und das Jahr 2010 festgesetzt wird,
2. festzustellen, dass die durch den erweiterten Bewertungsausschusses und den Bewertungsausschusses getroffenen Festsetzungen
a) der HVV-Quoten für die Berechnung des Behandlungsbedarfs (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (Teil B Ziffer 1.2) (2) geändert durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 23. Oktober 2008 (unter 11.4) (3) fortgeschrieben und abgeändert für das Jahr 2010 durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009 (Teil B Ziffer 1.2 und Ziffer 2.1) (4) wiederum korrigiert für das Jahr 2010 durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 8./9. Dezember 2009
b) zur (Nicht-)Berücksichtigung von Indikatoren zu regionalen Besonderheiten in der Versorgungsstruktur und in der Kostenstruktur (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (2) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009
c) zum Verfahren zur Berechnung des Regelleistungsvolumens (1) durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (2) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 17. Oktober 2008 (3) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 20. April 2009 (4) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 22. September 2009 (5) fortgeschrieben durch den Beschluss des Bewertungsausschusses vom 26. März 2010
d) zu den Grundsätzen zur Bildung von Rückstellungen durch den Beschluss des erweiterten Bewertungsausschusses vom 27./28. August 2008 (Teil G) und durch den Änderungsbeschluss des Bewertungsausschusses vom 17. Ok¬tober 2008 (Teil B Ziffer 18)
sowie
e) die Festsetzungen der Beschlüsse der Konvergenzverfahren vom 15. Ja¬nu-ar 2009 und vom 27. Februar 2009
offensichtlich gesetzeswidrig sind und keine Wirkung für die Klägerin entfalten.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage als unzulässig abgewiesen. Zur Begründung und zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat daher gemäß § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die völlig zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung.
1. Das Berufungsvorbringen rechtfertigt kein anderes Ergebnis.
a. Soweit die Klägerin geltend macht, die vom Sozialgericht als vorrangig erachtete Rechtsschutzmöglichkeit – Anfechtung der Schiedsamtsentscheidung – sei langwieriger und teurer, trifft dies nicht zu; das Gegenteil ist der Fall.
Hätte sich die Klägerin auf gesamtvertraglicher Ebene einer Vereinbarung mit den Krankenkassen über den Honorarverteilungsmaßstab (§ 85 Abs. 4 SGB V in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung) – zumindest im Hinblick auf die hier in Frage gestellten Regelungen des (erweiterten) Bewertungsausschusses – verweigert und die anschließende Entscheidung des Schiedsamtes angefochten, hätte sie wegen der kurzen für das Schiedsamtsverfahren vorgesehenen Fristen (vgl. § 89 Abs. 1 und 2 SGB V) schon im Sommer 2009 ein gerichtliches Verfahren einleiten können (und wegen der einmonatigen Klagefrist nach § 87 Abs. 1 S. 1 SGG auch müssen). Damit hätte sie gegenüber der hiesigen, erst im September 2010 anhängig gemachten Klage über ein Jahr gewonnen. Hinzukommt, dass für die Anfechtung der Schiedsamtsentscheidung gemäß § 29 Abs. 2 Nr. 1 SGG die erstinstanzliche Zuständigkeit des Landessozialgerichts (hier: Nordrhein-Westfalen) gegeben gewesen wäre, sodass – bei Vorliegen eines Revisionsgrundes – höchstens zwei Instanzen (und nicht drei wie im hiesigen Verfahren) zu durchlaufen wären. Das Verfahren gegen die Schiedsamtsentscheidung hätte demnach nicht nur weniger Zeit beansprucht, sondern auch (wegen der fehlenden Instanz, aber auch wegen geringerer Fahrkosten zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG) geringere Kosten veranlasst.
b. Der Senat lässt offen, ob eine Klagebefugnis der klagenden KV gegeben ist, wenn diese durch einen Beschluss des (erweiterten) Bewertungsausschusses zwar nicht unmittelbar in ihrer Kompetenzwahrnehmung beeinträchtigt wird, dieser aber so offensichtlich den ihm zugewiesenen Regelungsauftrag überschritten hat, dass einer KV die Bindung an diese Entscheidung nicht zugemutet werden kann. Im Mehrebenensystem der Rechtsordnungen wird für das europäische Recht die Problematik der Unwirksamkeit von Rechtsakten wegen greifbarer Kompetenzüberschreitungen unter der Figur des "ausbrechenden Rechtsaktes" diskutiert. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat darauf im Urteil vom 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon (BVerfGE 123, 267, 353f, vgl. auch Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014, BVerfGE 134, 366-438, zur Vereinbarkeit des sog. OMT-Beschlusses mit höherrangigem europäischem Recht) hingewiesen. Danach kann das BVerfG prüfen, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen im Wege begrenzter Einzelermächtigungen eingeräumten Hoheitsrechte halten. Diese ultra-vires-Kontrolle kann die Unanwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht in Deutschland zur Folge haben. Ob diese Gesichtspunkte auf die vielfach verschränkte untergesetzliche Normsetzung im Vertragsarztrecht zumindest entsprechend anzuwenden sind und ob – wenn das der Fall ist – diese ultra-vires-Kontrolle im Einzelfall zu einer Klagebefugnis einer KV gegenüber Beschlüssen des (erweiterten) Bewertungsausschusses – zu dessen Trägerorganisationen sie gerade nicht zählt – führen kann (vgl. insoweit auch BSG, Urteil vom 03. Februar 2010 – B 6 KA 31/09 R –, juris), kann der Senat offen lassen. Denn eine hieraus resultierende Klagebefugnis ist nur zu prüfen, wenn ausnahmsweise eine unmittelbar auf eine Normenkontrolle gerichtete Leistungs- oder Feststellungsklage statthaft wäre. Hieran fehlt es nach den überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts bzw. nach dem oben Gesagten.
c. Unabhängig hiervon verkennt die Klägerin ihre Funktion innerhalb des vertragsärztlichen Systems. Auch wenn sie gesetzestechnisch als Selbstverwaltungskörperschaft organisiert ist, besteht ihre Aufgabe bei der Ausgestaltung des vertragsärztlichen Vergütungssystems doch primär darin, als Behörde i.S.v. § 1 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch die durch den Parlamentsgesetzgeber bzw. den (erweiterten) Bewertungsausschuss als untergesetzlichem Normgeber erlassenen rechtlichen Vorgaben umzusetzen. Hierbei ist sie gemäß Art. 20 Abs. 3, 2. Halbsatz Grundgesetz wie jede andere Verwaltungsbehörde als Teil der vollziehenden Gewalt an übergeordnetes Recht gebunden.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision wird nicht zugelassen, weil Gründe hierfür (§ 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
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