L 9 AS 4079/15 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 2903/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 4079/15 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 17. September 2015 aufgehoben.

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Antragstellers sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat den Antragsgegner zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 01.09.2015 längstens bis 29.02.2016 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von monatlich 399,00 EUR zu gewähren. Die Voraussetzungen für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch das SG lagen nicht vor.

Das Rechtsschutzbegehren unterliegt schon mit Blick auf die Anforderungen des § 92 Sozialgerichtsgesetz (SGG) rechtlichen Bedenken. Nach der Bestimmung des § 92 Abs. 1 SGG muss die Klage - und entsprechend auch ein gerichtlicher Eilrechtsschutzantrag - den Kläger, den Beklagten und den Gegenstand des Klagebegehrens bezeichnen. Enthält die Klageschrift keine zustellungsgeeignete und damit auch keine ladungsfähige Anschrift, ist die Klage nach herrschender Meinung jedenfalls dann unzulässig, wenn die Angabe ohne Weiteres möglich ist und kein schützenswertes Interesse hinsichtlich der Geheimhaltung einer Adresse entgegensteht (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 18.11.2003 - B 1 KR 1/02 S = juris Rn. 4 ff.; Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Beschluss vom 20.11.2006 - L 7 AS 5501/06 ER-B -; Leitherer, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 92 Rn. 4). Das Anschriftserfordernis ist unumgänglich, um die rechtswirksame Zustellung gerichtlicher Entscheidungen bewirken zu können (vgl. § 63 Abs. 2 SGG i.V.m. §§ 166 Zivilprozessordnung (ZPO)). Vorliegend fehlte es während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens an der Angabe einer zustellungsgeeigneten Anschrift, da der Antragsteller unter der von ihm angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln war und auch sonst keine ladungsfähige Anschrift von ihm benannt oder zu ermitteln war. Gleiches gilt für die von ihm im Beschwerdeverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) angegebene Anschrift einer Beratungs- und Poststelle für wohnungslose Personen, unter der er zum gerichtlichen Erörterungstermin vom 03.11.2015 nicht geladen werden konnte, weil die dortige Registrierung als Postabholer eine persönliche Vorsprache voraussetzt und eine bloße "Anmeldung" per E-Mail, wie dies der Antragsteller getan hatte, nicht ausreicht. Diese persönliche Registrierung hat der Antragsteller - nach entsprechendem Hinweis des Gerichts an ihn per E-Mail - erst zum 30.10.2015 nachgeholt, was er wiederum erst unter dem 02.11.2015 per E-Mail mitgeteilt hat.

Unabhängig von den Anforderungen des § 92 SGG lagen und liegen jedenfalls entgegen der Auffassung des SG die materiellen Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 01.08.2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17.08.2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz unter Umständen nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (vgl. etwa LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 13.10.2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 06.09.2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - beide juris, jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG).

Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. z.B. LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 01.08.2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - FEVS 57, 72 und vom 17.08.2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B - FEVS 57, 164). Hiervon ausgehend liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht vor.

Der Leistungsgewährung stand bei summarischer Prüfung unabhängig vom begehrten Bewilligungszeitraum - der Antragsteller hatte Leistungen vom Antragsgegner (nur) für die Zeit vom 01.09. bis 03.09.2015 begehrt, das SG solche aber für die Zeit vom 01.09.2015 bis 29.02.2016 zugesprochen - bereits im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilantragstellung (09.09.2015) die Bestimmung des § 7 Abs. 4 a SGG entgegen, wonach der Leistungsberechtigte erreichbar sein muss. Eine Nichterreichbarkeit führt zum Entfallen der Leistungsansprüche kraft Gesetzes (Thie in LPK-SGB II, 5. Aufl. 2014, § 7 Rn. 104). Hiernach müssen wohnungslose erwerbsfähige Leistungsberechtigte - wozu der Antragsteller, dessen Wohnverhältnisse seit Antragstellung im Einzelnen unklar sind, offenbar gehört - ihre Erreichbarkeit durch die Benennung der Anschrift einer Beratungsstelle oder Betreuungsperson sicherstellen, die sie einmal werktäglich nach Eingang der Briefpost aufsuchen müssen, um Postsendungen persönlich zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls am nächsten Tag den SGB II-Träger aufzusuchen (Thie a.a.O., § 7 Rn. 107; s. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2008 - L 29 B 2228/07 AS ER -). An dieser dem Antragsteller möglichen und zumutbaren Benennung einer Anschrift, unter welcher er auch tatsächlich postalisch erreichbar ist, fehlte es während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens und während des Beschwerdeverfahrens bis zur "Aktivierung" seines Postfaches bei der Postempfangsstelle in der K.straße in K. am 30.10.2015, weshalb bis dahin ein Leistungsanspruch schon aus diesem Grund entfällt.

Die Anordnungsvoraussetzungen liegen zudem - und auch ab der Herstellung der postalischen Erreichbarkeit - deswegen nicht vor, weil der Antragsteller seine Hilfebedürftigkeit dem Grunde und der Höhe nach (§§ 7, 9 SGB II) nicht glaubhaft gemacht hat, weder durch Angaben gegenüber dem Antragsgegner bzw. dem Beigeladenen noch in sonstiger Weise. Der Antragsteller hat nach dem Vortrag des Vertreters des Beigeladenen im Erörterungstermin offenbar beim Jobcenter in K. - wo er sich nach eigenen Angaben seit 04.09.2015 aufhält - schriftlich unter dem 01.09.2015 einen Leistungsantrag gestellt, in der Folge aber trotz Aufforderung keinerlei Angaben zu seinen persönlichen und Einkommens- und Vermögensverhältnissen gemacht und auch keine Unterlagen hierzu vorgelegt, sondern lediglich einmal am 21.10.2015 bei der Anlaufstelle des Jobcenters vorgesprochen und dort die Kopie eines (abgelaufenen) Personalausweises vorgezeigt, wiederum allerdings ohne die für die Antragsbearbeitung erforderlichen Angaben zu seinen Wohn- oder sonstigen Verhältnissen zu machen bzw. Unterlagen vorzulegen. Es ist dem Antragsteller möglich und zumutbar, diese für die Antragsbearbeitung und Prüfung seiner Hilfebedürftigkeit seit Antragstellung erforderlichen Angaben gegenüber dem Jobcenter im eigenen Interesse umgehend nachzuholen.

Damit sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht glaubhaft gemacht, weshalb der Beschluss des SG aufzuheben war.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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