Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 7/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 14.07.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2014 verurteilt, der Klägerin 4.300,00 EUR zu erstatten. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte. Im Übrigen haben die Beteiligten einander Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für die Beschaffung eines Therapie-Dreirades.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin besteht ein Down-Syndrom. Sie leidet an symptomatischer Epilepsie mit Anfällen. Am 30.06.2014 verordnete die Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin L. ein Therapie-Dreirad für die Klägerin. Am 04.07.2014 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem Therapie-Dreirad unter Vorlage der Hilfsmittelverordnung, befürwortender Stellungnahmen der verordneten Ärztin und der behandelnden Krankengymnastin sowie eines Kostenvoranschlags der Firma Michels vom 03.07.2014 bezüglich eines Therapie-Dreirades "Trix" der Firma Hase nebst Zubehör über 4.603,00 EUR. Zur Begründung erklärte die Klägerin, sie könne auf absehbare Zeit nicht selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen und auch nicht auf einem normalen Fahrrad fahren; mit dem Therapie-Dreirad "Trix" könne sie sich jedoch aktiv am Fahrrad fahren beteiligen. Aufgrund ihrer aktuellen Situation würde das Therapie-Dreirad mehr als Fahrradanhänger benutzt werden, da für ein selbstständiges Fahren das Verständnis für Gefahren noch nicht vorhanden sei.
Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 14.07.2014 ab. Zur Begründung führte sie aus, bei einer reinen Anhängerfunktion des Dreirades sei keine Integration in die Gruppe Gleichaltriger gegeben; desweiteren sei ein Therapie-Dreirad zur Selbststeuerung durch die Klägerin bei erheblicher Fremd- und Eigengefährdung nicht zu gestatten.
Dagegen erhob die Klägerin am 04.08.2014 Widerspruch. Sie verwies auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Hilfsmittelversorgung von Kindern zwecks Integration in die Gruppe Gleichaltriger. Zwar solle eine "Selbststeuerung" des Therapie-Dreirades zumindest momentan nicht im öffentlichen Straßenverkehr erfolgen, jedoch sei das Bewegen im Straßenverkehr zumindest in Begleitung möglich. Im Übrigen gehe aus den vorgelegten Bescheinigungen hervor, dass aufgrund der ausgeprägten Muskel-Hypotonie das Fahrrad fahren auch der Kräftigung der Muskulatur und der Verbesserung der Koordination diene.
Nach Einholung einer weiteren MDK-Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 03.12.2014 – ausschließlich unter Ablehnung eines Anspruchs nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 02.01.2015 Klage erhoben. Sie meint, das Therapie-Dreirad sei zur Sicherung des Krankenbehandlungserfolges erforderlich, weil durch seine Nutzung die krankengymnastische Therapie wesentlich gefördert werden könne (Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, Kräftigung der Beinmuskulatur, Förderung der Körperkoordination). Unabhängig davon sei ihr das Hilfsmittel als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 7 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zu gewähren.
Im Juli 2015 hat sich die Klägerin das Therapie-Dreirad Modell "Trix" der Firma Hase, wie es im Kostenvoranschlag vom 03.07.2014 dargestellt worden ist, mittels eines Darlehens des "Verein schwerkrankes Kind" e.V. für 4.800,00 EUR selbst beschafft. Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Klägerin mit dem Therapie-Dreirad mittlerweise selbstständig, z.B. zur Physiotherapie, fahren könne, wobei sie von ihrer Mutter auf deren eigenem Rad begleitet werde. In der verkehrsberuhigten Zone könne sie aber auch inzwischen ohne Begleitung der Eltern etwa zum Spiel mit Freunden fahren. In der Lernphase zur Handhabung des Therapie-Dreirades werde die Klägerin natürlich von den Eltern begleitet und angelernt. Ziel es sei, immer neuere längere Strecken selbstständig bewältigen und zu anderen weiter entfernt wohnenden Freunden fahren zu können. Inzwischen sei es so, dass die Klägerin mit ihren Geschwistern – der Zwillingsbruder ist 13 Jahre, ihre Schwester 11 Jahre – ohne Begleitung von Erwachsenen selbstständig zu Freunden fahren oder sich mit ihnen in der verkehrsberuhigten Zone bewegen könne. Epileptische Anfälle fänden nur noch nachts ein- bis zweimal monatlich statt. Die Klägerin sei inzwischen sehr gut medikamentös eingestellt. Im Übrigen trage sie zum Schutz vor eventuellen epileptischen Anfällen eine besondere Polsterung, sei im Fahrrad angeschnallt und trage dort auch einen Helm. Sie könne sich selbstständig ohne fremde Hilfe in das Fahrrad setzen, sich anschnallen und den Helm aufsetzen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.07.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2014 zu verurteilen, ihr 4.300,00 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung. Sie meint, dass weder ein Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 33 SGB V) noch auf Eingliederungshilfe (§ 54 SGB XII i.V.m. §§ 26, 33, 41, 55 SGB IX) bestehe.
Der notwendig Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt. Er ist der Auffassung, ein Hilfsmittelanspruch der Klägerin bestehe nach § 33 SGB V. Nach der Darstellung der Eltern sei die Klägerin nämlich in der Lage, das beantragte Fahrrad im Spiel gemeinsam mit den Geschwistern oder mit Freunden und Bekannten außerhalb des öffentlichen Straßenverkehrs oder auch in einem verkehrsberuhigten öffentlichen Straßenraum zu benutzen. Dies diene der Integration innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen und begründe nach der Rechtsprechung des BSG einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Die Beklagte hat den Anspruch auf Versorgung mit einem Therapie-Dreirad zu Unrecht verneint. Der ursprüngliche Sachleistungsanspruch der Klägerin hat sich infolge der Selbstbeschaffung dieses Hilfsmittels (nach Ablehnung des Versorgungsantrags) in einen Kostenerstattungsanspruch gewandelt, der sich nach § 13 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative SGB V richtet. Danach sind, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Bei dem streitigen Dreirad handelt es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert worden ist und nur von Behinderten eingesetzt wird (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1999 – B 3 KR 1/99 R). Es ist zudem nicht durch die zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen.
1. Allerdings hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Dreirad "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung"; denn dafür stehen ebenso wirksame, aber wirtschaftlich günstigere Alternativen zur Verfügung. Maßnahmen oder Hilfen zur Bewegungsförderung fallen nur ausnahmsweise in die Leistungszuständigkeit der Krankenkassen. Zur Krankenbehandlung gehören regelmäßig nur Maßnahmen mit Behandlungs- und Therapiecharakter, die einen eindeutigen Krankheitsbezug aufweisen. Bloße allgemeine Maßnahmen der Erhaltung und Förderung der Gesundheit genügen diesen Anforderungen nach der Rechtsprechung des BSG nicht, selbst wenn sie von qualifizierten Fachkräften unter ärztlicher Betreuung und Überwachung durchgeführt werden (BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R – m.w.N.). Allein die befürwortende Verordnung der behandelnden Kinder- und Jugendmedizinerin und deren befürwortende Stellungnahme sowie die der Krankengymnastin begründen keine Ausnahme, das Therapiedreirad zur Förderung oder Ermöglichung der Mobilisation als Hilfsmittel "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1, 1. Alternative SGB V zu Lasten der GKV anzuerkennen. Die Ärztin hält das Dreirad für "sinnvoll"; sie hat aber nicht dargelegt, dass das Dreirad spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird. Nicht jedwede gesundheitsfördernde Betätigung ist als spezifischer Einsatz im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung anzusehen. Keinen ausreichend engen Bezug zu einer konkreten Krankenbehandlung weisen diejenigen gesundheitsförderlichen Maßnahmen auf, die (nur) allgemein auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen des behinderten Menschen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung zielen. Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB V kommt daher nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz SGB V als erforderlich anzusehen sind. Davon ist bei einer Hilfe zur körperlichen Betätigung – wie hier mit dem Therapiedreirad – dann auszugehen, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat, die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann und sich deshalb die Versorgung mit dem Hilfsmittel im Rahmen der Wahlmöglichkeiten des Versicherten als wirtschaftlich darstellt (BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R). Dies trifft auf die Klägerin nicht zu. Die behandelnde Kinder- und Jugendärztin hat in ihrem Befundbericht darauf hingewiesen, dass der Einsatz des Therapierades allgemein auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung. Zusätzlich bestehe ein kontinuierlicher Bedarf an physikalischer Therapie (Krankengymnastik). Dies zeigt, dass die Benutzung des Dreirades die notwendigen von physikalischen Maßnahmen ergänzt, deren Verordnung jedoch nicht nennenswert zu reduzieren vermag.
2. Der Anspruch der Klägerin auf das verordnete und inzwischen selbst beschaffte Dreirad ist jedoch unter dem Gesichtspunkt des – mittelbaren – Behinderungsausgleichs begründet.
a) Die Ermöglichung allein des Fahrradfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, fällt allerdings nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung deutlich gemacht, dass der gesetzlichen Krankenversicherung allein die medizinische Rehabilitation obliegt, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Hieran hat sich auch durch die Einführung des Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" nichts geändert. Die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln fällt danach nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (st. Rspr.; vgl. BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R – m.w.N.).
b) Zu derartigen Grundbedürfnisses gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen, sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 – unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 06.08.1998 – B 3 KR 3/97 R). Auch die elementare "Bewegungsfreiheit" ist als Grundbedürfnis anerkannt. Es wird bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens etc. sichergestellt. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in diesem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dient ein behindertengerechtes Fahrzeug nur dem Zweck, einen größeren Radius als ein Fußgänger zu erreichen, so ist dies im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V in der Regel nicht notwendig. Nur wenn durch das Fahrzeug ein weitergehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein. In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen lassen sich die Lebensbereiche nicht in der Weise trennen wie bei Erwachsenen, nämlich in die Bereiche Beruf, Gesellschaft und Freizeit. Ein Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen ist deshalb nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht, sondern auch die Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird (so: BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R).
c) Die Kammer ist – insbesondere aufgrund des substanziierten und nachvollziehbaren Vortrags der Eltern in der mündlichen Verhandlung – davon überzeugt, dass das beantragte und selbstbeschaffte Hilfsmittel bei Anlegen des beschriebenen Maßstabes und der vom BSG entwickelten Kriterien für die Klägerin erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist. Dies mag zu einem früheren Zeitpunkt noch anders zu beurteilen gewesen sein, als das Hilfsmittel noch nicht angeschafft war und die Klägerin bzw. ihre Eltern davon ausgingen, das Dreirad nur als Anhänger am Fahrrad der Eltern oder bei eigenständiger Benutzung durch die Klägerin nur in Begleitung der Eltern zu verwenden. Bei einer derartigen Nutzung wäre das Dreirad zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher und damit zur Integration in die Gruppe Gleichaltriger als einem anzuerkennenden Grundbedürfnis Jugendlicher nicht geeignet gewesen. Denn die Anwesenheit einer Begleitperson, d.h. eines Erwachsenen, wird von Jugendlichen bei ihren Aktivitäten, mit denen sie gerade Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Erwachsenen beweisen wollen, üblicherweise nicht akzeptiert (BSG, Urteil vom 21.11.2002 – B 3 KR 8/02 R). So liegt es aber im Fall der Klägerin spätestens seit der Selbstbeschaffung des Hilfsmittels im Juli 2015 nicht mehr. Wie schon aus der im Rahmen einer Testung des Hilfsmittels gefertigten Filmaufnahme, die mittels CD in das Verfahren eingeführt worden ist, ersichtlich, ist die Klägerin in der Lage, sich selbstständig ohne fremde Hilfe in das Fahrrad zu setzen. Die Eltern haben in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass sie sich auch selbstständig anschnallen und den Helm aufsetzen kann. Zwar werde sie derzeit noch bei Fahrten z.B. zur Physiotherapie, bei denen sie selbstständig das Dreirad fährt, etwa von der Mutter auf deren Fahrrad begleitet. Insofern befinde sie sich noch in einer Lernphase. Ziel sei es, dass die Klägerin immer neuere längere Strecken selbstständig bewältige, um zu anderen weiter entfernt wohnenden Freunden fahren zu können. Nach den überzeugenden Darlegungen der Eltern, an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hatte, ist es aber heute schon so, dass sich die Klägerin allein in Begleitung ihrer Geschwister – der Zwillingsbruder ist 13 Jahre, die Schwester 11 Jahre – selbstständig ohne Begleitung von Erwachsenen in verkehrsberuhigten Zonen bewegen und zu Freunden fahren kann. Früher – so die Eltern – sei es so gewesen, dass, wenn die Geschwister nach draußen mit dem Fahrrad fahren wollten, die Klägerin habe zuhause bleiben müssen. Dies sei jetzt nicht mehr so. Wenn aber die Klägerin inzwischen völlig ohne Begleitung von Erwachsenen, allein in Begleitung ihrer gleichaltrigen bzw. jüngeren Geschwister mit dem Dreirad fahren und sich mit Freunden treffen kann, wird gerade damit ihrer Integration in der Gruppe Gleichaltriger Rechnung getragen und dieses Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen befriedigt. Dies begründet ihren Anspruch auf das Hilfsmittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung.
3. Die Kosten des selbstbeschafften Therapie-Dreirades überschreiten auch nicht das übliche Maß und stehen nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) entgegen. Im Rahmen des Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V sind die durch die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu erstatten; dies wären 4.800,00 EUR gewesen, die die Klägerin für die Rückzahlung des Darlehens des "Verein schwerkrankes Kind" e.V. zur Beschaffung des Hilfsmittels aufzubringen hat. Der Kostenvoranschlag der Firma Michels vom 03.07.2014 beziffert die Kosten für das Hilfsmittel mit 4.603,00 EUR. Im Hinblick auf den Umstand, dass im Rahmen des hier geltend gemachten Hilfsmittelanspruchs ein Betrag abzusetzen war, zu dem ein handelsübliches Fahrrad angeschafft werden können (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.1998 – B 8 KN 13/97 R), hat die Klägerin die Kostenerstattungsforderung auf 4.300,00 EUR begrenzt. Mit dieser Reduzierung um 500,00 EUR gegenüber dem tatsächlichen Selbstbeschaffungspreis und 300,00 EUR gegenüber dem Kostenvoranschlag ist dem abzusetzenden Eigenanteil ausreichend Rechnung getragen, da für derartige Beträge ein handelsübliches Fahrrad erworben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für die Beschaffung eines Therapie-Dreirades.
Bei der am 00.00.0000 geborenen Klägerin besteht ein Down-Syndrom. Sie leidet an symptomatischer Epilepsie mit Anfällen. Am 30.06.2014 verordnete die Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin L. ein Therapie-Dreirad für die Klägerin. Am 04.07.2014 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem Therapie-Dreirad unter Vorlage der Hilfsmittelverordnung, befürwortender Stellungnahmen der verordneten Ärztin und der behandelnden Krankengymnastin sowie eines Kostenvoranschlags der Firma Michels vom 03.07.2014 bezüglich eines Therapie-Dreirades "Trix" der Firma Hase nebst Zubehör über 4.603,00 EUR. Zur Begründung erklärte die Klägerin, sie könne auf absehbare Zeit nicht selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen und auch nicht auf einem normalen Fahrrad fahren; mit dem Therapie-Dreirad "Trix" könne sie sich jedoch aktiv am Fahrrad fahren beteiligen. Aufgrund ihrer aktuellen Situation würde das Therapie-Dreirad mehr als Fahrradanhänger benutzt werden, da für ein selbstständiges Fahren das Verständnis für Gefahren noch nicht vorhanden sei.
Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 14.07.2014 ab. Zur Begründung führte sie aus, bei einer reinen Anhängerfunktion des Dreirades sei keine Integration in die Gruppe Gleichaltriger gegeben; desweiteren sei ein Therapie-Dreirad zur Selbststeuerung durch die Klägerin bei erheblicher Fremd- und Eigengefährdung nicht zu gestatten.
Dagegen erhob die Klägerin am 04.08.2014 Widerspruch. Sie verwies auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Hilfsmittelversorgung von Kindern zwecks Integration in die Gruppe Gleichaltriger. Zwar solle eine "Selbststeuerung" des Therapie-Dreirades zumindest momentan nicht im öffentlichen Straßenverkehr erfolgen, jedoch sei das Bewegen im Straßenverkehr zumindest in Begleitung möglich. Im Übrigen gehe aus den vorgelegten Bescheinigungen hervor, dass aufgrund der ausgeprägten Muskel-Hypotonie das Fahrrad fahren auch der Kräftigung der Muskulatur und der Verbesserung der Koordination diene.
Nach Einholung einer weiteren MDK-Stellungnahme wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 03.12.2014 – ausschließlich unter Ablehnung eines Anspruchs nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung – als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 02.01.2015 Klage erhoben. Sie meint, das Therapie-Dreirad sei zur Sicherung des Krankenbehandlungserfolges erforderlich, weil durch seine Nutzung die krankengymnastische Therapie wesentlich gefördert werden könne (Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, Kräftigung der Beinmuskulatur, Förderung der Körperkoordination). Unabhängig davon sei ihr das Hilfsmittel als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 7 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zu gewähren.
Im Juli 2015 hat sich die Klägerin das Therapie-Dreirad Modell "Trix" der Firma Hase, wie es im Kostenvoranschlag vom 03.07.2014 dargestellt worden ist, mittels eines Darlehens des "Verein schwerkrankes Kind" e.V. für 4.800,00 EUR selbst beschafft. Die Eltern der Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die Klägerin mit dem Therapie-Dreirad mittlerweise selbstständig, z.B. zur Physiotherapie, fahren könne, wobei sie von ihrer Mutter auf deren eigenem Rad begleitet werde. In der verkehrsberuhigten Zone könne sie aber auch inzwischen ohne Begleitung der Eltern etwa zum Spiel mit Freunden fahren. In der Lernphase zur Handhabung des Therapie-Dreirades werde die Klägerin natürlich von den Eltern begleitet und angelernt. Ziel es sei, immer neuere längere Strecken selbstständig bewältigen und zu anderen weiter entfernt wohnenden Freunden fahren zu können. Inzwischen sei es so, dass die Klägerin mit ihren Geschwistern – der Zwillingsbruder ist 13 Jahre, ihre Schwester 11 Jahre – ohne Begleitung von Erwachsenen selbstständig zu Freunden fahren oder sich mit ihnen in der verkehrsberuhigten Zone bewegen könne. Epileptische Anfälle fänden nur noch nachts ein- bis zweimal monatlich statt. Die Klägerin sei inzwischen sehr gut medikamentös eingestellt. Im Übrigen trage sie zum Schutz vor eventuellen epileptischen Anfällen eine besondere Polsterung, sei im Fahrrad angeschnallt und trage dort auch einen Helm. Sie könne sich selbstständig ohne fremde Hilfe in das Fahrrad setzen, sich anschnallen und den Helm aufsetzen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.07.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.12.2014 zu verurteilen, ihr 4.300,00 EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung. Sie meint, dass weder ein Anspruch nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 33 SGB V) noch auf Eingliederungshilfe (§ 54 SGB XII i.V.m. §§ 26, 33, 41, 55 SGB IX) bestehe.
Der notwendig Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt. Er ist der Auffassung, ein Hilfsmittelanspruch der Klägerin bestehe nach § 33 SGB V. Nach der Darstellung der Eltern sei die Klägerin nämlich in der Lage, das beantragte Fahrrad im Spiel gemeinsam mit den Geschwistern oder mit Freunden und Bekannten außerhalb des öffentlichen Straßenverkehrs oder auch in einem verkehrsberuhigten öffentlichen Straßenraum zu benutzen. Dies diene der Integration innerhalb der Gruppe der Gleichaltrigen und begründe nach der Rechtsprechung des BSG einen Anspruch gegen die gesetzliche Krankenversicherung.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Die Beklagte hat den Anspruch auf Versorgung mit einem Therapie-Dreirad zu Unrecht verneint. Der ursprüngliche Sachleistungsanspruch der Klägerin hat sich infolge der Selbstbeschaffung dieses Hilfsmittels (nach Ablehnung des Versorgungsantrags) in einen Kostenerstattungsanspruch gewandelt, der sich nach § 13 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative SGB V richtet. Danach sind, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Bei dem streitigen Dreirad handelt es sich um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert worden ist und nur von Behinderten eingesetzt wird (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1999 – B 3 KR 1/99 R). Es ist zudem nicht durch die zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen.
1. Allerdings hat die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Dreirad "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung"; denn dafür stehen ebenso wirksame, aber wirtschaftlich günstigere Alternativen zur Verfügung. Maßnahmen oder Hilfen zur Bewegungsförderung fallen nur ausnahmsweise in die Leistungszuständigkeit der Krankenkassen. Zur Krankenbehandlung gehören regelmäßig nur Maßnahmen mit Behandlungs- und Therapiecharakter, die einen eindeutigen Krankheitsbezug aufweisen. Bloße allgemeine Maßnahmen der Erhaltung und Förderung der Gesundheit genügen diesen Anforderungen nach der Rechtsprechung des BSG nicht, selbst wenn sie von qualifizierten Fachkräften unter ärztlicher Betreuung und Überwachung durchgeführt werden (BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R – m.w.N.). Allein die befürwortende Verordnung der behandelnden Kinder- und Jugendmedizinerin und deren befürwortende Stellungnahme sowie die der Krankengymnastin begründen keine Ausnahme, das Therapiedreirad zur Förderung oder Ermöglichung der Mobilisation als Hilfsmittel "zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung" im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 1, 1. Alternative SGB V zu Lasten der GKV anzuerkennen. Die Ärztin hält das Dreirad für "sinnvoll"; sie hat aber nicht dargelegt, dass das Dreirad spezifisch im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung eingesetzt wird. Nicht jedwede gesundheitsfördernde Betätigung ist als spezifischer Einsatz im Rahmen der ärztlich verantworteten Krankenbehandlung anzusehen. Keinen ausreichend engen Bezug zu einer konkreten Krankenbehandlung weisen diejenigen gesundheitsförderlichen Maßnahmen auf, die (nur) allgemein auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen des behinderten Menschen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung zielen. Ein weitergehender spezifischer Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 SGB V kommt daher nur solchen Maßnahmen zur körperlichen Mobilisation zu, die in einem engen Zusammenhang zu einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz SGB V als erforderlich anzusehen sind. Davon ist bei einer Hilfe zur körperlichen Betätigung – wie hier mit dem Therapiedreirad – dann auszugehen, wenn der Versicherte aufgrund der Schwere der Erkrankung dauerhaft Anspruch auf Maßnahmen der physikalischen Therapie hat, die durch das beanspruchte Hilfsmittel unterstützte eigene körperliche Betätigung diese Therapie entweder wesentlich fördert oder die Behandlungsfrequenz infolge der eigenen Betätigung geringer ausfallen kann und sich deshalb die Versorgung mit dem Hilfsmittel im Rahmen der Wahlmöglichkeiten des Versicherten als wirtschaftlich darstellt (BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 5/10 R). Dies trifft auf die Klägerin nicht zu. Die behandelnde Kinder- und Jugendärztin hat in ihrem Befundbericht darauf hingewiesen, dass der Einsatz des Therapierades allgemein auf die Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, die Mobilisierung von Restfunktionen, die Erhöhung der Ausdauer und Belastungsfähigkeit sowie die Hilfe bei der Krankheitsbewältigung. Zusätzlich bestehe ein kontinuierlicher Bedarf an physikalischer Therapie (Krankengymnastik). Dies zeigt, dass die Benutzung des Dreirades die notwendigen von physikalischen Maßnahmen ergänzt, deren Verordnung jedoch nicht nennenswert zu reduzieren vermag.
2. Der Anspruch der Klägerin auf das verordnete und inzwischen selbst beschaffte Dreirad ist jedoch unter dem Gesichtspunkt des – mittelbaren – Behinderungsausgleichs begründet.
a) Die Ermöglichung allein des Fahrradfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, fällt allerdings nicht in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung deutlich gemacht, dass der gesetzlichen Krankenversicherung allein die medizinische Rehabilitation obliegt, also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Hieran hat sich auch durch die Einführung des Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" nichts geändert. Die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln fällt danach nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie Auswirkungen der Behinderung nicht nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (st. Rspr.; vgl. BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R – m.w.N.).
b) Zu derartigen Grundbedürfnisses gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums, die auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen, sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens (Schulwissens) umfassen (BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 – unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 06.08.1998 – B 3 KR 3/97 R). Auch die elementare "Bewegungsfreiheit" ist als Grundbedürfnis anerkannt. Es wird bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens etc. sichergestellt. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in diesem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Dient ein behindertengerechtes Fahrzeug nur dem Zweck, einen größeren Radius als ein Fußgänger zu erreichen, so ist dies im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V in der Regel nicht notwendig. Nur wenn durch das Fahrzeug ein weitergehendes Grundbedürfnis gedeckt wird, kann es ein Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung sein. In der Entwicklungsphase von Kindern und Jugendlichen lassen sich die Lebensbereiche nicht in der Weise trennen wie bei Erwachsenen, nämlich in die Bereiche Beruf, Gesellschaft und Freizeit. Ein Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen ist deshalb nicht nur die Teilnahme am allgemeinen Schulunterricht, sondern auch die Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird (so: BSG, Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R).
c) Die Kammer ist – insbesondere aufgrund des substanziierten und nachvollziehbaren Vortrags der Eltern in der mündlichen Verhandlung – davon überzeugt, dass das beantragte und selbstbeschaffte Hilfsmittel bei Anlegen des beschriebenen Maßstabes und der vom BSG entwickelten Kriterien für die Klägerin erforderlich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist. Dies mag zu einem früheren Zeitpunkt noch anders zu beurteilen gewesen sein, als das Hilfsmittel noch nicht angeschafft war und die Klägerin bzw. ihre Eltern davon ausgingen, das Dreirad nur als Anhänger am Fahrrad der Eltern oder bei eigenständiger Benutzung durch die Klägerin nur in Begleitung der Eltern zu verwenden. Bei einer derartigen Nutzung wäre das Dreirad zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Jugendlicher und damit zur Integration in die Gruppe Gleichaltriger als einem anzuerkennenden Grundbedürfnis Jugendlicher nicht geeignet gewesen. Denn die Anwesenheit einer Begleitperson, d.h. eines Erwachsenen, wird von Jugendlichen bei ihren Aktivitäten, mit denen sie gerade Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Erwachsenen beweisen wollen, üblicherweise nicht akzeptiert (BSG, Urteil vom 21.11.2002 – B 3 KR 8/02 R). So liegt es aber im Fall der Klägerin spätestens seit der Selbstbeschaffung des Hilfsmittels im Juli 2015 nicht mehr. Wie schon aus der im Rahmen einer Testung des Hilfsmittels gefertigten Filmaufnahme, die mittels CD in das Verfahren eingeführt worden ist, ersichtlich, ist die Klägerin in der Lage, sich selbstständig ohne fremde Hilfe in das Fahrrad zu setzen. Die Eltern haben in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass sie sich auch selbstständig anschnallen und den Helm aufsetzen kann. Zwar werde sie derzeit noch bei Fahrten z.B. zur Physiotherapie, bei denen sie selbstständig das Dreirad fährt, etwa von der Mutter auf deren Fahrrad begleitet. Insofern befinde sie sich noch in einer Lernphase. Ziel sei es, dass die Klägerin immer neuere längere Strecken selbstständig bewältige, um zu anderen weiter entfernt wohnenden Freunden fahren zu können. Nach den überzeugenden Darlegungen der Eltern, an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hatte, ist es aber heute schon so, dass sich die Klägerin allein in Begleitung ihrer Geschwister – der Zwillingsbruder ist 13 Jahre, die Schwester 11 Jahre – selbstständig ohne Begleitung von Erwachsenen in verkehrsberuhigten Zonen bewegen und zu Freunden fahren kann. Früher – so die Eltern – sei es so gewesen, dass, wenn die Geschwister nach draußen mit dem Fahrrad fahren wollten, die Klägerin habe zuhause bleiben müssen. Dies sei jetzt nicht mehr so. Wenn aber die Klägerin inzwischen völlig ohne Begleitung von Erwachsenen, allein in Begleitung ihrer gleichaltrigen bzw. jüngeren Geschwister mit dem Dreirad fahren und sich mit Freunden treffen kann, wird gerade damit ihrer Integration in der Gruppe Gleichaltriger Rechnung getragen und dieses Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen befriedigt. Dies begründet ihren Anspruch auf das Hilfsmittel zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung.
3. Die Kosten des selbstbeschafften Therapie-Dreirades überschreiten auch nicht das übliche Maß und stehen nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) entgegen. Im Rahmen des Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V sind die durch die Selbstbeschaffung entstandenen Kosten grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu erstatten; dies wären 4.800,00 EUR gewesen, die die Klägerin für die Rückzahlung des Darlehens des "Verein schwerkrankes Kind" e.V. zur Beschaffung des Hilfsmittels aufzubringen hat. Der Kostenvoranschlag der Firma Michels vom 03.07.2014 beziffert die Kosten für das Hilfsmittel mit 4.603,00 EUR. Im Hinblick auf den Umstand, dass im Rahmen des hier geltend gemachten Hilfsmittelanspruchs ein Betrag abzusetzen war, zu dem ein handelsübliches Fahrrad angeschafft werden können (vgl. BSG, Urteil vom 13.05.1998 – B 8 KN 13/97 R), hat die Klägerin die Kostenerstattungsforderung auf 4.300,00 EUR begrenzt. Mit dieser Reduzierung um 500,00 EUR gegenüber dem tatsächlichen Selbstbeschaffungspreis und 300,00 EUR gegenüber dem Kostenvoranschlag ist dem abzusetzenden Eigenanteil ausreichend Rechnung getragen, da für derartige Beträge ein handelsübliches Fahrrad erworben werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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