Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KR 331/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2014 verurteilt, den Kläger mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock für das rechte Bein zu versorgen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist ausgebildeter Informatiker. Er ist im Zivilberuf bei der Bundeswehr beschäftigt. Aufgrund einer im Alter von neun Jahren im ersten Golfkrieg im Irak erlittenen Kriegsverletzung verlor er sein rechtes Bein. Bis 2004 war er mit konventionellen Prothesen versorgt. Der Kläger ist verheiratet und hat minderjährige Kinder im Alter von drei und sieben Jahren; er bewohnt eine Mietwohnung im dritten Obergeschoss und muss im Bereich des Wohnumfeldes Treppen überwinden.
Am 18.01.2010 verordnete der Chirurg Dr. I. eine Prothese des Typs C-leg der Firma Otto Bock für den rechten Oberschenkel. Die Beklagte lehnte den Versorgungsantrag nach Einholung fachlicher Stellungnahmen des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durch Bescheid vom 07.05.2010 und Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 ab. Im anschließenden Klageverfahren (Sozialgericht Frankfurt a.M. – S 25 KR 4/11) bewertete der beauftragte orthopädische Sachverständige im Gutachten vom 18.02.2012 die Versorgung mit einer C-leg-Prothese gegenüber einer herkömmlichen Prothesenversorgung positiv. Daraufhin erkannte die Beklagte den Versorgungsanspruch an und übernahm die Kosten für eine C-leg-Versorgung in Höhe von 26.246,23 EUR.
Nach seinen Fähigkeiten und Aktivitäten und seinem Potenzial wird der Kläger nach eigenen Einschätzung, der seiner behandelnden Ärzte und des MDK sowie der Gutachter und Orthopädietechniker den Mobilitätsgraden III (uneingeschränkter Außenbereichsgeher) bis IV (uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit besonderes hohen Ansprüchen) zugeordnet.
Am 31.05.2013 verordnete der behandelnde Orthopäde Dr. O. einen 2-Wochen-Test für ein "Genium Knie rechts". Die Firma Rahm Orthopädie GmbH legte für die Erprobung eines Genium-Kniegelenks der Firma Otto Bock einen Kostenvoranschlag von 2.527,25 EUR vor. Nach Einholung einer Einschätzung des verordneten Orthopäden und des Klägers sowie befürwortender Stellungnahmen des MDK vom 11. und 22.10.2013 bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 30.10.2013 die Kosten für eine Probeversorgung mit einem Genium-Kniegelenk. Nach einer mehrwöchigen Testphase stellte sich der Kläger am 11.12.2013 mit der getesteten Prothese beim MDK zur Begutachtung vor. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom selben Tag zum Ergebnis, das Gangbild zu ebener Erde sei nicht entscheidend anders als bei der Untersuchung am 18.10.2013; allerdings könne der Kläger mit dem neuen Modularbauteil rückwärts im Wechselschritt gehen, während er mit dem C-leg nur zum Beistellschritt in der Lage gewesen sei; auch gehe er über Treppen abwärts deutlich flüssiger. Aufwärts bewege er sich weiterhin im Beistellschritt. Insgesamt – so der MDK – seien Gebrauchsvorteile des Genium-Knie gegenüber dem C-leg erkennbar, ihr Ausmaß sei jedoch "vergleichsweise gering".
Am 21.03.2014 verordnete der Orthopäde Dr. O. dem Kläger ein Genium-Kniegelenk rechts. In einem Kostenvoranschlag vom 11.04.2014 bezifferte die Firma Rahm die Kosten für eine Versorgung mit dem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock unter Einbeziehung eines Rückkaufangebotes für das C-leg-Gelenksystem auf 30.431,51 EUR.
Durch Bescheid vom 22.04.2014 lehnte die Beklagte die beantragte Neuversorgung ab. Sie nahm auf die Stellungnahme des MDK Bezug, wonach Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg-Kniegelenk erkennbar seien, und behauptete, der MDK habe das Ausmaß der Gebrauchsvorteile als "vergleichsweise sehr gering" beurteilt. Zu berücksichtigen sei, dass der Kläger bereits im August 2012 mit einem C-leg für ca. 26.000,00 EUR versorgt worden sei; eine weitergehende Versorgung würde die Wirtschaftlichkeit und das Maß des Notwendigen überschreiten.
Dagegen erhob der Kläger am 05.04.2014 Widerspruch. Er wies daraufhin, dass es sich bei der Versorgung mit Prothesen um einen unmittelbaren Behinderungsausgleich handele; dieser beinhalte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einen möglichst weitgehenden Ausgleich des Funktionsdefizites. Eine Kosten-Nutzen-Erwägung sei nicht anzustellen. Der Kläger beschrieb umfassend die Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg-Gelenk. Ein günstigeres Hilfsmittel, das die Behinderung in gleicher Weise zum Ausgleich bringe, sei am Markt nicht erhältlich.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20.11.2014 zurück. Erneut nahm sie Bezug auf die letzte Stellungnahme des MDK und behauptete wiederum, dieser habe das Ausmaß der Gebrauchsvorteile des Genium-Knies gegenüber dem C-leg als "vergleichsweise sehr gering" bezeichnet.
Dagegen hat der Kläger am 16.12.2014 Klage erhoben. Er hat seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vertieft und ergänzt. Er hat zahlreiche sozialgerichtliche Entscheidungen angeführt, durch die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung eine Genium-Kniegelenksprothese zugesprochen worden ist. Der Kläger hat die Vorteile, die das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg für ihn konkret aufweist, beschrieben: &61485; auf Schrägen prothesenseitig zu stehen, &61485; Rückwärtsschritte zu machen, &61485; prothesenseitig auf Bordsteinkanten oder andere Erhöhungen zu treten, &61485; im Wechselschritt eine Treppe zu steigen, &61485; Hindernisse zu übersteigen, &61485; Schritte mit einer Kniebeugung zu machen, die dem natürlichen Gangbild näher kommt (so genanntes Yielding), insbesondere beim Treppabgehen und beim Laufen von Schrägen; Yielding bedeutet bei Fersenauftritt im Kniegelenk gesichert einsenken zu können.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2014 zu verurteilen, ihn mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock für das rechte Bein zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie weist daraufhin, dass der Kläger 2012 mit einem hochwertigen Hilfsmittel ausgestattet worden ist und die technische Weiterentwicklung der Gelenkseinheiten bei jedem Modellwechsel vorhanden sein wird. Die Beklagte meint, dass dies nicht allein schon zur ständigen Anpassung an technischen Fortschritt berechtige. Sie behauptet, auch für das C-leg gäbe es mittlerweile die vierte Generation, die dem technischen Fortschritt weiter angepasst worden sei; das neue C-leg komme in seinen Funktionen und Eigenschaften dem Genium-Kniegelenk immer näher. Das BSG habe zu den C-leg-Prothesen mit mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk entschieden, dass diese gegenüber mechanischen Prothesen "wesentliche Gebrauchsvorteile" aufwiesen und daher von den Krankenkassen bezahlt werden müssten. Die Krankenkasse müsse dann nicht zahlen, wenn die Prothese keine deutlichen Gebrauchsvorteile aufweise und diese lediglich aus Bequemlichkeits- und Komfortgründen gewünscht werde. Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes könne die Versorgung mit dem Genium-Kniegelenk nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft erbracht werden.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zu den Unterschieden zwischen C-leg und Genium-Kniegelenk, etwaigen Gebrauchsvorteilen des Genium-Gelenksystems gegenüber dem C-leg und deren Nutzbarkeit durch den Kläger ein Sachverständigengutachten von dem Chefarzt der Klinik Münsterland der LVA Westfalen, Prof. Dr. H., eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 06.08.2015 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Versorgung mit einer Genium-Prothese der Firma Otto Bock für das rechte Bein.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V umfasst der Anspruch auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (Wirtschaftlichkeitsgebot; vgl. § 2 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 SGB V).
Die Leistungsablehnung ist rechtswidrig, wenn die Genium-Prothese zum Behinderungsausgleich erforderlich und individuell geeignet ist. Zur Bedeutung dieses in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V als dritter Variante genannten Zwecks eines von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Hilfsmittels hat das BSG im Urteil vom 25.06.2009 (B 3 KR 19/08 R) folgendes ausgeführt: a) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8, jeweils RdNr. 4 – C-leg-Prothese). Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen. b) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7; BSGE 91, 60, 63 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 3; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14; stRspr). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 und 46; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 11 RdNr. 18). Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (zB Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden (vgl. BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7 - Erreichbarkeit ambulanter medizinischer Versorgung für Wachkomapatientin; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 - Rollstuhl-Bike für Jugendliche; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 - behindertengerechtes Dreirad; BSG SozR 2200 § 182b Nr.13 - Faltrollstuhl). c) Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26 S 153; stRspr) ; andernfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V (ebenso § 31 Abs. 3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44; BSGE 93, 183, 188 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8).
Beinprothesen sind Körperersatzstücke gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Sie dienen dem unmittelbaren Ersatz des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallener Funktion. Sie sind auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet und dienen der medizinischen Rehabilitation, ohne dass zusätzlich die Erfüllung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens zu prüfen ist, wie es bei Hilfsmitteln erforderlich wäre, die nur die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen sollen. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nichtbehinderten Menschen durch die Funktion der Beine gewährleistet ist. Diese Funktion muss in möglichst weitgehender Weise ausgeglichen werden (BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 3 KR 19/08 R).
Mit der im Jahre 2013 erfolgten Neuversorgung des Klägers mit einer C-leg-Prothese der Firma Otto Bock wird aber heute dem Anspruch des Klägers auf den erforderlichen und nach dem Stand der Medizintechnik möglichen Behinderungsausgleich (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) nicht mehr Rechnung getragen. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht ist im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend. Der Beklagten ist zuzugeben, dass das begehrte Hilfsmittel gegenüber der bisherigen Versorgung deutliche Gebrauchsvorteile aufweisen muss. Der Gebrauchsvorteil hängt nicht zuletzt auch maßgebend von den körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Prothesenträgers und seiner persönlichen Lebensgestaltung ab. Nicht jeder Betroffene ist in der Lage, die Gebrauchsvorteile eines Hilfsmittels zu nutzen, insbesondere, wenn es sich – wie hier – um eine Hightech-Prothese handelt; dann fehlt es an der Erforderlichkeit dieses speziellen Hilfsmittels. Die Versorgung mit einer solchen Prothese kann nur derjenige beanspruchen, der nach ärztlicher Einschätzung im Alltagsleben dadurch deutliche Gebrauchsvorteile hat (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 68/01 R – für eine C-leg-Prothese).
Die Kammer ist aufgrund aller ihr bekannt gewordenen Daten über das Genium-Gelenksystem und das C-leg, über die individuellen Lebensverhältnisse des Klägers und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, insbesondere auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. H. vom 06.08.2015, davon überzeugt, dass das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg deutliche Gebrauchsvorteile aufweist und der Kläger in der Lage ist, diese zu nutzen. Der Sachverständige hat unter Auswertung inzwischen vorliegender wissenschaftlicher Untersuchungen zunächst die Gebrauchsvorteile eines C-leg gegenüber herkömmlichen mechanischen Prothesen beschrieben. Er hat sodann in Bezug auf das Genium-Gelenksystem dargelegt, dass die Weiterentwicklungen der Gelenkseinheiten dadurch geprägt sind, die natürliche Kniefunktion möglichst vollständig dem natürlichen Vorbild nachbilden zu können. Biomechanisch funktionelle Ziele seien dabei insbesondere ein vorgebeugtes Kniegelenk bei Fersenkontakt, das heißt beim Auftritt, da dies dem natürlichen Gehen entspreche (auch ein nicht-amputierter trete mit leichter Kniebeugung auf). Weitere funktionelle Ziele seien eine kontrollierte Standphasenbeugung (diese sei beim Genium mit höherem Beugewinkel und damit physiologischer möglich als mit dem C-leg), eine belastungsunabhängige Einleitung der Schwungphasen mit natürlichen Schwungphasenbewegungen und intuitiven Übergängen zwischen den Aktivitäten Gehen, Sitzen und Stehen. Unterstützend könne ein Gelenk ermöglichen, Stufen heraufzugehen. Mit dem Genium-Kniegelenk sei versucht worden, dies derzeit weitestmöglich zu simulieren. Auch beim Genium-Kniegelenk handele es sich um ein monozentrisches Kniegelenk mit einer Hydraulik, die elektronisch gesteuert werde. Das Gelenk habe sieben Sensoren; die Messergebnisse würden mit einer Frequenz von 100 Hertz (deutlich mehr als beim C-leg mit 50 Hertz) eingebracht (vgl. Sachverständigengutachten, Seite 14). Der Sachverständige hat sodann als wesentliche Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg aufgelistet: &61485; Möglichkeit des alternierenden Treppaufgehens, &61485; Möglichkeit, mit der Prothese auf Bodenerhebungen zu treten, beispielsweise Bordsteinkanten, &61485; sicheres Stehen auch mit leicht gebeugtem Gelenk, &61485; sicheres Treppabgehen sowie Bewältigen von Schrägen, &61485; Möglichkeit, Hindernisse zu übersteigen, &61485; Möglichkeit, Rückwärtsschritte zu machen, &61485; längeres bequemes Stehen mit leicht gebeugtem Kniegelenk auch auf Schrägen und unebenem Grund, &61485; belastungsunabhängiges Auslösen der Schwungphase und physiologischeres Gangbild. Im konkreten Lebensalltag des Klägers – so der Sachverständige – weise das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg folgende, besonders ins Gewicht fallende Gebrauchsvorteile auf: 1. bequemeres Sitzen durch frei herunterhängendes Bein bei frei pendelnder Knieeinheit (Autofahren, Sitzen am PC), 2. Möglichkeiten des Rückwärtsgehens (Lehrtätigkeit) 3. leichteres physiologischeres Gehen (allgemein), 4. besseres Ausweichen von Hindernissen, insbesondere in engen Räumlichkeiten (Programmierertätigkeit), 5. gegebenenfalls Treppen steigen (im heimischen Bereich). Abschließend hat der Sachverständige festgestellt, dass der Kläger nicht nur in intellektuell und auch körperlich in der Lage ist, sich auf das Genium-Kniegelenkt umzustellen, sondern auch, die Gebrauchsvorteile einer Genium-Kniegelenkseinheit gegenüber einer C-leg-Einheit konkret zu nutzen. Auch der MDK und die Beklagte haben erkannt, dass das Genium-Gelenk gegenüber dem C-leg Gebrauchsvorteile aufweist; dass deren Ausmaß jedoch nur "gering" (so der MDK) oder sogar nur "sehr gering" (so die Beklagte, den MDK falsch zitierend,) sein soll, wird durch die ausführlichen und überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. widerlegt. Der Sachverständige ist Leiter einer orthopädisch-traumatologisch ausgerichteten Rehabilitationsklinik; die Klinik gilt national und international als ein Kompetenzzentrum für die Nachbehandlung von amputierten Patienten. Der Leiter der Klinik, Prof. Dr. Greitemann, ist Experte auf diesem Sektor und Leiter der Sektion technische Orthopädie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Als solcher verfügt er über den erforderlichen Sachverstand und die notwendige Erfahrung, die Gebrauchsvorteile verschiedener hochtechnisierter Gelenksysteme, hier das Genium-Gelenksystem und des C-leg der Firma Otto Bock, zu beurteilen und ihre Nutzbarkeit für den Kläger feststellen zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock.
Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist ausgebildeter Informatiker. Er ist im Zivilberuf bei der Bundeswehr beschäftigt. Aufgrund einer im Alter von neun Jahren im ersten Golfkrieg im Irak erlittenen Kriegsverletzung verlor er sein rechtes Bein. Bis 2004 war er mit konventionellen Prothesen versorgt. Der Kläger ist verheiratet und hat minderjährige Kinder im Alter von drei und sieben Jahren; er bewohnt eine Mietwohnung im dritten Obergeschoss und muss im Bereich des Wohnumfeldes Treppen überwinden.
Am 18.01.2010 verordnete der Chirurg Dr. I. eine Prothese des Typs C-leg der Firma Otto Bock für den rechten Oberschenkel. Die Beklagte lehnte den Versorgungsantrag nach Einholung fachlicher Stellungnahmen des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durch Bescheid vom 07.05.2010 und Widerspruchsbescheid vom 10.12.2010 ab. Im anschließenden Klageverfahren (Sozialgericht Frankfurt a.M. – S 25 KR 4/11) bewertete der beauftragte orthopädische Sachverständige im Gutachten vom 18.02.2012 die Versorgung mit einer C-leg-Prothese gegenüber einer herkömmlichen Prothesenversorgung positiv. Daraufhin erkannte die Beklagte den Versorgungsanspruch an und übernahm die Kosten für eine C-leg-Versorgung in Höhe von 26.246,23 EUR.
Nach seinen Fähigkeiten und Aktivitäten und seinem Potenzial wird der Kläger nach eigenen Einschätzung, der seiner behandelnden Ärzte und des MDK sowie der Gutachter und Orthopädietechniker den Mobilitätsgraden III (uneingeschränkter Außenbereichsgeher) bis IV (uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit besonderes hohen Ansprüchen) zugeordnet.
Am 31.05.2013 verordnete der behandelnde Orthopäde Dr. O. einen 2-Wochen-Test für ein "Genium Knie rechts". Die Firma Rahm Orthopädie GmbH legte für die Erprobung eines Genium-Kniegelenks der Firma Otto Bock einen Kostenvoranschlag von 2.527,25 EUR vor. Nach Einholung einer Einschätzung des verordneten Orthopäden und des Klägers sowie befürwortender Stellungnahmen des MDK vom 11. und 22.10.2013 bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 30.10.2013 die Kosten für eine Probeversorgung mit einem Genium-Kniegelenk. Nach einer mehrwöchigen Testphase stellte sich der Kläger am 11.12.2013 mit der getesteten Prothese beim MDK zur Begutachtung vor. Dieser kam in seiner Stellungnahme vom selben Tag zum Ergebnis, das Gangbild zu ebener Erde sei nicht entscheidend anders als bei der Untersuchung am 18.10.2013; allerdings könne der Kläger mit dem neuen Modularbauteil rückwärts im Wechselschritt gehen, während er mit dem C-leg nur zum Beistellschritt in der Lage gewesen sei; auch gehe er über Treppen abwärts deutlich flüssiger. Aufwärts bewege er sich weiterhin im Beistellschritt. Insgesamt – so der MDK – seien Gebrauchsvorteile des Genium-Knie gegenüber dem C-leg erkennbar, ihr Ausmaß sei jedoch "vergleichsweise gering".
Am 21.03.2014 verordnete der Orthopäde Dr. O. dem Kläger ein Genium-Kniegelenk rechts. In einem Kostenvoranschlag vom 11.04.2014 bezifferte die Firma Rahm die Kosten für eine Versorgung mit dem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock unter Einbeziehung eines Rückkaufangebotes für das C-leg-Gelenksystem auf 30.431,51 EUR.
Durch Bescheid vom 22.04.2014 lehnte die Beklagte die beantragte Neuversorgung ab. Sie nahm auf die Stellungnahme des MDK Bezug, wonach Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg-Kniegelenk erkennbar seien, und behauptete, der MDK habe das Ausmaß der Gebrauchsvorteile als "vergleichsweise sehr gering" beurteilt. Zu berücksichtigen sei, dass der Kläger bereits im August 2012 mit einem C-leg für ca. 26.000,00 EUR versorgt worden sei; eine weitergehende Versorgung würde die Wirtschaftlichkeit und das Maß des Notwendigen überschreiten.
Dagegen erhob der Kläger am 05.04.2014 Widerspruch. Er wies daraufhin, dass es sich bei der Versorgung mit Prothesen um einen unmittelbaren Behinderungsausgleich handele; dieser beinhalte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einen möglichst weitgehenden Ausgleich des Funktionsdefizites. Eine Kosten-Nutzen-Erwägung sei nicht anzustellen. Der Kläger beschrieb umfassend die Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg-Gelenk. Ein günstigeres Hilfsmittel, das die Behinderung in gleicher Weise zum Ausgleich bringe, sei am Markt nicht erhältlich.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 20.11.2014 zurück. Erneut nahm sie Bezug auf die letzte Stellungnahme des MDK und behauptete wiederum, dieser habe das Ausmaß der Gebrauchsvorteile des Genium-Knies gegenüber dem C-leg als "vergleichsweise sehr gering" bezeichnet.
Dagegen hat der Kläger am 16.12.2014 Klage erhoben. Er hat seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vertieft und ergänzt. Er hat zahlreiche sozialgerichtliche Entscheidungen angeführt, durch die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung eine Genium-Kniegelenksprothese zugesprochen worden ist. Der Kläger hat die Vorteile, die das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg für ihn konkret aufweist, beschrieben: &61485; auf Schrägen prothesenseitig zu stehen, &61485; Rückwärtsschritte zu machen, &61485; prothesenseitig auf Bordsteinkanten oder andere Erhöhungen zu treten, &61485; im Wechselschritt eine Treppe zu steigen, &61485; Hindernisse zu übersteigen, &61485; Schritte mit einer Kniebeugung zu machen, die dem natürlichen Gangbild näher kommt (so genanntes Yielding), insbesondere beim Treppabgehen und beim Laufen von Schrägen; Yielding bedeutet bei Fersenauftritt im Kniegelenk gesichert einsenken zu können.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.04.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2014 zu verurteilen, ihn mit einem Genium-Gelenksystem der Firma Otto Bock für das rechte Bein zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie weist daraufhin, dass der Kläger 2012 mit einem hochwertigen Hilfsmittel ausgestattet worden ist und die technische Weiterentwicklung der Gelenkseinheiten bei jedem Modellwechsel vorhanden sein wird. Die Beklagte meint, dass dies nicht allein schon zur ständigen Anpassung an technischen Fortschritt berechtige. Sie behauptet, auch für das C-leg gäbe es mittlerweile die vierte Generation, die dem technischen Fortschritt weiter angepasst worden sei; das neue C-leg komme in seinen Funktionen und Eigenschaften dem Genium-Kniegelenk immer näher. Das BSG habe zu den C-leg-Prothesen mit mikroprozessorgesteuerten Kniegelenk entschieden, dass diese gegenüber mechanischen Prothesen "wesentliche Gebrauchsvorteile" aufwiesen und daher von den Krankenkassen bezahlt werden müssten. Die Krankenkasse müsse dann nicht zahlen, wenn die Prothese keine deutlichen Gebrauchsvorteile aufweise und diese lediglich aus Bequemlichkeits- und Komfortgründen gewünscht werde. Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes könne die Versorgung mit dem Genium-Kniegelenk nicht zu Lasten der Solidargemeinschaft erbracht werden.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere zu den Unterschieden zwischen C-leg und Genium-Kniegelenk, etwaigen Gebrauchsvorteilen des Genium-Gelenksystems gegenüber dem C-leg und deren Nutzbarkeit durch den Kläger ein Sachverständigengutachten von dem Chefarzt der Klinik Münsterland der LVA Westfalen, Prof. Dr. H., eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 06.08.2015 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Er hat Anspruch auf Versorgung mit einer Genium-Prothese der Firma Otto Bock für das rechte Bein.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Nach § 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V umfasst der Anspruch auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und, soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (Wirtschaftlichkeitsgebot; vgl. § 2 Abs. 4 und § 12 Abs. 1 SGB V).
Die Leistungsablehnung ist rechtswidrig, wenn die Genium-Prothese zum Behinderungsausgleich erforderlich und individuell geeignet ist. Zur Bedeutung dieses in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V als dritter Variante genannten Zwecks eines von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Hilfsmittels hat das BSG im Urteil vom 25.06.2009 (B 3 KR 19/08 R) folgendes ausgeführt: a) Im Vordergrund steht der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist (BSGE 93, 183 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8, jeweils RdNr. 4 – C-leg-Prothese). Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen. b) Daneben können Hilfsmittel den Zweck haben, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Denn Aufgabe der GKV ist in allen Fällen allein die medizinische Rehabilitation (vgl. § 1 SGB V sowie § 6 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 Nr. 1 und 3 SGB IX), also die möglichst weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7; BSGE 91, 60, 63 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 3; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14; stRspr). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehört u.a. die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 und 46; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 11 RdNr. 18). Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (zB Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs. Soweit überhaupt die Frage eines größeren Radius über das zu Fuß Erreichbare hinaus aufgeworfen worden ist, sind schon immer zusätzliche qualitative Momente verlangt worden (vgl. BSGE 93, 176, 180 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7 - Erreichbarkeit ambulanter medizinischer Versorgung für Wachkomapatientin; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27 - Rollstuhl-Bike für Jugendliche; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 - behindertengerechtes Dreirad; BSG SozR 2200 § 182b Nr.13 - Faltrollstuhl). c) Dem Gegenstand nach besteht für den unmittelbaren ebenso wie für den mittelbaren Behinderungsausgleich Anspruch auf die im Einzelfall ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Hilfsmittelversorgung, nicht jedoch auf eine Optimalversorgung. Deshalb besteht kein Anspruch auf ein teureres Hilfsmittel, soweit die kostengünstigere Versorgung für den angestrebten Nachteilsausgleich funktionell in gleicher Weise geeignet ist (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 26 S 153; stRspr) ; andernfalls sind die Mehrkosten gemäß § 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V (ebenso § 31 Abs. 3 SGB IX) von dem Versicherten selbst zu tragen. Demgemäß haben die Krankenkassen nicht für solche "Innovationen" aufzukommen, die keine wesentlichen Gebrauchsvorteile für den Versicherten bewirken, sondern sich auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 44; BSGE 93, 183, 188 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 8).
Beinprothesen sind Körperersatzstücke gem. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Sie dienen dem unmittelbaren Ersatz des fehlenden Körperteils und dessen ausgefallener Funktion. Sie sind auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet und dienen der medizinischen Rehabilitation, ohne dass zusätzlich die Erfüllung eines allgemeinen Grundbedürfnisses des täglichen Lebens zu prüfen ist, wie es bei Hilfsmitteln erforderlich wäre, die nur die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen sollen. Bei einer Beinprothese geht es um das Grundbedürfnis auf möglichst sicheres, gefahrloses Gehen und Stehen, wie es bei nichtbehinderten Menschen durch die Funktion der Beine gewährleistet ist. Diese Funktion muss in möglichst weitgehender Weise ausgeglichen werden (BSG, Urteil vom 25.06.2009 – B 3 KR 19/08 R).
Mit der im Jahre 2013 erfolgten Neuversorgung des Klägers mit einer C-leg-Prothese der Firma Otto Bock wird aber heute dem Anspruch des Klägers auf den erforderlichen und nach dem Stand der Medizintechnik möglichen Behinderungsausgleich (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) nicht mehr Rechnung getragen. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht ist im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend. Der Beklagten ist zuzugeben, dass das begehrte Hilfsmittel gegenüber der bisherigen Versorgung deutliche Gebrauchsvorteile aufweisen muss. Der Gebrauchsvorteil hängt nicht zuletzt auch maßgebend von den körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Prothesenträgers und seiner persönlichen Lebensgestaltung ab. Nicht jeder Betroffene ist in der Lage, die Gebrauchsvorteile eines Hilfsmittels zu nutzen, insbesondere, wenn es sich – wie hier – um eine Hightech-Prothese handelt; dann fehlt es an der Erforderlichkeit dieses speziellen Hilfsmittels. Die Versorgung mit einer solchen Prothese kann nur derjenige beanspruchen, der nach ärztlicher Einschätzung im Alltagsleben dadurch deutliche Gebrauchsvorteile hat (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 68/01 R – für eine C-leg-Prothese).
Die Kammer ist aufgrund aller ihr bekannt gewordenen Daten über das Genium-Gelenksystem und das C-leg, über die individuellen Lebensverhältnisse des Klägers und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten, insbesondere auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. H. vom 06.08.2015, davon überzeugt, dass das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg deutliche Gebrauchsvorteile aufweist und der Kläger in der Lage ist, diese zu nutzen. Der Sachverständige hat unter Auswertung inzwischen vorliegender wissenschaftlicher Untersuchungen zunächst die Gebrauchsvorteile eines C-leg gegenüber herkömmlichen mechanischen Prothesen beschrieben. Er hat sodann in Bezug auf das Genium-Gelenksystem dargelegt, dass die Weiterentwicklungen der Gelenkseinheiten dadurch geprägt sind, die natürliche Kniefunktion möglichst vollständig dem natürlichen Vorbild nachbilden zu können. Biomechanisch funktionelle Ziele seien dabei insbesondere ein vorgebeugtes Kniegelenk bei Fersenkontakt, das heißt beim Auftritt, da dies dem natürlichen Gehen entspreche (auch ein nicht-amputierter trete mit leichter Kniebeugung auf). Weitere funktionelle Ziele seien eine kontrollierte Standphasenbeugung (diese sei beim Genium mit höherem Beugewinkel und damit physiologischer möglich als mit dem C-leg), eine belastungsunabhängige Einleitung der Schwungphasen mit natürlichen Schwungphasenbewegungen und intuitiven Übergängen zwischen den Aktivitäten Gehen, Sitzen und Stehen. Unterstützend könne ein Gelenk ermöglichen, Stufen heraufzugehen. Mit dem Genium-Kniegelenk sei versucht worden, dies derzeit weitestmöglich zu simulieren. Auch beim Genium-Kniegelenk handele es sich um ein monozentrisches Kniegelenk mit einer Hydraulik, die elektronisch gesteuert werde. Das Gelenk habe sieben Sensoren; die Messergebnisse würden mit einer Frequenz von 100 Hertz (deutlich mehr als beim C-leg mit 50 Hertz) eingebracht (vgl. Sachverständigengutachten, Seite 14). Der Sachverständige hat sodann als wesentliche Gebrauchsvorteile des Genium- gegenüber dem C-leg aufgelistet: &61485; Möglichkeit des alternierenden Treppaufgehens, &61485; Möglichkeit, mit der Prothese auf Bodenerhebungen zu treten, beispielsweise Bordsteinkanten, &61485; sicheres Stehen auch mit leicht gebeugtem Gelenk, &61485; sicheres Treppabgehen sowie Bewältigen von Schrägen, &61485; Möglichkeit, Hindernisse zu übersteigen, &61485; Möglichkeit, Rückwärtsschritte zu machen, &61485; längeres bequemes Stehen mit leicht gebeugtem Kniegelenk auch auf Schrägen und unebenem Grund, &61485; belastungsunabhängiges Auslösen der Schwungphase und physiologischeres Gangbild. Im konkreten Lebensalltag des Klägers – so der Sachverständige – weise das Genium-Gelenksystem gegenüber dem C-leg folgende, besonders ins Gewicht fallende Gebrauchsvorteile auf: 1. bequemeres Sitzen durch frei herunterhängendes Bein bei frei pendelnder Knieeinheit (Autofahren, Sitzen am PC), 2. Möglichkeiten des Rückwärtsgehens (Lehrtätigkeit) 3. leichteres physiologischeres Gehen (allgemein), 4. besseres Ausweichen von Hindernissen, insbesondere in engen Räumlichkeiten (Programmierertätigkeit), 5. gegebenenfalls Treppen steigen (im heimischen Bereich). Abschließend hat der Sachverständige festgestellt, dass der Kläger nicht nur in intellektuell und auch körperlich in der Lage ist, sich auf das Genium-Kniegelenkt umzustellen, sondern auch, die Gebrauchsvorteile einer Genium-Kniegelenkseinheit gegenüber einer C-leg-Einheit konkret zu nutzen. Auch der MDK und die Beklagte haben erkannt, dass das Genium-Gelenk gegenüber dem C-leg Gebrauchsvorteile aufweist; dass deren Ausmaß jedoch nur "gering" (so der MDK) oder sogar nur "sehr gering" (so die Beklagte, den MDK falsch zitierend,) sein soll, wird durch die ausführlichen und überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. H. widerlegt. Der Sachverständige ist Leiter einer orthopädisch-traumatologisch ausgerichteten Rehabilitationsklinik; die Klinik gilt national und international als ein Kompetenzzentrum für die Nachbehandlung von amputierten Patienten. Der Leiter der Klinik, Prof. Dr. Greitemann, ist Experte auf diesem Sektor und Leiter der Sektion technische Orthopädie der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Als solcher verfügt er über den erforderlichen Sachverstand und die notwendige Erfahrung, die Gebrauchsvorteile verschiedener hochtechnisierter Gelenksysteme, hier das Genium-Gelenksystem und des C-leg der Firma Otto Bock, zu beurteilen und ihre Nutzbarkeit für den Kläger feststellen zu können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
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