S 48 SO 331/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
48
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 48 SO 331/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 381/15
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird in Abänderung des Bescheides vom 06.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2011 dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger ab April 2011 Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII in Gestalt einer Pflegebeihilfe i.H.v. 60 % des jeweils geltenden Pflegegeldes der Pflegestufe I zu bewilligen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen notwendigen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) für den Zeitraum ab dem 01.04.2011.

Der am 12.11.19xx geborene Kläger bewohnt eine Wohnung in der Z.-straße in E. und bezieht seit Jahren Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII von der Beklagten. Er ist schwerbehindert bei einem Grad der Behinderung (GdB) von 100. Weiterhin sind die Merkzeichen "G", "aG" sowie "B" zuerkannt.

Mit E-Mail vom 31.08.2009 beantragte der Kläger Pflegegeld bei der Beklagten. Eine hierauf durch das Gesundheitsamt erfolgte Untersuchung des Klägers ergab, dass ein Zeitaufwand für die Grundpflege i.H.v. 33 Minuten pro Tag bestand. Mit Schreiben vom 11.12.2009 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass der Zeitbedarf an Grundpflege für die Gewährung eines Pflegegeldes nach der Pflegestufe I nicht ausreiche, jedoch bei der Pflegestufe 0 die Möglichkeit einer weitergehenden Leistungsgewährung bestehe. Soweit die Leistungen durch eine nicht anerkannte Pflegekraft erfolgen sollten, betrage die Vergütung einschließlich Fahrtkosten 8,20 EUR pro Stunde. Bei einem Pflegebedarf von täglich 33 Minuten ergebe das einen Betrag in Höhe von monatlich 135,30 EUR. Für die Gewährung dieser Hilfe sei eine Bescheinigung der Pflegeperson, die die Tätigkeiten ausführe, erforderlich. Ebenfalls sei eine Anmeldung bei der Minijobzentrale nötig.

In der Folge teilte der Kläger der Beklagten mit Schreiben vom 08.02.2010 mit, dass der Zeuge B. die Pflege des Klägers übernehme. Hierauf bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 16.02.2010 Leistungen für eine nicht anerkannte Pflegekraft i.H.v. 135,30 EUR monatlich ab dem 01.09.2009 sowie einen Betrag i.H.v. 64,16 EUR monatlich für eine Haushalshilfe.

Mit E-Mail vom 15.11.2010 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass er mit dem Zeugen B., wohnhaft in der D.-Straße in E., am 12.11.2010 eine Lebenspartnerschaft angemeldet habe, sich dadurch jedoch nichts ändere, da beide nicht zusammen ziehen würden, sondern jeder in seiner Wohnung wohnen bliebe.

Mit Schreiben vom 19.11.2010 nahm die Beklagte Bezug auf die Mitteilung des Klägers, dass er mit dem Zeugen B. eine Lebenspartnerschaft führe, und teilte mit, dass die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege zum 30.11.2010 entfalle, da der Lebenspartner des Klägers im Rahmen der gegenseitigen Beistandspflichten nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) dazu verpflichtet sei, die Hilfe kostenfrei zu erbringen.

Hierauf teilte der Kläger mit E-Mail vom 23.11.2010 mit, dass der Zeuge B. seit August 2010 aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sei, die Pflege des Klägers durchzuführen. In der Folgezeit reichte der Kläger eine Bestätigung der Frau H. D. ein, wonach diese die Pflege und die Haushaltshilfe des Klägers ab dem 01.12.2010 durchführe. Die Beklagte gewährte der Folgezeit jedoch weiterhin Leistungen der Hilfe zur Pflege. So wurden mit Bescheid vom 06.01.2011 Kosten für eine Haushaltshilfe übernommen. In dem Bescheid wird ausgeführt:

"Dieser Bescheid regelt das Leistungsverhältnis nur für den vorgenannten Bewilligungszeitraum. Ergibt sich in den wesentlichen Verhältnissen keine Veränderung, bleibt vorbehalten, die Leistungen für nachfolgende Zeiträume stillschweigend durch Überweisung des zu zahlenden Betrages zu bewilligen. In einem solchen Fall können Sie davon ausgehen, dass die Begründung sowie die Berechnung und Festsetzung der Einzelansprüche denen des vorliegenden Bescheides entsprechen. Sofern nicht ausdrücklich abweichend geregelt, gilt als Bewilligungszeitraum der Kalendermonat, für den die Leistung erbracht wird."

Mit Bescheid vom 06.04.2011 lehnte die Beklagte Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.04.2011 ab. Zur Begründung führte sie an, dass eine Vergütung bei Verwandten des ersten Grades regelmäßig nicht in Betracht komme. Der Kläger habe angegeben, dass sein Lebenspartner aufgrund seiner Erkrankung die Hilfe nicht mehr leisten könne. Aus einem von dem Kläger eingereichten Entlassungsbericht der Ruhrlandklinik habe sich ergeben, dass es sich bei der Erkrankung um eine Lungenentzündung gehandelt habe. Es sei davon auszugehen, dass die Erkrankung schon länger abgeklungen sei und der Lebenspartner des Klägers die Hilfe leisten könne.

Mit E-Mail vom 08.04.2011 teilte der Kläger der Beklagten mit, dass es sich bei der Erkrankung des Zeugen B. nicht um eine einfache Lungenentzündung gehandelt habe. Der Zeuge B. leide auch an einer schweren Augenkrankheit, die unheilbar sei. Er sei körperlich auch nicht in der Lage, dem Kläger zu helfen. Mit Schreiben vom 12.08.2011 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er den Widerspruch per E-Mail und damit nicht formwirksam erhoben habe, ihm jedoch die Möglichkeit eingeräumt werde, das Formerfordernis bis zum 02.09.2011 nachzuholen. Hierauf erhob der Kläger mit Schreiben vom 24.08.2011, bei der Beklagten eingegangen am 26.08.2011, Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.04.2011.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.09.2011 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 06.04.2011 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie an, dass der Ablehnungsbescheid vom 06.04.2011 in einen Aufhebungsbescheid umgedeutet werde, da mit dem Bescheid vom 06.01.2011 Leistungen der Hilfe zur Pflege für die Zeit vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2011 bewilligt worden seien. Der Vortrag des Klägers, sein Lebenspartner sei gesundheitlich nicht in der Lage, die Pflege auszuüben, sei überprüft worden. Dabei sei festgestellt worden, dass die Lungenentzündung ausgeheilt sei und neuere Erkrankungen offensichtlich nicht vorlägen. Hindernisse, die gegen eine weitere unentgeltliche Hilfe sprächen, seien nicht nachgewiesen worden.

In den internen Verwaltungsvorschriften der Beklagten ist bezüglich der Bewilligung von Pflegebeihilfen unter anderm folgendes ausgeführt (vgl. Blatt 281 der Gerichtsakte):

" Nach folgenden Regelungen ist eine Pflegebeihilfe zu gewähren:

11.1 Nahe stehende Personen Nahe stehende Personen sind Verwandte ersten Grades, Schwiegerkinder und Personen in Haushaltsgemeinschaft.

11.2 Keine Pflegebeihilfe Eine Pflegebeihilfe scheidet aus, wenn die Pflege - durch den Ehegatten oder den Partner einer eheähnlichen/gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft erbracht wird und - sie nach Art und Umfang der Tätigkeit erwartet werden kann (keine außergewöhnliche Pflege). ".

Der Kläger hat am 16.09.2011 Klage erhoben. Er führt an, dass der Zeuge B. gesundheitlich nicht in der Lage sei, seine Pflege sicherzustellen. Seitdem die Beklagte die Leistungen eingestellt habe, werde die Pflege von Frau D. trotzdem weiter durchgeführt. Der Kläger schulde Frau D. bislang ca. 2.000,00 EUR. Nachdem die Pflegebeihilfe von der Beklagten nicht weitergezahlt worden sei, habe der Kläger Frau D. bei der Minijobzentrale abgemeldet. Man habe ihm mitgeteilt, dass keine weiteren Meldungen erforderlich seien. Für den Fall, dass die Pflegebeihilfe wieder gezahlt werde, könne eine rückwirkende Anmeldung erfolgen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 06.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2011 zu verurteilen, ab April 2011 Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII in Gestalt einer Pflegebeihilfe zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass durch den Zeugen B. eine unentgeltliche Pflege des Klägers sicherzustellen sei. Gesundheitliche Beeinträchtigungen bestünden nicht. Weiterhin spreche der Umstand, dass der Zeuge B.Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) beziehe und damit erwerbsfähig sei, dafür, dass er die Pflege des Klägers sicherstellen könne.

Das Gericht hat hinsichtlich des Pflegebedarfs des Klägers und hinsichtlich der gesundheitlichen Einschränkungen des Zeugen B.ein sozialmedizinisches sowie ein augenärztliches Gutachten eingeholt. Auf den Inhalt und die Ergebnisse dieser Gutachten vom 10.12.2014 bzw. 29.12.2014 wird Bezug genommen. Weiterhin hat das Gericht am 26.05.2015 einen Erörterungstermin durchgeführt und die Zeugin D. zu den von ihr für den Kläger erbrachten Hilfen vernommen. Auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 273 ff. der Gerichtsakte) wird insoweit Bezug genommen. Bezüglich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichtsakte, auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Leistungs- und Schwerbehindertenakte der Beklagten sowie der beigezogenen Leistungs- und Schwerbehindertenakte des Zeugen B., die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

I. Gegenstand des Klageverfahrens im Sinne des § 95 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist der Bescheid vom 06.04.2011, mit welchem die Beklagte Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.04.2011 ablehnte, in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2011. Da die Beklagte Leistungen der Hilfe zur Pflege mit Bescheid vom 06.04.2011 ohne zeitliche Beschränkung ablehnte, war über die gesamte bis zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt verstrichene Zeit zu entscheiden (vgl. Coseriu, Das "neue" Sozialhilferecht, S. 250, in: Bender/Eicher (Hrsg.), Sozialrecht, eine Terra incognita, Saarbrücken (2009) unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 11.12.2007, B 8/9b SO 12/06 R). Da die Beklagte Leistungen der Hilfe zur Pflege jeweils für einen Kalendermonat bewilligte (vgl. etwa den Bescheid vom 06.01.2011), wurde mit dem Bescheid vom 06.04.2011 nicht in einen etwaigen bestehenden Bewilligungszeitraum eingegriffen, sondern es wurden künftige Leistungen nicht bewilligt. Einer Umdeutung des Bescheides vom 06.04.2011 in einen Aufhebungsbescheid, wie von der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 13.09.2011 angenommen, bedurfte es damit nicht.

II. Die gegen den Bescheid vom 06.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2011 gerichtete Klage auf Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.04.2011 ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG).

III. Die Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide beschweren den Kläger, da sie rechtswidrig sind (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Kläger hat einen Anspruch auf Leistungen in Gestalt einer Pflegebeihilfe in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang, der aus § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. §§ 61 ff. SGB XII folgt.

1. Die Beklagte ist als kreisfreie Stadt örtlicher Träger der Sozialhilfe und damit für die Gewährung der Pflegebeihilfe sachlich zuständig (vgl. § 97 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 1 Ausführungsgesetz zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen (AG SGB XII NRW)).

2. Weiterhin sind die Anspruchsvoraussetzungen des § 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. den §§ 61 Abs. 1 Satz 2, 65 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. SGB XII erfüllt. Gem. § 19 Abs. 3 SGB XII wird Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII nicht zuzumuten ist.

a) Der Kläger ist zwar nicht pflegebedürftig gem. § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, wonach Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen, Hilfe zur Pflege zu leisten ist. Denn die Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 1 SGB XII lehnt sich mit ihrer Formulierung an § 14 Abs. 1 SGB XI an und stellt damit klar, dass der Pflegebedarf ein Ausmaß erreicht haben muss, welches einem der drei in § 15 des Sozialgesetzbuches Elftes Buch – Soziale Pflegeversicherung – (SGB XI) definierten Pflegestufen entspricht (vgl. Meßling, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. (2014), § 61 SGB XII, Rn. 75). Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Denn sowohl nach der Untersuchung des Gesundheitsamtes der Beklagten, bei der ein grundpflegerischer Bedarf des Klägers von täglich 33 Minuten festgestellt wurde, als auch nach dem Ergebnis des Gutachtens des Herrn Dr. med. R. vom 29.12.2014, der einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von durchschnittlich 37 Minuten täglich sowie einen Bedarf an hauswirtschaftlicher Versorgung von durchschnittlich 45 Minuten täglich ermittelte, wird der gem. § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI geforderte Zeitaufwand von mehr als 45 Minuten im Bereich der Grundpflege nicht erreicht. Mit dem vorgenannten, im Bereich der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehenden Bedarf erfüllt der Kläger jedoch die Voraussetzungen des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, wonach Hilfe zur Pflege auch Kranken und behinderten Menschen zu leisten ist, die einen geringeren Bedarf als nach Satz 1 der Vorschrift haben.

b) Ein Anspruch des Klägers folgt aus § 65 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB XII. Reicht im Fall des § 61 Abs. 1 SGB XII häusliche Pflege aus, soll der Träger der Sozialhilfe nach § 63 Satz 1 SGB XII darauf hinwirken, dass die Pflege einschließlich der hauswirtschaftlichen Versorgung durch Personen, die dem Pflegebedürftigen nahe stehen, oder als Nachbarschaftshilfe übernommen wird. Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz SGB XII können "in diesem Fall (der kostenlosen Pflege)" (vgl. BSG, Urteil vom 26.08.2008, B 8/9b SO 18/07 R, Rn. 17) auch angemessene Beihilfen geleistet sowie Beiträge der Pflegeperson für eine angemessene Alterssicherung übernommen werden, wenn diese nicht anderweitig sichergestellt ist. § 63 SGB XII konkretisiert eine Beratungspflicht des Sozialhilfeträgers im Sinne des § 10 Abs. 2 SGB XII (vgl. nur Holthaus, in: Jung (Stand: April 2014), § 63 SGB XII, Rn. 4, m.w.N.). Mit der Regelung des § 63 SGB XII wird an die persönliche Solidarität der genannten Personenkreise appelliert, ohne dass dem Sozialhilfeträger jedoch das Recht eingeräumt würde, Hilfebedürftige auf unentgeltliche Hilfeleistungen einer nahestehenden Person oder der Nachbarschaftshilfe zu verweisen (vgl. BSG, Urteil vom. 26.08.2008, a.a.O., Rn. 19; Grube, in: Grube/Wahrendorf, 5. Aufl. (2014), § 63 SGB XII, Rn. 5; vgl. auch H. Schellhorn, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, 18. Aufl. (2010), § 63 SGB XII, Rn. 7, welcher anführt, dass Familienangehörige nicht verpflichtet werden können, Pflege- und Betreuungsleistungen wahrzunehmen). Auch führt die Regelung des § 63 SGB XII nicht dazu, dass der Sozialhilfeträger eine pflegerische Bedarfsdeckung durch etwaige Mitglieder einer Haushaltsgemeinschaft vermuten darf; vielmehr muss er sie im Einzelfall positiv feststellen und ist für diesen Umstand beweisbelastet (vgl. Holthaus, a.a.O.). Die Pflegebeihilfe wird pauschaliert gewährt und soll ein Anreiz für Pflegepersonen sein, ehrenamtlich tätig zu werden (vgl. Meßling, a.a.O., Rn. 23).

Für die von der Beklagten in ihren verwaltungsinternen Richtlinien unter Ziffer. 11.1 vorgenommene einschränkende Auslegung des Begriffs der "nahe stehenden Person" im Sinne des § 63 Satz 1 SGB XII dahingehend, dass unter diese Vorschrift nur Verwandte ersten Grades, Schwiegerkinder und Personen in Haushaltsgemeinschaft fallen sollen, ist eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich. Vielmehr werden anerkanntermaßen unter den Begriff der "nahe stehenden Person" auch Ehegatten und eingetragene Lebenspartner gefasst (vgl. nur Meßling, a.a.O., § 63 SGB XII, Rn. 19).

Weiterhin irrt die Beklagte in der Annahme, sie sei berechtigt, dem Kläger eine Pflegebeihilfe unter Hinweis darauf zu verweigern, dass der Zeuge B. gegenüber dem Kläger aufgrund zivilrechtlicher Vorschriften verpflichtet sei, die Pflegeleistungen kostenfrei zu erbringen. Zunächst hat die Beklagte die Entscheidung des Zeugen B., die Pflege für den Kläger nicht durchführen zu können sowie den Umstand, dass die Pflegeleistungen von Frau D., der Schwester des Zeugen B., vorgenommen werden, nach dem Vorstehenden hinzunehmen. Auch kann sie einem Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Pflegebeihilfe eine behauptete Verpflichtung des Zeugen B. nicht allein unter dem Aspekt des in § 2 SGB XII normierten Nachranggrundsatzes entgegengehalten. Denn der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe stellt keine eigenständige Ausschlussnorm dar. Eine Bedürftigkeit lässt sich lediglich im Zusammenhang mit ergänzenden bzw. konkretisierenden Vorschriften verneinen (vgl. BSG, Urteil vom 02.02.2010, B 8 SO 21/08 R, Rn. 13; vgl. zur Notwendigkeit einer normativen Grundlage bei der Heranziehung von Strukturprinzipien ferner Coseriu, a.a.O., S. 254). Als solche konkrete Ausschlussnorm für die von dem Antragsgegner behaupteten Ansprüche käme lediglich die Regelung des § 94 SGB XII in Betracht. Eine familienrechtliche Verpflichtung zur tatsächlichen Übernahme von Pflege– und Betreuungsaufgaben für Angehörige kennt das deutsche Recht aber nicht (vgl. Klie, in: Hauck/Noftz, 29. Egl. (2012), § 63 SGB XII, Rn. 4). Auch schließt der Umstand, dass ein Verwandtschaftsverhältnis sowie eine etwaige (allgemeine) Unterhaltsverpflichtung zwischen der Pflegeperson und der pflegebedürftigen Person besteht, den Anspruch auf eine Pflegebeihilfe anerkanntermaßen nicht aus (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28.01.1998, 4 L 935/96, Rn. 2, wobei der Senat darauf hinweist, dass Pflegeleistungen unterhaltsrechtlich nicht erzwungen werden können; OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.03.1998, 12 L 2952/97, Rn. 7; Lachwitz, in: Fichtner/Wenzel, 4. Aufl. (2009), § 65 SGB XII, Rn. 10; Klie, a.a.O., § 65 SGB XII, Rn. 5; Grube, a.a.O., § 65 SGB XII, Rn. 10; Krahmer/Sommer, in: Bieritz/Harder/Conradis/Thie, 9. Aufl. (2012), § 65 SGB XII, Rn. 5; Meßling, a.a.O., § 65 SGB XII, Rn. 27). Das Vorliegen einer (allgemeinen) gesetzlichen Unterhaltspflicht kann daher von dem Sozialhilfeträger einem Anspruch auf Gewährung einer Pflegebeihilfe nicht entgegengehalten werden; denkbar ist allenfalls eine Berücksichtigung im Rahmen der Ermessensausübung (vgl. Holthaus, a.a.O., § 65 SGB XII, Rn. 5, die darauf hinweist, dass das Bestehen einer Unterhaltspflicht den Beihilfeanspruch gegebenenfalls der Höhe nach mindern könne). Soweit die verwaltungsinternen Richtlinien der Beklagten zum SGB XII vorsehen, dass eine Pflegebeihilfe ausscheide, wenn die Pflege durch den Ehegatten oder den Partner einer eheähnlichen/gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft erbracht werde, ist diese pauschale und vollständige Versagung einer Pflegebeihilfe nach dem Vorstehenden ermessensfehlerhaft. Denn unabhängig davon, dass die interne Verwaltungsvorschrift im Bereich der Ehegatten und Lebenspartner – abgesehen von Art und Umfang der Pflege - eine generelle Regelung trifft und damit keine Möglichkeit vorsieht, den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung zu tragen (vgl. etwa Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, a.a.O., § 17 SGB XII, Rn. 14, der anführt, dass Verwaltungsvorschriften nicht die Ausübung eines die besonderen Umstände des Einzelfalls berücksichtigenden Ermessens beseitigen dürfen), besteht keine Rechtsgrundlage, aus welcher der Sozialhilfeträger von Angehörigen eine Verpflichtung zur tatsächlichen Übernahme von Pflege– und Betreuungsaufgaben der Hilfebedürftigen herleiten könnte.

Unbeschadet der Rechtswidrigkeit der verwaltungsinternen Richtlinie in den vorgenannten Punkten bestand für die Beklagte aufgrund der Erkrankungen des Zeugen B., der schwerbehindert bei einem GdB von 100 ist und bei dem die Merkzeichen "G", "B" und "RF" zuerkannt sind, auch im Rahmen der Ermessensausübung im konkreten Einzelfall kein Spielraum, eine Pflegbeihilfe zu kürzen oder gar vollständig zu verweigern. Denn nach den Feststellungen des Herrn Dr. med. K. in dem augenärztlichen Gutachten vom 10.12.2014 bestehen bei dem Zeugen B. aufgrund der erheblichen Herabsetzung der Sehschärfe mit zentralen Gesichtsfeldsdefekten und fehlendem räumlichen Sehen, Einschränkungen bei allen Tätigkeiten, die erhöhte Ansprüche an die optische Orientierung stellen. Eine Orientierung im Straßenverkehr bestehe nur ansatzweise. Eine Verrichtung von Einkäufen und eine Unterstützung des Partners seien nur eingeschränkt möglich. Sämtliche Verrichtungen der Körperpflege und Ernährung seien jedoch nicht eingeschränkt und könnten als Hilfeleistungen erbracht werden. Diese Feststellungen des Gutachters decken sich mit den Angaben des Zeugen B. in dem Verhandlungstermin am 23.06.2015, wonach Tätigkeiten im Bereich der Körperpflege, etwa das Waschen des Klägers oder die Reinigung des Gebisses von ihm übernommen werden können. Der Zeuge hat jedoch glaubhaft dargelegt, dass es ihm nicht möglich ist, dem Kläger aus dem Bett oder der Wanne zu helfen bzw. ins Bett oder in die Wanne zu setzen. Weiterhin hat die Zeugin D. in ihrer Vernehmung im Erörterungstermin am 26.05.2015 glaubhaft angegeben, dass sie die Einkäufe für den Kläger und den Zeugen B. erledige, da weder der Kläger noch der Zeuge B. dazu körperlich alleine in der Lage seien. Diese Einschränkungen führen dazu, dass kein Ermessen der Beklagten im Hinblick auf eine Kürzung einer Pflegbeihilfe besteht.

c) Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer Pflegehilfe i.H.v. 60 % des jeweils geltenden Pflegegeldes der Pflegestufe I ab April 2011. Gem. § 65 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB XII steht die Gewährung einer Pflegebeihilfe im Ermessen des Leistungsträgers. Anerkanntermaßen können Pauschalen abhängig von dem Pflegeaufwand gewährt werden (vgl. etwa Krahmer/Sommer, a.a.O., § 65 SGB XII, Rn. 6). Ausweislich ihrer verwaltungsinternen Richtlinien nimmt die Beklagte bei der Bewilligung der Pflegebeihilfe eine Pauschalierung in Gestalt von Abstufungen vom kleinsten Pflegegeld nach dem entsprechenden Zeitaufwand vor. Nach dieser Richtlinie gewährt die Beklagte Hilfebedürftigen mit einer Pflegedauer von 31-37 Minuten täglich 60 % des Pflegegeldes der Pflegestufe I (vgl. Bl. 181 der Gerichtsakte).

Da sowohl der grundpflegerische Bedarf als auch die hauswirtschaftliche Versorgung des Klägers von diesem selber nicht sichergestellt werden konnte und der Zeuge B. als Pflegeperson nicht zur Verfügung stand, war die Sicherstellung der häuslichen Pflege des Klägers einzig durch die Inanspruchnahme der Frau D. sowie der Zeugin D. möglich. Der Bedarf des Klägers beschränkte sich nicht auf einfache Hilfeleistungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Vielmehr konnte sowohl der grundpflegerische Bedarf als auch die hauswirtschaftliche Versorgung nur durch den Einsatz der Frau D. sowie der Zeugen D.gedeckt werden. So besteht bei dem Kläger, unter Zugrundelegung des Ergebnisses der Untersuchung durch den Sachverständigen Herrn Dr. med. R., im Bereich der Körperpflege (§ 61 Abs. 5 Nr. 1 SGB XII) ein täglicher Hilfebedarf von 22 Minuten (Waschen/Baden/Darm–Blasenentleerung) sowie im Bereich der Mobilität (§ 61 Abs. 5 Nr. 3 SGB XII) von 15 Minuten (An– und Auskleiden, Stehen/Transfer). Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung besteht ein Bedarf von 45 Minuten pro Tag. Vor diesem Hintergrund bestand für die Beklagte mit Blick auf ihre sich aus § 63 SGB XII ergebende Verpflichtung zur Förderung von Maßnahmen der ambulanten Pflege keine andere Möglichkeit als die Bewilligung der Pflegebeihilfe. Sind alle denkbaren Ergebnisse bis auf eines ausgeschlossen, liegt eine Ermessensreduzierung auf Null vor (vgl. Ruffert, in: Knack/Henneke, 10. Aufl. (2014), § 40 VwVfG, Rn. 46, m.w.N.; vgl. ferner BSG, Urteil vom 26.08.2008, a.a.O., Rn. 19). Unter Zugrundelegung der im Hinblick auf die bei der Bewilligung der Pflegebeihilfe von der Beklagten vorgenommenen Pauschalierung nicht zu beanstandenden internen Verwaltungsrichtlinie besteht bei einem grundpflegerischen Bedarf von 37 Minuten täglich ein Anspruch des Klägers auf Bewilligung einer Pflegebeihilfe i.H.v. 60 % des jeweils geltenden Pflegegeldes der Pflegestufe I.

3. Das Gericht konnte die Beklagte vorliegend gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG dem Grunde nach verurteilen. Nach dieser Regelung kann dann, wenn gem. § 54 Abs. 4 oder 5 SGG eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt werden. Infolge dessen, dass das Ermessen der Beklagten zur Gewährung der Pflegebeihilfe auf Null reduziert war (vgl. oben unter III., 2., c) der Gründe) besteht ein Rechtsanspruch des Klägers auf eine Leistung in Geld.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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