L 4 KA 10/12 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 12 KA 928/11 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 10/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 16. Januar 2012 werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Tenor des Beschlusses zu Ziffer 1 wie folgt gefasst wird: Die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 25. Oktober 2011 mit Ausnahme der Ermächtigung nach Nr. 30900 EBM wird bis einen Monat nach Zustellung der Entscheidung über den Widerspruch gegen den Beschluss des Zulassungsausschusses angeordnet.

Der Antragsgegner und die Beigeladene zu 1) tragen die Gerichtskosten und die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu gleichen Teilen.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 17.500 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die gemäß § 172 SGG zulässigen Beschwerden des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1), mit denen sinngemäß beantragt wird,

den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 16. Januar 2012 aufzuheben, soweit dieser zugunsten der Antragstellerin die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses für Ärzte bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen vom 25. Oktober 2011 wiederhergestellt hat, und den Antrag auf Anordnung des Sofortvollzugs abzuweisen,

haben in der Sache keinen Erfolg.

Klarzustellen ist allerdings der Tenor des Beschlusses. Das Sozialgericht hat die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses "wiederhergestellt". Tatsächlich handelt es sich, wovon auch das Sozialgericht in den Gründen seines Beschlusses ausgeht, um einen Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Beschlusses. Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Diese Konstellation ist hier gegeben, denn der Widerspruch der Beigeladenen zu 1) gegen den Beschluss des Zulassungsausschusses hat aufschiebende Wirkung (§ 96 Abs. 4 S. 2 SGB V) und die Antragstellerin erstrebt die Beseitigung des Suspensiveffektes.

In der Sache ist die Entscheidung des Sozialgerichts allerdings in vollen Umfang zu bestätigen. Es hat unter umfassender Darlegung der gesetzlichen Vorgaben und der einschlägigen Rechtsprechung zutreffend dargelegt, dass die Rechtmäßigkeit des Beschlusses des Zulassungsausschusses, der Antragstellerin eine Ermächtigung für bestimmte überweisungsgebundene Leistungen der Schlafstörungsdiagnostik zu erteilen, derzeit nicht abschließend beurteilt werden kann. Den Zulassungsgremien obliegt es, den gesetzlich angeordneten Vorrang der Sicherstellung der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Vertragsärzte zu beachten und Ermächtigungen nur zu erteilen, wenn und soweit eine bedarfsgerechte Versorgung durch die niedergelassenen Vertragsärzte nicht gewährleistet ist (vgl. BSG SozR 4-2500 § 116 Nr. 3 RdNr. 16 m.w.N.). Ob hinsichtlich der speziellen Leistungen der Schlafstörungsdiagnostik im Planungsbereich E. auch nach dem Auslaufen der Ermächtigung der Antragstellerin zum 31. Dezember 2011 ein Versorgungsbedarf besteht, der durch das vertragsärztliche Leistungsangebot des Beigeladenen zu 9) - des Arztes für Neurologie und Psychiatrie C. in seiner zum 1. September 2011 im A-Stadt eingerichteten Zweigpraxis nicht ausreichend abgedeckt ist, hat der Zulassungsausschuss nach dem Inhalt des Zulassungsbescheides aber nur unzureichend und unter Verletzung seiner Amtsermittlungspflichten geprüft. Dieser hat sich für seine Entscheidung ausschließlich darauf berufen, dass in der mündlichen Verhandlung seitens der sachverständigen Vertreter der Krankenkassen bestätigt worden sei, dass dort häufig Patientenbeschwerden wegen einer nicht ausreichenden Anzahl von Plätzen für die Schlafstörungsdiagnostik erhoben würden, weshalb unter Berücksichtigung der Ausführungen der Antragstellerin und der örtlichen Versorgungssituation eine Ermächtigung begründet sei. Konkrete Feststellungen zur Bedarfslage, insbesondere in Form gerichtlich nachprüfbarer Feststellungen zur Nachfrage nach solchen speziellen Leistungen als auch zu den bestehenden Wartezeiten fehlen in dem Beschluss ebenso wie nähere Feststellungen, in welchem Umfang Herr C. tatsächlich in der Zweigpraxis in A-Stadt Schlaflaborleistungen anbietet bzw. aufgrund seiner gleichzeitigen Inanspruchnahme durch seine Tätigkeit am Vertragsarztsitz in C Stadt im Planungsbereich D. überhaupt anbieten kann. Bei ihrer Ermittlungstätigkeit sind die Zulassungsgremien dabei nicht auf eine Anforderung und Auswertung von Daten seitens der Beigeladenen zu 1) beschränkt, sondern berechtigt und verpflichtet, sich aller geeigneten Beweismittel zu bedienen (vgl. Urteil des Senats vom 20. Oktober 2010, L 4 KA 68/09, Juris). Daher ist es auch unerheblich, ob die Beigeladene zu 1), wie die Antragstellerin meint, es im Verfahren vor dem Zulassungsausschuss und vor dem Sozialgericht pflichtwidrig unterlassen hat, konkrete Auskünfte über den Umfang der Versorgung mit schlafmedizinischen Leistungen durch Herrn C. zu machen. Denn die Frage einer etwaigen Beweisführungslast bei einem aufklärungsbedürftigen, aber aufgrund des Verhaltens eines Beteiligten nicht weiter aufklärbaren Sachverhalts stellt sich erst nach dem Abschluss aller möglichen und zumutbaren Ermittlungen, die vorliegend ausstehen.

Aus Sicht des Senats gibt es allerdings Indizien, die für eine gute Möglichkeit sprechen, dass der Bescheid des Zulassungsausschusses im Ergebnis rechtmäßig sein könnte. Denn die von dem Zulassungsausschuss – als einem hinsichtlich der Versorgungslage im Planungsbezirk mit besonderem Sachverstand ausgestatteten Gremium – mitgeteilten Beobachtungen der Krankenkassenvertreter über Beschwerden von Versicherten wegen langer Wartezeiten sprechen für einen entsprechenden Bedarf. In die gleiche Richtung deuten die seit Aufnahme der Tätigkeit kontinuierlich steigenden Fallzahlen der Antragstellerin hinsichtlich der Leistungen der kardiorespiratorischen Polysomnographie nach Nr. 30901 EBM von 43 Behandlungsfällen im Quartal III/2010 auf 105 im Quartal II/2011. Aus dem von der Antragstellerin vorgelegten Schreiben des Herrn C. vom 13. Juli 2010 ergibt sich, dass eine entsprechende Entwicklung auch in seiner Praxis besteht; hier sind die Fallzahlen nach Beginn der Abrechnung von Leistungen der kardiorespiratorischen Polysomnographie innerhalb von 2 Jahren (2008 bis 2010) von 23 Fälle auf 350 Fälle gestiegen. Darüber hinaus ergibt sich auch für die Zweigpraxis von Herrn C., wie sich aus seiner Stellungnahme vom 1. März 2012 ergibt, trotz des Konkurrenzangebots der Antragstellerin eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung der Fallzahlen (November 2011: 34 Polysomnographien; Dezember 2011: 48; Januar 2012: 51; Februar 2012: 73), was bei Fortschreibung dieses Zuwachses dazu führen würde, dass bereits im Juni/Juli 2012 seine Kapazitätsgrenze erreicht wäre. In diesem Zusammenhang weist das Sozialgericht zu Recht darauf hin, dass es sich nach derzeitigem Kenntnisstand bei den Praxen der Antragstellerin und des Herrn C. um die beiden einzigen neurologischen Schlaflabore in Hessen handelt und insoweit auch eine Nachfrage aus anderen Planungsbereichen bedeutsam sein dürfte. Die Antragstellerin hat zudem unter Hinweis auf die zeitlichen und persönlichen Anforderungen der Schlaflaboruntersuchung nach EBM-Nr. 30901 an den behandelnden Arzt (u. a. die Pflicht, dass während der Einstellung auf eine Überdrucktherapie mit CPAP- oder verwandten Geräten bei Notfällen ein Arzt zur unmittelbaren Hilfestellung zur Verfügung stehen muss, vgl. hierzu § 7 Ziffer 3 der Qualitätssicherungsvereinbarung gemäß § 135 Abs. 2 SGB V zur Diagnostik und Therapie schlafbezogener Atmungsstörungen, DÄBl 2005; 102(11): A-777 / B-653 / C-609) mit beachtlichen Argumenten vorgetragen, dass der im Planungsbereich E. bestehende und bisher von ihr abgedeckte Bedarf durch Herrn C. im Rahmen einer vertragsärztlichen Zweigpraxis neben den Anforderungen, die sich aus dem Betrieb eines Schlaflabors in C-Stadt mit 10 Plätzen ergeben, jedenfalls nicht umfassend bewältigt werden kann, zumal Herr C. neben den Leistungen der kardiorespiratorischen Polysomnographie nach Nr. 30901 EBM auch noch Leistungen der kardiorespiratorischen Polygraphie (Apnoescreening) nach Nr. 30900 EBM erbringt.

Angesichts dessen ist im Rahmen der Folgenabwägung dem Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Vorrang einzuräumen. Die Antragstellerin ist durch den Zulassungsausschuss mit Beschluss vom 24. November 2009 zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt worden und hat hierauf ein ambulantes Schlaflabor in A-Stadt eingerichtet, was nach ihrer glaubhaften Darstellung mit erheblichen Investitionen verbunden war; so werden in dem von der Antragstellerin vorgelegten Schreiben des Herrn C. vom 13. Juli 2010 die Kosten für die Einrichtung eines Polysomnographieplatzes auf rund 30.000 Euro beziffert. Allerdings kann sich allein hierauf kein durchgreifender Vertrauensschutz gründen, da die Ermächtigung der Antragstellerin bis zum 31. Dezember 2011 befristet war und der Beschluss des Zulassungsausschusses darauf hingewiesen hat, dass zum Ende des Befristungszeitraumes eine Überprüfung der Bedarfslage im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Erneuerung der Ermächtigung erfolgt. Gleichwohl ist bei einer Ermächtigung seitens der Zulassungsgremien, die nur ausgeübt werden kann, wenn der Ermächtigungsinhaber erhebliche Investitionen zum Aufbau einer derart speziellen, besonderen Qualitätsanforderungen unterliegenden Praxis vornimmt, dieser Tatsache sowohl bei der erstmaligen Erteilung einer Ermächtigung als auch bei der Entscheidung über eine weitere Ermächtigung einzubeziehen und setzt eine besonders sorgfältige Bedarfsanalyse und Abwägungsentscheidung voraus. Das Bundessozialgericht hat in Zusammenhang mit der Ermächtigung von Dialysepraxen darauf hingewiesen, dass die kostenintensiven Investitionen für die Erbringung hochspezialisierter Leistungen in einem verhältnismäßig kleinem Markt nur erbracht werden können, wenn sie mit einer ausreichenden wirtschaftlichen Absicherung des Kostenrisikos verbunden sind. Zwar ist im Bereich der nephrologischen Versorgung chronisch niereninsuffizienter Patienten die besondere rechtliche Situation zu beachten, dass hier durch Vorgaben im Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) die Stellung ermächtigter Ärzte und ärztlich geleiteter Einrichtungen denen der niedergelassenen Ärzte angenähert ist; insbesondere sieht Anlage 9 BMV-Ä regelhaft eine Ermächtigung für die Dauer von 10 Jahren und weitere Bestandsschutzregelungen vor. In Bezug auf ärztliche Leistungen der Schlafstörungsdiagnostik gibt es derartige ausdrückliche Regelungen, die einen rechtlich begründeten Bestandsschutz des Ermächtigungsinhabers beinhalten, nicht. Gleichwohl ist die Situation zumindest wirtschaftlich ähnlich. Die Ausübung der Ermächtigung zur Einrichtung eines ambulanten Schlaflabors ist nicht nur mit Investitionen verknüpft, sondern aufgrund der damit verbundenen Standortentscheidungen (Anmietung von Räumlichkeiten, Einstellung von Personal) ihrer Natur nach längerfristig angelegt. Zudem treffen die mit dem Auslaufen der Ermächtigung verbundenen wirtschaftlichen Folgen die Antragstellerin nach ihrem glaubhaften Vortrag existenziell: Sie erzielt nach ihrer eidesstattlichen Versicherung aus privatärztlicher Tätigkeit lediglich Einnahmen in Höhe von rund 55.000 Euro jährlich und kann mit diesem Umsatz die Praxis, die nach ihrem Vortrag sieben Angestellte beschäftigt und monatliche Kosten von 6.500 Euro verursacht, nicht weiterführen. Demgegenüber werden die Interessen des in C-Stadt praktizierenden Herrn C. nach dem derzeit erkennbaren Stand der Dinge nicht über Gebühr beeinträchtigt. Denn bei ihm ist lediglich das wirtschaftliche Interesse an einer möglichst raschen Entwicklung der Zweigpraxis in A-Stadt betroffen, deren Ausdehnung jedoch bereits durch die rechtlichen Maßgaben, innerhalb derer nach § 24 Abs. 3 Ärzte-ZV eine Zweigpraxis betrieben werden darf, Grenzen gesetzt sind. Abwesenheiten des Arztes aufgrund des Betriebs einer Zweigpraxis dürfen nicht zu Beeinträchtigungen der ordnungsgemäßen Versorgung der Versicherten am Praxissitz führen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Februar 2011 - B 6 KA 7/10 R - juris Rn. 13 f.). Zudem regelt der Sofortvollzug lediglich den Zustand bis zur abschließenden Entscheidung des Antragsgegners und damit für einen begrenzten Zeitraum von wenigen Monaten. Insoweit ist es, wie das Sozialgericht zutreffend ausführt, auch hinzunehmen, dass die Antragstellerin infolge der Anordnung der sofortigen Vollziehung unter Umständen für einen gewissen Zeitraum an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, selbst wenn sich im Nachhinein herausstellen sollte, dass die Voraussetzungen nicht vorlagen; denn dem liegt immerhin eine Entscheidung des Zulassungsausschusses zugrunde (vgl. BSG, Urteil vom 11. März 2009, B 6 KA 15/08 R, juris Rdnr. 31). Ungeachtet ihrer angesprochenen Mängel hat diese auch eine gewisse Indizwirkung hinsichtlich der Bedarfslage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 bis 3 VwGO. Eine Abänderung der erstinstanzlichen Kostenentscheidung war nicht veranlasst. Soweit die Beigeladene zu 1) rügt, dass sie durch das Sozialgericht zusammen mit dem Antragsgegner zu gleichen Teilen mit den Kosten der Antragstellerin belastet worden ist, ist dies nicht zu beanstanden. Zwar können einem Beigeladenen nach § 154 Abs. 3 VwGO nur dann Kosten auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; Ausführungen zur Sach- und Rechtslage, auch wenn sie sich zum Klagebegehren negativ verhalten, reichen hierfür nicht aus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl. 2008, § 197a SGG Rdnr. 13). Ein schlüssiger Sachantrag ist jedoch in dem Schriftsatz der Beigeladenen zu 1) vom 5. Januar 2012 enthalten, in dem diese dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz entgegen getreten ist, sich den Ausführungen des Antragsgegners inhaltlich angeschlossen und ausgeführt hat, der Antrag sei "aus Sicht der Beigeladenen zu 1) vollumfänglich abzuweisen". Im Zusammenhang mit den vorangegangenen Ausführungen, mit denen die Beigeladene zu 1) eindeutig Partei bezogen hat, ist dies als Sachantrag zu werten.

Die Streitwertfestsetzung hat der Senat im Anschluss an die nachvollziehbaren Berechnungen des Sozialgerichts vorgenommen, die von keinem der Beteiligten in Zweifel gezogen worden sind.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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