Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 655/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 417/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 33/15 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung zu viel gezahlter Rentenleistungen in Höhe von 1.305,56 Euro.
Die 1956 geborene Klägerin beantragte im Oktober 2010 die Gewährung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation. Der Antrag wurde gem. § 116 Abs. 2 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) umgedeutet in einen Neuantrag auf Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Durchführung von medizinischen Ermittlungen entschied die Beklagte mit Bescheid vom 19. September 2011, dass die Klägerin ab 1. Februar 2011 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum 30. September 2013 in Höhe von 394,29 Euro monatlich erhalte. Der Krankenkasse der Klägerin wurden aus der Nachzahlung von 3.529,26 Euro 2.740,68 Euro erstattet, der Klägerin 788,58 Euro überwiesen.
Auf den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese weiter die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung geltend machte, entschied die Beklagte schließlich mit Bescheid vom 23. Januar 2012, ohne bereits eingeleitete Ermittlungen zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes abzuschließen, die Klägerin erhalte auf ihren Antrag anstelle der bisherigen Rente ab 1. Februar 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 788,58 Euro. Für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 betrage die Nachzahlung 10.212,79 Euro. Die Nachzahlung werde vorläufig nicht ausgezahlt. Am 8. Februar 2012 nahm die Klägerin ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. September 2011 (Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung) zurück.
Die Krankenkasse der Klägerin machte Erstattungsansprüche in Höhe von insgesamt 8.174,56 Euro geltend abzüglich schon erhaltener Beträge (= 5.433,88 Euro), die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 978,05 Euro.
Mit Bescheid vom 21. Mai 2012 nahm die Beklagte den Bescheid vom 19. September 2011 hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. September 2013 nach § 48 SGB X zurück. Für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 ergebe sich eine Überzahlung in Höhe von 5.106,42 Euro (= 13 x 394,29 Euro). Der überzahlte Betrag sei von der Klägerin nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Im Interesse der Klägerin habe die Beklagte den überzahlten Betrag mit der Rentennachzahlung aus der Rente wegen voller Erwerbsminderung verrechnet. Die restliche Überzahlung betrage noch 1.305,56 Euro. Dieser Betrag sei von der Klägerin an die Beklagte zurückzuzahlen. Hiergegen richtete sich die Klägerin mit Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2012 zurückwies. Die Klägerin habe den erhobenen Widerspruch nicht begründet und neue Tatsachen nicht vorgetragen. Eine Überprüfung sei danach nur nach der bekannten Sachlage möglich. Der angefochtene Bescheid sei nicht zu beanstanden.
Gegen den Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 5. Dezember 2012 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt. Die Klägerin vertrat die Auffassung, es sei nicht erkennbar, warum der Bescheid wegen teilweiser Erwerbsminderung habe aufgehoben werden müssen. In den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen sei nämlich keine wesentliche Änderung eingetreten. Auch sei eine Überzahlung an Rente nicht eingetreten. Sie erhalte vielmehr die Zahlbeträge an Rente, die sie beanspruchen könnte, wenn die Beklagte diese Rente errechnet habe mit einem Rentenartfaktor, der einer Rente wegen voller Erwerbsminderung entspreche. Es handele sich hier um einen eigenständigen Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Rente. Soweit die Bundesagentur für Arbeit einen Anspruchsübergang geltend gemacht habe und dieser nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7. September 2010 (B 5 KN 4/08 R) der Bundesagentur zu erstatten sei, könne dies nicht geschehen über einen Nachzahlungsanspruch, der in dieser Höhe durch einen Rückgriff auf schon überzahlte Rente entstehe und der im Übrigen nur durch die Hilfe des § 48 SGB X konstruiert werde. Es handele sich vielmehr um eigenständige Ansprüche auf Arbeitslosengeld und auf Rente.
Mit Urteil vom 27. Oktober 2014 hob das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012 auf. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Sozialgericht aus, der Bescheid vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012 sei rechtswidrig und daher aufzuheben gewesen. Zutreffende Rechtsgrundlage sei der § 45 SGB X, da der Bescheid von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Die Beklagte habe nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits mit Bescheid vom 19. September 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bewilligen müssen. Die Klägerin sei nach den getroffenen Feststellungen seit Juli 2010 nur noch in der Lage gewesen, unter sechs Stunden arbeitstäglich im Erwerbsleben eingesetzt zu werden. Die Beklagte habe auch die Ermittlungen zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zwar aufgenommen, dann aber im Februar 2012 entschieden, ohne die Antwort der Agentur für Arbeit abzuwarten. Ein Austausch der Rechtsgrundlage bzw. eine Umdeutung von § 48 in § 45 SGB X sei grundsätzlich möglich. § 45 SGB X stelle hinsichtlich der Aufhebung für die Vergangenheit im Bereich des Rentenrechts eine Ermessensnorm dar. In dem angegriffenen Bescheid habe die Beklagte jedoch kein Ermessen ausgeübt. Anhaltspunkte dafür, dass das Ermessen der Beklagten vorliegend ausnahmsweise auf Null geschrumpft sein könne, vermöge das Gericht nicht zu erkennen.
Mit ihrer am 29. Dezember 2014 eingelegten Berufung richtet sich die Beklagte gegen das ihr am 9. Dezember 2014 zugestellte Urteil. Die Beklagte stütze sich bei ihrer Vorgehensweise auf das Urteil des BSG vom 7. September 2010 (B 5 KN 4/08 R). Das Sozialgericht sei von einem falschen Streitgegenstand ausgegangen. Es gehe nicht um die Aufhebung der zuerst bewilligten Rente. Streitgegenstand sei vielmehr die Aufhebung des Zahlungsanspruchs der bewilligten Rente. Unstreitig habe die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daraus folge, dass der Bescheid vom 19. September 2011 über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung rechtmäßig sei, da zugleich die Voraussetzungen für diese Rente vorgelegen hätten. Zu der rechtmäßigen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sei die Rente wegen voller Erwerbsminderung hinzugetreten mit der Folge, dass § 89 Abs. 1 SGB VI anwendbar sei. Aber selbst wenn der Bescheid über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung anfänglich rechtswidrig gewesen sein sollte, sei Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Bescheides nicht § 45 SGB X, sondern § 44 SGB X. Eine solche Rücknahme sei jederzeit im Wege eines Austauschs der Rechtsgrundlage möglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Oktober 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil zu Recht entschieden, dass die Beklagte keinen Anspruch auf die Erstattung zu viel ausgezahlter Rentenansprüche hat.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012, mit dem die Beklagte den Bescheid vom 19. September 2011 hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. September 2013 nach § 48 SGB X zurückgenommen hat. Jedoch liegt ein Fall des § 48 SGB X nicht vor.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit eine der Nummern 1 bis 4 des Abs. 1 von § 48 SGB X vorliegt. Unzweifelhaft handelt es sich bei dem Bescheid vom 19. September 2011 um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, da er eine Rentengewährung zum Inhalt hat. Dagegen ist "eine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage" nicht zu bejahen. "Wesentlich" bedeutet eine rechtserhebliche Änderung. Hierbei wird vorausgesetzt eine solche Änderung, die zur Folge hat, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt so nicht hätte erlassen dürfen (BSG in SozR 1300 § 48 Nr. 22 S. 50), etwa weil der im Bescheid festgestellte Anspruch materiell-rechtlich nicht mehr besteht. Der Wegfall lediglich eines Anspruchsgrundes unter mehreren denkbaren genügt nicht. Es kommt weder auf die im ursprünglichen Bescheid genannten noch auf die von der Behörde bei der Bewilligung oder später angenommenen Verhältnisse an, sondern auf die in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse und deren objektive Änderung. Die wesentliche Änderung kann in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen eingetreten sein.
Im Falle der Klägerin ist eine Änderung der Verhältnisse nicht eingetreten, insbesondere nicht durch Erteilung des Bescheides vom 23. Januar 2012, mit dem ihr ab 1. Februar 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden ist. Auf diese Rente hatte die Klägerin ebenso wie auf die mit Bescheid vom 19. September 2011 bewilligte Rente Anspruch ab 1. Februar 2011. Die Klägerin war auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden einsatzfähig, ohne dass ihr ein entsprechender Teilzeitarbeitsplatz zur Verfügung gestanden hätte. Eine gesundheitliche Besserung galt als nicht unwahrscheinlich. Unter diesen Voraussetzungen hatte die Klägerin sowohl einen befristeten Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung als auch einen befristeten Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Haben beide Renten, wie hier, denselben Leistungsfall und denselben Rentenbeginn, ist nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung festzustellen (vgl. auch Bl. 221 der RA). Dies findet seine Rechtsgrundlage in § 89 SGB VI, wonach bei Ansprüchen auf mehrere Renten aus eigener Versicherung für denselben Zeitraum nur die höchste Rente geleistet wird. Die verdrängte Rente ruht. Der Anspruch auf die nach § 89 SGB VI verdrängte Rente bleibt aber grundsätzlich bestehen (BSG, Urteil vom 7. September 2010, B 5 KN 4/08 R). Sie ist bei Wegfall der höheren bzw. ranghöheren Rente so zu zahlen, als sei sie durchgehend gezahlt worden. Nur wenn bei der Umwandlung einer laufenden Rente in eine andere Rente das Ruhen nach § 89 SGB VI kraft Gesetzes eintritt, ist der Erstrentenbescheid gemäß § 48 SGB X aufzuheben, da im Hinzutritt der weiteren Rente eine wesentliche Änderung der Verhältnisse liegt. Wegen der Erzielung von Einkommen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X kann der Bescheid auch für die Vergangenheit (d.h. ab Beginn der hinzutretenden Rente) aufgehoben werden. Für die Aufhebung ist eine Anhörung nach § 24 SGB X nicht erforderlich. Wird die alte Rente trotz Aufhebung weitergezahlt, ist sie im Sinne des § 50 Abs. 2 SGB X zu Unrecht gezahlt worden.
Diese Fallgestaltung ist hier allerdings nicht gegeben. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist nicht zu der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hinzugetreten. Vielmehr hat die Beklagte ausdrücklich die Rente wegen voller Erwerbsminderung an Stelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Beginn bewilligt. Der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ist ab Beginn des Anspruchs auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zuerkannt worden und hat nicht erst in der Folgezeit die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung verdrängt, so dass ein Fall des § 48 SGB X nicht vorliegt.
Eine Aufhebung des Rentenbewilligungsbescheides vom 19. September 2011, der rechtmäßig ist, kommt lediglich unter den Voraussetzungen des § 47 SGB X in Betracht. Ob dies der Fall ist, ist nicht zu entscheiden, da die Beklagte nicht die Rentenbewilligung aufgehoben hat. Sie hat die Aufhebung auf den Zahlungsanspruch begrenzt, weil dem Zahlungsanspruch die Vorschrift des § 89 SGB VI entgegenstehe; insoweit ist der Bescheid rechtswidrig. Die Rücknahme kommt nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X in Betracht. Jedoch ist bereits fraglich, ob die Beklagte berechtigt ist, die Rechtsgrundlage für ihre Aufhebungsentscheidung auszutauschen. Denn die Klägerin würde wegen des gravierenden Unterschiedes zwischen den §§ 45 und 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X in unvertretbarer Weise benachteiligt (vgl.: Urteil des erkennenden Senats vom 17. Januar 2012 - L 2 R 524/10). Jedenfalls aber darf nach § 45 Abs. 2 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Von einem Vertrauensschutz der Klägerin ist auszugehen. Der Klägerin war die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung im September 2011 gewährt worden. Die Abrechnung der Nachzahlung erfolgte dann im Oktober 2011, so dass die Klägerin in der Folgezeit davon ausgehen durfte, dass sie die Rentenzahlungen verwenden konnte. Mit einer Neuberechnung der Rente und einer rückwirkend geänderten Abrechnung der Nachzahlung musste die Klägerin in dieser Zeit bis zum Erhalt des Bescheides vom 23. Januar 2012 nicht rechnen.
Auch wenn der Bescheid vom 19. September 2011 den Hinweis enthielt, dass die Beklagte noch prüfe, ob ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit wegen eines verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes bestehe, musste die Klägerin nicht erwarten, dass die Beklagte auch rückwirkend ab 1. Februar 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zahlen und sich die rückwirkende Neuberechnung der Rente zu ihren Lasten auswirken würde. Das der Klägerin zuzuerkennende Vertrauen in den Anspruch auf die Zahlung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung steht nach alledem der Rücknahme des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 entgegen. Dementsprechend ist die Klägerin auch nicht nach § 50 SGB X zur Erstattung von zu Unrecht erbrachten Leistungen verpflichtet.
Die Berufung konnte keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rückforderung zu viel gezahlter Rentenleistungen in Höhe von 1.305,56 Euro.
Die 1956 geborene Klägerin beantragte im Oktober 2010 die Gewährung von Maßnahmen zur medizinischen Rehabilitation. Der Antrag wurde gem. § 116 Abs. 2 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) umgedeutet in einen Neuantrag auf Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Durchführung von medizinischen Ermittlungen entschied die Beklagte mit Bescheid vom 19. September 2011, dass die Klägerin ab 1. Februar 2011 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum 30. September 2013 in Höhe von 394,29 Euro monatlich erhalte. Der Krankenkasse der Klägerin wurden aus der Nachzahlung von 3.529,26 Euro 2.740,68 Euro erstattet, der Klägerin 788,58 Euro überwiesen.
Auf den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese weiter die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung geltend machte, entschied die Beklagte schließlich mit Bescheid vom 23. Januar 2012, ohne bereits eingeleitete Ermittlungen zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes abzuschließen, die Klägerin erhalte auf ihren Antrag anstelle der bisherigen Rente ab 1. Februar 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 788,58 Euro. Für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 betrage die Nachzahlung 10.212,79 Euro. Die Nachzahlung werde vorläufig nicht ausgezahlt. Am 8. Februar 2012 nahm die Klägerin ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. September 2011 (Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung) zurück.
Die Krankenkasse der Klägerin machte Erstattungsansprüche in Höhe von insgesamt 8.174,56 Euro geltend abzüglich schon erhaltener Beträge (= 5.433,88 Euro), die Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von 978,05 Euro.
Mit Bescheid vom 21. Mai 2012 nahm die Beklagte den Bescheid vom 19. September 2011 hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. September 2013 nach § 48 SGB X zurück. Für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 ergebe sich eine Überzahlung in Höhe von 5.106,42 Euro (= 13 x 394,29 Euro). Der überzahlte Betrag sei von der Klägerin nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten. Im Interesse der Klägerin habe die Beklagte den überzahlten Betrag mit der Rentennachzahlung aus der Rente wegen voller Erwerbsminderung verrechnet. Die restliche Überzahlung betrage noch 1.305,56 Euro. Dieser Betrag sei von der Klägerin an die Beklagte zurückzuzahlen. Hiergegen richtete sich die Klägerin mit Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. November 2012 zurückwies. Die Klägerin habe den erhobenen Widerspruch nicht begründet und neue Tatsachen nicht vorgetragen. Eine Überprüfung sei danach nur nach der bekannten Sachlage möglich. Der angefochtene Bescheid sei nicht zu beanstanden.
Gegen den Widerspruchsbescheid erhob die Klägerin am 5. Dezember 2012 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt. Die Klägerin vertrat die Auffassung, es sei nicht erkennbar, warum der Bescheid wegen teilweiser Erwerbsminderung habe aufgehoben werden müssen. In den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen sei nämlich keine wesentliche Änderung eingetreten. Auch sei eine Überzahlung an Rente nicht eingetreten. Sie erhalte vielmehr die Zahlbeträge an Rente, die sie beanspruchen könnte, wenn die Beklagte diese Rente errechnet habe mit einem Rentenartfaktor, der einer Rente wegen voller Erwerbsminderung entspreche. Es handele sich hier um einen eigenständigen Anspruch der Klägerin auf Zahlung der Rente. Soweit die Bundesagentur für Arbeit einen Anspruchsübergang geltend gemacht habe und dieser nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 7. September 2010 (B 5 KN 4/08 R) der Bundesagentur zu erstatten sei, könne dies nicht geschehen über einen Nachzahlungsanspruch, der in dieser Höhe durch einen Rückgriff auf schon überzahlte Rente entstehe und der im Übrigen nur durch die Hilfe des § 48 SGB X konstruiert werde. Es handele sich vielmehr um eigenständige Ansprüche auf Arbeitslosengeld und auf Rente.
Mit Urteil vom 27. Oktober 2014 hob das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012 auf. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Sozialgericht aus, der Bescheid vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012 sei rechtswidrig und daher aufzuheben gewesen. Zutreffende Rechtsgrundlage sei der § 45 SGB X, da der Bescheid von Anfang an rechtswidrig gewesen sei. Die Beklagte habe nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits mit Bescheid vom 19. September 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bewilligen müssen. Die Klägerin sei nach den getroffenen Feststellungen seit Juli 2010 nur noch in der Lage gewesen, unter sechs Stunden arbeitstäglich im Erwerbsleben eingesetzt zu werden. Die Beklagte habe auch die Ermittlungen zur Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes zwar aufgenommen, dann aber im Februar 2012 entschieden, ohne die Antwort der Agentur für Arbeit abzuwarten. Ein Austausch der Rechtsgrundlage bzw. eine Umdeutung von § 48 in § 45 SGB X sei grundsätzlich möglich. § 45 SGB X stelle hinsichtlich der Aufhebung für die Vergangenheit im Bereich des Rentenrechts eine Ermessensnorm dar. In dem angegriffenen Bescheid habe die Beklagte jedoch kein Ermessen ausgeübt. Anhaltspunkte dafür, dass das Ermessen der Beklagten vorliegend ausnahmsweise auf Null geschrumpft sein könne, vermöge das Gericht nicht zu erkennen.
Mit ihrer am 29. Dezember 2014 eingelegten Berufung richtet sich die Beklagte gegen das ihr am 9. Dezember 2014 zugestellte Urteil. Die Beklagte stütze sich bei ihrer Vorgehensweise auf das Urteil des BSG vom 7. September 2010 (B 5 KN 4/08 R). Das Sozialgericht sei von einem falschen Streitgegenstand ausgegangen. Es gehe nicht um die Aufhebung der zuerst bewilligten Rente. Streitgegenstand sei vielmehr die Aufhebung des Zahlungsanspruchs der bewilligten Rente. Unstreitig habe die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Daraus folge, dass der Bescheid vom 19. September 2011 über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung rechtmäßig sei, da zugleich die Voraussetzungen für diese Rente vorgelegen hätten. Zu der rechtmäßigen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung sei die Rente wegen voller Erwerbsminderung hinzugetreten mit der Folge, dass § 89 Abs. 1 SGB VI anwendbar sei. Aber selbst wenn der Bescheid über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung anfänglich rechtswidrig gewesen sein sollte, sei Rechtsgrundlage für die Rücknahme des Bescheides nicht § 45 SGB X, sondern § 44 SGB X. Eine solche Rücknahme sei jederzeit im Wege eines Austauschs der Rechtsgrundlage möglich.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Oktober 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichts- und Rentenakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil zu Recht entschieden, dass die Beklagte keinen Anspruch auf die Erstattung zu viel ausgezahlter Rentenansprüche hat.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 21. Mai 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 2012, mit dem die Beklagte den Bescheid vom 19. September 2011 hinsichtlich des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 30. September 2013 nach § 48 SGB X zurückgenommen hat. Jedoch liegt ein Fall des § 48 SGB X nicht vor.
Nach § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit eine der Nummern 1 bis 4 des Abs. 1 von § 48 SGB X vorliegt. Unzweifelhaft handelt es sich bei dem Bescheid vom 19. September 2011 um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, da er eine Rentengewährung zum Inhalt hat. Dagegen ist "eine wesentliche Änderung der Sach- und Rechtslage" nicht zu bejahen. "Wesentlich" bedeutet eine rechtserhebliche Änderung. Hierbei wird vorausgesetzt eine solche Änderung, die zur Folge hat, dass die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den ergangenen Verwaltungsakt so nicht hätte erlassen dürfen (BSG in SozR 1300 § 48 Nr. 22 S. 50), etwa weil der im Bescheid festgestellte Anspruch materiell-rechtlich nicht mehr besteht. Der Wegfall lediglich eines Anspruchsgrundes unter mehreren denkbaren genügt nicht. Es kommt weder auf die im ursprünglichen Bescheid genannten noch auf die von der Behörde bei der Bewilligung oder später angenommenen Verhältnisse an, sondern auf die in Wirklichkeit vorliegenden Verhältnisse und deren objektive Änderung. Die wesentliche Änderung kann in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen eingetreten sein.
Im Falle der Klägerin ist eine Änderung der Verhältnisse nicht eingetreten, insbesondere nicht durch Erteilung des Bescheides vom 23. Januar 2012, mit dem ihr ab 1. Februar 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt worden ist. Auf diese Rente hatte die Klägerin ebenso wie auf die mit Bescheid vom 19. September 2011 bewilligte Rente Anspruch ab 1. Februar 2011. Die Klägerin war auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt drei bis unter sechs Stunden einsatzfähig, ohne dass ihr ein entsprechender Teilzeitarbeitsplatz zur Verfügung gestanden hätte. Eine gesundheitliche Besserung galt als nicht unwahrscheinlich. Unter diesen Voraussetzungen hatte die Klägerin sowohl einen befristeten Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung als auch einen befristeten Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Haben beide Renten, wie hier, denselben Leistungsfall und denselben Rentenbeginn, ist nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung festzustellen (vgl. auch Bl. 221 der RA). Dies findet seine Rechtsgrundlage in § 89 SGB VI, wonach bei Ansprüchen auf mehrere Renten aus eigener Versicherung für denselben Zeitraum nur die höchste Rente geleistet wird. Die verdrängte Rente ruht. Der Anspruch auf die nach § 89 SGB VI verdrängte Rente bleibt aber grundsätzlich bestehen (BSG, Urteil vom 7. September 2010, B 5 KN 4/08 R). Sie ist bei Wegfall der höheren bzw. ranghöheren Rente so zu zahlen, als sei sie durchgehend gezahlt worden. Nur wenn bei der Umwandlung einer laufenden Rente in eine andere Rente das Ruhen nach § 89 SGB VI kraft Gesetzes eintritt, ist der Erstrentenbescheid gemäß § 48 SGB X aufzuheben, da im Hinzutritt der weiteren Rente eine wesentliche Änderung der Verhältnisse liegt. Wegen der Erzielung von Einkommen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X kann der Bescheid auch für die Vergangenheit (d.h. ab Beginn der hinzutretenden Rente) aufgehoben werden. Für die Aufhebung ist eine Anhörung nach § 24 SGB X nicht erforderlich. Wird die alte Rente trotz Aufhebung weitergezahlt, ist sie im Sinne des § 50 Abs. 2 SGB X zu Unrecht gezahlt worden.
Diese Fallgestaltung ist hier allerdings nicht gegeben. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist nicht zu der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hinzugetreten. Vielmehr hat die Beklagte ausdrücklich die Rente wegen voller Erwerbsminderung an Stelle der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Beginn bewilligt. Der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ist ab Beginn des Anspruchs auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zuerkannt worden und hat nicht erst in der Folgezeit die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung verdrängt, so dass ein Fall des § 48 SGB X nicht vorliegt.
Eine Aufhebung des Rentenbewilligungsbescheides vom 19. September 2011, der rechtmäßig ist, kommt lediglich unter den Voraussetzungen des § 47 SGB X in Betracht. Ob dies der Fall ist, ist nicht zu entscheiden, da die Beklagte nicht die Rentenbewilligung aufgehoben hat. Sie hat die Aufhebung auf den Zahlungsanspruch begrenzt, weil dem Zahlungsanspruch die Vorschrift des § 89 SGB VI entgegenstehe; insoweit ist der Bescheid rechtswidrig. Die Rücknahme kommt nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X in Betracht. Jedoch ist bereits fraglich, ob die Beklagte berechtigt ist, die Rechtsgrundlage für ihre Aufhebungsentscheidung auszutauschen. Denn die Klägerin würde wegen des gravierenden Unterschiedes zwischen den §§ 45 und 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X in unvertretbarer Weise benachteiligt (vgl.: Urteil des erkennenden Senats vom 17. Januar 2012 - L 2 R 524/10). Jedenfalls aber darf nach § 45 Abs. 2 SGB X ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Von einem Vertrauensschutz der Klägerin ist auszugehen. Der Klägerin war die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung im September 2011 gewährt worden. Die Abrechnung der Nachzahlung erfolgte dann im Oktober 2011, so dass die Klägerin in der Folgezeit davon ausgehen durfte, dass sie die Rentenzahlungen verwenden konnte. Mit einer Neuberechnung der Rente und einer rückwirkend geänderten Abrechnung der Nachzahlung musste die Klägerin in dieser Zeit bis zum Erhalt des Bescheides vom 23. Januar 2012 nicht rechnen.
Auch wenn der Bescheid vom 19. September 2011 den Hinweis enthielt, dass die Beklagte noch prüfe, ob ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit wegen eines verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes bestehe, musste die Klägerin nicht erwarten, dass die Beklagte auch rückwirkend ab 1. Februar 2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zahlen und sich die rückwirkende Neuberechnung der Rente zu ihren Lasten auswirken würde. Das der Klägerin zuzuerkennende Vertrauen in den Anspruch auf die Zahlung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung steht nach alledem der Rücknahme des Zahlungsanspruchs für die Zeit vom 1. Februar 2011 bis 29. Februar 2012 entgegen. Dementsprechend ist die Klägerin auch nicht nach § 50 SGB X zur Erstattung von zu Unrecht erbrachten Leistungen verpflichtet.
Die Berufung konnte keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
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