L 4 P 330/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 18 P 4051/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 330/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Pflegegeld (mindestens) nach der Pflegestufe I ab dem 1. Dezember 2013.

Der am 2009 geborene Kläger ist familienversichertes Mitglied der Beklagten. Er leidet an Diabetes mellitus Typ I. Seit dem 23. November 2011 ist ein Grad der Behinderung von 50 sowie das Merkzeichen "H" und seit dem 30. März 2015 ein Grad der Behinderung von 70 (Funktionsbeeinträchtigungen: Diabetes mellitus, Hypoglykämien, Anfallsleiden) sowie zusätzlich die Merkzeichen "G" und "B" festgestellt.

Der Kläger beantragte erstmals am 14. Dezember 2011 Leistungen der Pflegeversicherung (Geldleistung) und begehrte die Einstufung in die Pflegestufe II. Er bezifferte den durchschnittlichen täglichen Hilfebedarf der Grundpflege mit mindestens fünf Stunden und acht Minuten. Pflegefachkraft G. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) schätzte in ihrem Gutachten vom 12. Januar 2012 aufgrund eines Hausbesuches vom 11. Januar 2012 den täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auf sechs Minuten (sechsmal täglich Unterstützung bei der Teilwäsche Hände/Gesicht) und den hauswirtschaftlichen Hilfebedarf auf 60 Minuten. Die frühkindliche Entwicklung des Klägers sei altersentsprechend. Körperlich bestünden keine Einschränkungen. Er esse alleine und könne auf einem Stuhl oder Sessel selbstständig sitzen. Er habe eine gut entwickelte Feinmotorik. Bei der Blutzuckerentgleisung sei es zur vermehrten Urinausscheidung gekommen. Der Kläger habe es dann teilweise nicht mehr rechtzeitig geschafft, die Toilette/das Töpfchen aufzusuchen. Aktuell habe sich die Kontrolle über die Urinausscheidung aber wieder gebessert und es würden zum Wäscheschutz zu Hause am Tag Stoffwindeln und in der Nacht eine normale Windel getragen. Das Insulin werde ca. alle sechs Stunden gespritzt. Regelmäßige Blutzuckerkontrollen und eine gezielte Broteinheiten-Ernährung finde statt. Je nach Blutzuckerwert seien zusätzliche Injektionen oder Nahrungsverabreichungen erforderlich. Die Mutter des Klägers sei durch die häufigen nächtlichen Blutzuckerkontrollen und Essensverabreichungen mit Zähne putzen, Toilettengang usw. sehr belastet. Die Beklagte lehnte es daraufhin mit Bescheid vom 24. Januar 2012 ab, Leistungen der Pflegeversicherung zu gewähren.

Der Kläger erhob Widerspruch und wies hierbei insbesondere auf seinen im Vergleich zu einem gesunden, gleichaltrigen Kind zusätzlichen Pflegebedarf bei der Ernährung (auch nachts) der Mobilität, der Körperpflege durch Händewaschen und Zähneputzen, beim Zubettbringen und Wecken und die regelmäßigen (ein- bis zweimal pro Monat) stattfindenden Besuche in der Diabetesambulanz hin. Pflegefachkraft S. vom MDK schätzte in ihrem Gutachten nach Aktenlage vom 5. März 2012 den täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege auf 21 Minuten (sechsmal täglich erforderliche Teilwäsche Hände/Gesicht: sechs Minuten; zusätzlich erforderliche einmal tägliche Zahnpflege: fünf Minuten; Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung: zehn Minuten täglich). Den hauswirtschaftlichen Hilfebedarf schätzte sie auf 60 Minuten. Beim Händewaschen vor den Blutzuckermessungen sei ein erhöhter Pflegebedarf nachvollziehbar. Ebenfalls nachvollziehbar sei aufgrund der häufigeren Zwischenmahlzeiten zusätzliches Zähneputzen. Zusätzliche Windelwechsel würden seltener und fielen unregelmäßig an. Eine Würdigung der zeitintensiven behandlungspflegerischen Maßnahmen wie Blutzuckermessungen und Insulininjektionen ließen die Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch – SGB XI – (Begutachtungs-Richtlinien) nicht zu. Die Begutachtungs-Richtlinien ließen auch nicht zu, dass die sehr aufwändige diätetische Ernährung bei Diabeteskindern gewürdigt werden könne. Sie sei der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzuordnen. Die ständige Krankenbeobachtung, um rechtzeitig Über- und vor allem Unterzuckerung erkennen zu können, finde nach den geltenden Begutachtungs-Richtlinien ebenfalls keine Berücksichtigung. Das unvorhersehbare und unregelmäßige Tragen des Kindes könne nicht berücksichtigt werden. Gewürdigt würden die vierzehntägigen Ambulanzbesuche. Pflegefachkraft S. hielt an ihrer Auffassung in einer sog. sozialmedizinischen Fallberatung vom 12. April 2012 fest.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 2012 wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss den Widerspruch zurück. Er stützte sich auf die eingeholten Gutachten des MDK. Er verkenne die umfassenden Betreuungsleistungen der Mutter des Klägers nicht. Diese könnten jedoch nicht umfänglich berücksichtigt werden.

Der Kläger erhob am 20. August 2012 beim Sozialgericht Freiburg (SG) Klage (S 18 P 4154/12). Er bedürfe seit dem 23. November 2011 der Hilfe in den Bereichen der Grundpflege und Hauswirtschaft, die über das Maß der Hilfe hinausgehe, der gleichaltrige Kinder bedürften. Der notwendige Aufwand zur Vorbereitung der eigentlichen Nahrungsaufnahme belaufe sich auf 204 Minuten (Hände waschen, Blutzucker messen, Auswiegen/Berechnen/Zusammenstellen der Nahrung, Rechnen und Blutzuckertagebuchführung/Spritzen/Überwachen des Ess-Spritz-Abstandes) und der Aufwand für die eigentliche Nahrungsaufnahme, Auswiegen/Berechnen/Zusammenstellen von Resten und Ersatz bzw. bei Hypoglykämien, Rechnung und Tagebuchführung für Hypoglykämien, nächtliches Wecken, Zähne putzen, wieder Zubettbringen bei nächtlichen Hypoglykämien, Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme bei Hypo-/Hyperglykämien auf 140 Minuten. Im Vergleich zu Gleichaltrigen müsse er bei plötzlich auftretenden Hyper- und Hypoglykämien auch deutlich mehr gefahren/getragen werden und bedürfe der ständigen Begleitung. Aufgrund seiner Erkrankung müsse dauerhaft nachts mehrmals der Blutzucker gemessen werden und dann gegebenenfalls durch Gabe von Zusatz-Broteinheiten durch seine Mutter eingegriffen werden. Er sei auf diese ständige, auch nächtliche, Hilfebereitschaft der Pflegeperson angewiesen. Da seine Mutter diese allein gewährleisten müsse, sei eine individuelle Sondersituation gegeben und damit auch eine Überschreitung der durch die Begutachtungs-Richtlinien angesetzten Orientierungsminuten begründet.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. Februar 2013 ab. Der Kläger sei nicht pflegebedürftig im Sinne der Pflegestufe I. Dieser Gerichtsbescheid wurde rechtskräftig. Den während dieses Klageverfahrens gestellten Antrag des Klägers auf einstweiligen Rechtsschutz, ihm vorläufig ab 23. November 2011 Pflegegeld mindestens nach der Pflegestufe I zu zahlen, lehnte das SG mit Beschluss vom 4. September 2012 (S 18 P 4153/12 ER) ab. Die hiergegen vom Kläger eingelegte Beschwerde wies der Senat mit Beschluss vom 12. Dezember 2012 (L 4 P 4264/12 ER-B) zurück.

Der Kläger beantragte am 4. Dezember 2013 erneut Leistungen der Pflegeversicherung und zwar Sachleistungen und Pflegegeld. Im Auftrag der Beklagten erstellte die Pflegefachkraft W. vom MDK auf Grund einer Untersuchung vom 16. Dezember 2013 unter dem 20. Dezember 2013 ein Gutachten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass ein Grundpflegebedarf von 36 Minuten pro Tag (Körperpflege: 24 Minuten; Ernährung: 10 Minuten; Mobilität: 2 Minuten) bestehe. Zweifelsohne sei die Betreuung eines an Diabetes mellitus leidenden Kindes zeitintensiver und aufwendiger als die Versorgung eines gleichaltrigen gesunden Kindes, der Mehraufwand liege jedoch vorrangig im Bereich der Krankenbeobachtung und Krankenbehandlung mit regelmäßigen Blutzuckerkontrollen und unter Umständen erforderlichen Insulininjektionen. Diese Maßnahmen seien nicht pflegebegründend im Sinne des SGB XI. Die teilweise Übernahme der mundgerechten Nahrungszubereitung und die täglichen Beaufsichtigungen der Nahrungsaufnahme insbesondere nach den Insulininjektionen seien im Umfang nicht so erheblich, dass damit die zeitlichen Voraussetzungen für Pflegebedürftigkeit erfüllt würden. Das Kochen der Nahrung und die Zubereitung nach Diätplan mit Portionierung sei zeitaufwendiger als bei gesunden Kindern. Eine Berücksichtigung im Rahmen der hauswirtschaftlichen Versorgung könne jedoch nur bei entsprechendem Grundpflegebedarf erfolgen. Es bestünden beim Kläger keine Einschränkungen im Stütz- oder Bewegungsapparat. Er sei altersentsprechend körperlich entwickelt, könne frei gehen, stehen, klettern und hüpfen. Auch die feinmotorischen Fähigkeiten seien gut entwickelt. Die Sauberkeitserziehung sei bereits vor längerer Zeit abgeschlossen. Pflegebegründende Diagnosen seien ein Diabetes mellitus Typ I mit stark schwankenden Blutzuckerwerten und wiederholter Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen).

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Januar 2014 ab. Die Voraussetzungen für die Pflegestufe I seien derzeit nicht gegeben. Auch ein erheblicher Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung, der einen Anspruch auf Betreuungsleistungen auslöse, bestehe nicht.

Hiergegen erhob der Kläger am 3. Februar 2014 Widerspruch. Das Gutachten berücksichtige nicht den Zeitaufwand für notwendige Blutzuckermessungen (12 bis 18 Mal pro Tag), die Berechnung der Insulingaben bzw. zusätzlichen Essensgaben, die für die Berechnung notwendige Buchführung (Blutzuckertagebuch mit Klinikbögen), die nächtliche Ruhestörung seiner Mutter durch die Messungen, Essensgaben und ihre ständige Hilfsbereitschaft sowie die Zeit für das nochmalige Zubettbringen nach Wecken wegen nächtlicher Unterzuckerung. Die Blutzuckermessungen, die Berechnung der Insulingaben bzw. zusätzlichen Essensgaben und die hierfür notwendige Buchführung bildeten zusammen mit der jeweils konkreten oder zusätzlichen Essengabe eine aus medizinischer Sicht untrennbare Einheit und seien daher bei der Berechnung der Grundpflege zwingend zu berücksichtigen. Insbesondere dienten die auf Grund von Hypoglykämien notwendigen zusätzlichen Essensgaben nicht der eigentlichen Nahrungsaufnahme, sondern seien ausschließlich medizinisch veranlasst. Da seine Mutter jede Nacht mehrfach aufstehen müsse und ggf. lebensrettend (besonders nächtliche Hypoglykämien) eingreifen müsse und er auf Grund der individuellen Ausprägung seiner Erkrankung keinen Kindergarten besuchen könne, so dass ihn die Mutter auch tagsüber praktisch durchgehend allein betreuen müsse, sei die rechnerische Lücke von neun Minuten zwischen dem im Gutachten festgestellten Grundpflegebedarf und den erforderlichen 45 Minuten derart gering, dass die Beklagte von ihrem Ermessenspielraum zu seinen Gunsten Gebrauch machen könne. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass auch aus medizinischer Sicht keine Trennung zwischen Behandlungs- und Grundpflege bei Kleinkinddiabetes bestehe, mindestens aber nicht für die hypoglykämiebedingten Zusatzgaben. Durch die Gewährung von Pflegegeld würde auch die soziopsychologische Lebenssituation wesentlich entlastet. Denn er hätte dann zum einen Anspruch auf Verhinderungspflege, also endlich die finanzielle Möglichkeit, einen für Diabetiker geschulten Babysitter zu bestellen. Insbesondere aber würde die Hilfebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für seine Mutter mit der entsprechenden sozialen Stigmatisierung und den Einschränken der persönlichen Freiheiten entfallen. Ihre Pflegearbeit würde auch psychosozial wesentlich aufgewertet und es würden Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt. Er müsse ständig beaufsichtigt werden, auch bei Veranstaltungen, die ohne Eltern angeboten würden (Chor und Vereinsturnen). Dies seien konkret 3,5 Stunden pro Woche. Bei plötzlichen Blutzuckerschwankungen reagiere er auch nicht mehr adäquat. Er laufe plötzlich weg, schreie und reagiere nicht auf Ansprache oder springe wild umher mit entsprechender Verletzungsgefahr, so dass seine Mutter physisch eingreifen müsse. Diese Zustände hielten in der Regel 20 Minuten an und träten durchschnittlich ein bis zweimal pro Woche auf. Die krankheitsspezifischen Pflegemaßnahmen seien untrennbar miteinander verbunden. Eine Essenaufnahme sei ohne vorherige Blutzuckermessung, Dokumentation und Insulingabe nicht möglich. Diese Maßnahmen seien genauso unverzichtbar wie das Kleinschneiden von Brot für andere Pflegebedürftige. Zudem sei eine Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme unverzichtbar, weil dann zu wenig oder zu viel Nahrungsaufnahme zu weiteren ggf. lebensbedrohlichen Blutzuckerschwankungen führe. Auch hier sei ein Ermessenspielraum weder erkannt noch ein Ermessen ausgeübt worden. Auch die nächtliche Hilfsbereitschaft der alleinerziehenden Mutter sei nicht berücksichtigt worden. Inzwischen sei beim ihm auch eine verminderte Sehkraft festgestellt worden. Dies erfordere zusätzliche Untersuchungen, die zeitlichen Aufwand verursachten.

Im Auftrag der Beklagten erstellte die Pflegefachkraft S. auf Grund einer Untersuchung vom 27. Mai 2014 unter dem 28. Mai 2014 ein Gutachten. Sie kam zu dem Ergebnis, dass ein täglicher Grundpflegebedarf von 37 Minuten pro Tag (Körperpflege: 14 Minuten; Ernährung: 10 Minuten; Mobilität: 13 Minuten) bestehe. Die Diabeteserkrankung des Klägers bedeute einen sehr hohen krankheitsbedingen Mehraufwand im Bereich der Behandlungspflege rund um die Uhr. Belastend sei, dass diese Tätigkeiten nur an Personen mit sehr guten Kenntnissen delegiert werden könne, da bei Unterzuckerung Lebensgefahr bestehe. Besonders belastend seien auch die nächtlichen Einsätze. Der überwiegende krankheitsbedingte Pflegeaufwand liege jedoch im Bereich der medizinischen Pflege, der sog. Behandlungspflege in Form von Blutzuckermessungen und Insulininjektionen. Das Abwiegen der Nahrung und die spezielle Diät seien der Hauswirtschaft zuzuordnen. Die Alterskompetenz des Klägers sei im Sinne der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI nicht eingeschränkt.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2014 unter Hinweis auf die Gutachten des MDK zurück. Ein Ermessenspielraum bestehe nicht. Der erforderliche Zeitaufwand für die Blutzuckermessungen und das Spritzen von Insulin gehöre zur Behandlungspflege und sei somit im Rahmen der Grundpflege nicht berücksichtigungsfähig. Auch der Mehraufwand für die zusätzlichen Essensgaben und die Aufzeichnung der jeweiligen Broteinheiten begründeten keinen zusätzlichen Hilfeaufwand im Bereich der Grundpflege.

Der Kläger erhob am 28. August 2014 Klage beim SG. Sein Stoffwechsel sei so grundlegend und irreparabel gestört, dass er ohne Insulingaben und im Fall lebensbedrohlicher Unterzuckerung Glukagongaben (dies sei bis jetzt bereits zweimal der Fall gewesen) sterben würde und zwar unabhängig von einer Aufnahme von Kohlehydraten über die Nahrung. Ihm fehlten auf Grund seines Alters die verstandesmäßige Einsicht in die Erfordernisse der Therapie, die Fähigkeit zur eigenständigen Medikation, zur eigenständigen adäquaten Reaktion auf Blutzuckerschwankungen, zur Dokumentation sowie zur eigenständigen, insbesondere nächtlichen Blutzuckerkontrolle. Nach dem Willen des Gesetzgebers zählten krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, wenn sie zur Aufrechterhaltung körperlicher Grundfunktionen erforderlich seien, zur Grundpflege. Vorliegend zählten deshalb die Blutzuckerkontrollen, die Insulingaben sowie die Essensgaben selbst zur Grundpflege, denn sie dienten der lebensrettenden Aufrechterhaltung des gesamten Stoffwechselsystems und Hormonhaushaltes, ohne die weder ein Leben überhaupt möglich wäre noch irgendeine Nahrungsaufnahme erfolgen könne. Es seien daher die Blutzuckerkontrollen, die Berechnung und Dokumentation der notwendigen Insulingaben für die Grundversorgung, die Stabilisation des Blutzuckers sowie die Nahrungsaufnahme, die Bereit- und Zusammenstellung der Nahrung bei Unterzuckerungen, bei Überzuckerungen und bei normalen Mahlzeiten, die Überwachung der Einhaltung des Ess- Spritz-Abstandes sowie die Überwachung der Nahrungsaufnahme zu berücksichtigen. Bei ihm liege eine besondere Form eines schwer einstellbaren Diabetes vor, die durch häufige und jeweils plötzlich auftretende Insulinempfindlichkeitsschwankungen geprägt sei, weshalb die Einstellung ständig angepasst werden müsse, was im Abstand teils sogar weniger Tage engmaschige, vor allem nächtliche Blutzuckerkontrollen erforderlich mache, um die bereits zweimal aufgetretenen lebensbedrohlichen Unterzuckerungen zu vermeiden. Erschwerend komme hinzu, dass er ein schlechter Esser sei, der häufig abgesprochene und dann entsprechend gespritzte Essensmengen nicht aufesse. Dem Gesetzgeber sei es auf Grund der unüberschaubaren Vielzahl von Erkrankungen sowie deren individuellen Ausprägungen nicht möglich, abschließend bestimmte Erkrankungen pauschal für eine Bewilligung von Leistungen auszuschließen. Insbesondere sei die Zahl der an Kleinkinddiabetes erkrankten Personen im Vergleich zu den übrigen Diabetikern verschwindend gering, so dass auch insoweit dem Gesetzgeber kein genereller Ausschlusswille unterstellt werden dürfe. Einer bloß deklaratorischen Anerkennung der enormen Pflegebelastung der allein erziehenden Mutter stehe die Doktrin des Gesetzgebers, der die kostengünstigere häusliche Pflege anzuerkennen und zu unterstützen wünsche, entgegen. Es sei zu berücksichtigen, dass nur eine gute Pflege der Beklagten und somit der Solidargemeinschaft die enormen Kosten für sonst später zwangsläufig auftretenden Sekundärerkrankungen ersparen könne. Der Kläger widersprach der Einholung eines vom SG in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens durch eine Pflegeberaterin und Fachwirtin für Sozialwesen. Diese könne die aufgeworfene Frage, ob und ggf. in welchem Umfang krankheitsspezifische medizinische Behandlungspflegemaßnahmen mit Verrichtung der Grundpflege aus medizinischer Sicht in untrennbarem Zusammenhang stünden, mangels fachspezifischer Qualifikation nicht beantworten. Erforderlich sei ein ärztliches Gutachten. Der Kläger trug weiter vor, dass die Beklagte gemäß § 37 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) die Behandlungspflege bezahlen müsse, weil für ihn das Wahlrecht bestehe, ob diese durch die Pflegeversicherung oder die Krankenkasse bezahlt werde. Hiervon habe er bereits im vorgerichtlichen Verfahren ausdrücklich Gebrauch gemacht und sich für eine Leistung durch die Beklagte entschieden. Das Bundessozialgericht (BSG) habe auch entschieden, dass einzige Voraussetzung hierfür die positive fachmedizinische Beantwortung der Frage sei, ob die zur Grundpflege additiv geltend gemachte Behandlungspflege untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung der Grundpflege sei oder in objektiv notwendigem unmittelbar zeitlichen wie sachlichen Zusammenhang mit dieser stehe. Entsprechend habe das BSG bei einem Blinden und an Diabetes erkrankten Versicherten Blutzuckermessungen und Insulininjektionen wie auch das Richten der Mahlzeiten als Pflegezeit voll anerkannt. Sein Fall sei insoweit vergleichbar als er die in untrennbaren unmittelbaren Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme stehenden Therapiemaßnahmen selbst nicht ausführen könne, denn er besitze auf Grund seines geringen Alters weder die notwendige Einsichtsfähigkeit in die konkreten Therapiemaßnahmen als solche noch könne er diese selbst vornehmen, weil er weder lesen noch schreiben noch rechnen und auch nicht selbst Blutzucker messen und keine Spritze fachgerecht aufziehen oder setzen könne, also für die gesamte komplexe Nahrungsaufnahme vollständig auf die Pflegeperson angewiesen sei. Der Kläger beantragte gemäß § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Einholung eines Sachverständigengutachtens durch den Leiter der Diabetologie der Kinder- und Jugendklinik des Universitäts-Klinikums Freiburg, Prof. Dr. Sch ...

Die Beklagte tragt der Klage im Wesentlichen unter Hinweis auf ihren Widerspruchsbescheid entgegen.

Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. Dezember 2014 ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuordnung zur Pflegestufe I und die Gewährung entsprechender Leistungen in Form von Pflegegeld. Der Hilfebedarf des Klägers bei der Verrichtung der gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens auf Grund von Krankheiten und Behinderungen erreiche nicht die für die Zuordnung zur Pflegestufe I erforderlichen 90 Minuten täglich. Insbesondere erreiche das Maß der Hilfebedürftigkeit im Vergleich zu gleichalterigen Kindern im Bereich der Grundpflege nicht mehr als 45 Minuten pro Tag. Das SG stütze sich auf die Gutachten der Pflegefachkräfte W. und S ... Der erforderliche Zeitbedarf für die Blutzuckermessung, das Spritzen von Insulin nebst Berechnung und Dokumentation der Insulingaben und die Überwachung der Einhaltung des Ess-Spritz-Abstandes gehörten zur Behandlungspflege und seien somit im Rahmen der Grundpflege nicht berücksichtigungsfähig. § 37 SGB V sei nicht einschlägig, weil der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs. 3 SGB V vorliegend ausgeschlossen sei. Der Kläger könne durch seine Mutter im erforderlichen Umfang gepflegt und versorgt werden. Auch ein Mehraufwand für die Bereitung und Zusammenstellung der Nahrung begründe kein zusätzlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege. Zwar sei es nachvollziehbar, dass der Mutter des Klägers für diese Verrichtung ein erheblicher Zeitaufwand entstehe, der ohne die Erkrankung des Klägers nicht entstehen würde. Jedoch handele es sich bei dieser Verrichtung um eine solche hauswirtschaftlicher Art. Denn erst die mundgerechte Zubereitung der Mahlzeit auf dem Teller und die Aufnahme der Nahrung seien Verrichtungen der Grundpflege. Bei diesen Verrichtungen sei ein über den von den Gutachtern des MDK festgestellten Hilfebedarf von zehn Minuten hinausgehender Hilfebedarf nicht nachzuvollziehen. Denn eine Beaufsichtigung und Kontrolle bei der Nahrungsaufnahme sei nur als berücksichtigungsfähige Hilfe einzustufen, wenn sie von einer solchen Intensität sei, dass die Pflegeperson – wie beim Füttern – praktisch an der Erledigung anderer Aufgaben gehindert sei bzw. diese, wenn auch möglicherweise nur kurzzeitig, unterbrechen müsse, die Hilfe also über das gewissermaßen nebenbei erfolgende bloße im Auge behalten des Pflegebedürftigen und das nur vereinzelt gelegentliche Auffordern bzw. Ermahnen hinausgehe. Der Kläger könne jedoch altersentsprechend zubereitete Mahlzeiten nach den vorliegenden Gutachten selbstständig zu sich nehmen und die Mutter des Klägers sei daher in der Lage, während der Beaufsichtigung der Nahrungsaufnahme auch andere Tätigkeiten auszuführen. Dem Antrag des Klägers, ein Gutachten nach § 109 SGG durch Prof. Dr. Sch. einzuholen, sei nicht nachzukommen gewesen. Denn es – das SG – unterstelle die Angaben des Klägers zur Notwendigkeit und Dauer der in Zusammenhang mit der Erkrankung des Klägers erforderlichen Verrichtungen als wahr. Diese seien jedoch aus rechtlichen Gründen bei der Berechnung des Hilfebedarfs nicht berücksichtigungsfähig. Über rechtliche Fragen könne jedoch nicht durch die Einholung eines medizinischen Gutachtens Beweis erhoben werden.

Gegen den ihm am 31. Dezember 2014 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 20. Januar 2015 beim SG Berufung eingelegt. Das SG begnüge sich mit reinen leerformelhaften Behauptungen, die keinerlei konkrete Rückschlüsse auf seine tatsächlichen wie rechtlichen Erwägungen zuließen, denn das bloße Auflisten von Entscheidungen anderer Gerichte reiche zur Begründung nicht aus. Das SG sei vielmehr verpflichtet, eine Einzelfallentscheidung zu treffen, die den jeweiligen Besonderheiten der zu entscheidenden Rechtssache ausreichend Rechnung trage. Keine der vom SG genannten Entscheidungen beziehe sich auf den Fall eines an Kleinkinddiabetes erkrankten Kindes in seinem Alter und seien damit vorliegend unzweifelhaft nicht übertragbar. Denn die Besonderheiten ergäben sich vorliegend nicht nur aus den besonderen über das Kleinkindalter weit hinweg andauernden medizinischen Problemen des Kleinkinddiabetes, sondern auch aus der altersbedingten geistigen Unreife. Zu den medizinischen Besonderheiten des Kleinkinddiabetes habe das SG keinerlei fachärztliche Gutachten eingeholt und habe auch auf die anerbotene Anhörung eines Facharztes verzichtet. Das SG besitze allerdings keine entsprechenden fachmedizinischen Kenntnisse, die eine Beurteilung des Sachverhaltes zuließen. Die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid hätten damit erkennbar nicht vorgelegen. Das SG habe zudem sein Recht aus § 109 Abs. 1 SGG missachtet, denn die Voraussetzungen des § 109 Abs. 2 SGG hätten ersichtlich nicht vorgelegen. Insoweit müsste das Berufungsgericht zunächst das nach § 109 Abs. 1 SGG beantragte Gutachten einholen und ggf. weitere Amtsermittlungen führen. Die Beteiligten müssten nach Stuttgart reisen, obwohl sie auch in Freiburg verhandeln könnten, was auch mit weiteren Kosten und in seinem Fall mit großen Mühen verbunden sei. Für die Überbürdung des Rechtsmittelgerichtes mit den ureigenen Aufgaben des Erstgerichtes sei auch kein wichtiger Grund ersichtlich. Nachdem die Sache nun schon drei Jahre anhängig sei, drohe auch kein weiterer wesentlicher Zeitverlust durch eine Rückverweisung an das Ausgangsgericht. Er habe Anspruch auf ein ordnungsgemäße Erstentscheidung, die er dann ggf. am Zweitgericht voll umfänglich überprüfen lassen könne. Der Beschluss des Senats vom 12. Dezember 2012 (L 4 P 4264/12 ER-B – nicht veröffentlicht) sei für die Beurteilung seiner Berufung vollends ungeeignet. Der Senat habe sich damals auf eine rein summarische Prüfung beschränkt und die weitere Sachaufklärung in die Zuständigkeit des Hauptsacheverfahrens gestellt. Der Kläger hat den Arztbrief des Prof. Dr. Henneke, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Freiburg, vom 10. April 2015 über die stationäre Behandlung vom 7. bis 10. April 2015 wegen eines Zustands nach Bewusstlosigkeit mit tonischem Krampfanfall vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Dezember 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Dezember 2013 Pflegegeld mindestens nach der Pflegestufe I zu gewähren, hilfsweise den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Dezember 2014 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Freiburg zurückzuverweisen, hilfsweise ein Gutachten des Prof. Dr. Sch. gemäß § 103 SGG, weiter hilfsweise § 109 Abs. 1 SGG zu der Frage einzuholen, ob und ggf. in welchem Umfang krankheitsspezifische Behandlungspflegemaßnahmen mit der Verrichtung der Grundpflege aus medizinischer Sicht in einem derart untrennbaren Zusammenhang stehen, dass sie gemäß §§ 14, 15 SGB XI bei der pflegefachlichen Begutachtung zwingend zu berücksichtigen sind.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf die angegriffene Entscheidung des SG.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Akte des Senats im Verfahren L 4 P 4264/12 ER-B, die Akte des SG im Verfahren S 18 P 4154/12 sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da der Kläger Leistungen für mehr als ein Jahr begehrt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2014 und das Begehren des Klägers auf Gewährung von Pflegegeld ab dem 1. Dezember 2013 (vgl. 33 Abs. 1 Satz 3 SGB XI). Zwar hat der Kläger in dem am 1. Dezember 2013 unterzeichneten und am 4. Dezember 2013 bei der Beklagten eingegangenen Antrag angekreuzt, Sachleistung und Pflegegeld zu beantragen. Bereits im Widerspruchsschreiben vom 31. Januar 2014 ist indes nur von "Pflegegeldantrag" die Rede; auch in der Klageschrift vom 27. August 2014 wird "wegen Pflegegeldes" Klage erhoben. Auch der Sache nach hat der Kläger stets keine Sachleistungen, sondern nur Pflegegeld beantragt, denn es ging ihm stets um eine finanzielle Anerkennung der Tätigkeit seiner Mutter und nicht um die Finanzierung von Pflegeleistungen durch Dritte.

2. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 2. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2014 ist rechtmäßig. Der Kläger hat seit dem 1. Dezember 2013 keinen Anspruch auf Pflegegeld (dazu unter b). Auch eine Zurückverweisung an das SG kommt nicht in Betracht (dazu unter a). Weitere Ermittlungen waren nicht durchzuführen (dazu unter c).

a) Die Voraussetzungen für Zurückverweisung der Sache an das SG liegen nicht vor. Gemäß § 159 Abs. 1 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn (1.) dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, oder (2.) das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor. Das SG hat in der Sache selbst entschieden, so dass § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG nicht einschlägig ist. Aber auch die Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG sind nicht gegeben. Dies gilt jedenfalls deswegen, weil keine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist; der Rechtsstreit ist vielmehr – aus den sogleich darzulegenden Gründen – entscheidungsreif. Unabhängig davon ist im Zweifel die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, im Interesse einer zügigen Erledigung des Verfahrens vorzugswürdig (ständige Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2002 – B 6 KA 1/02 R – in juris, Rn. 18 und BSG, Beschluss vom 7. Mai 2009 – B 14 AS 91/08 B – in juris, Rn. 7).

b) aa) Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 SGB XI können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen.

Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (Nr. 2) und der Mobilität (Nr. 3). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, bei der Zahnpflege, beim Kämmen, Rasieren sowie bei der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Denn § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs bzw. die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2002 – B 3 P 12/01 R – in juris, Rn. 12 ff.; Urteil des Senats vom 30. März 2012 – L 4 P 342/10 – in juris, Rn. 27; Urteil des Senats vom 3. August 2012 – L 4 P 5324/11 – in juris, Rn. 26). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Begutachtungs-Richtlinien zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 der Begutachtungs-Richtlinien; vgl. BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 7/97 R – in juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 13. Mai 2004 – B 3 P 7/03 R – in juris, Rn. 32 m.w.N.; BSG, Urteil vom 6. Februar 2006 – B 3 P 26/05 B – in juris, Rn. 8; Urteil des Senats vom 30. März 2012 – L 4 P 342/10 – in juris, Rn. 27; Urteil des Senats vom 3. August 2012 – L 4 P 5324/11 – in juris, Rn. 26). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft. Die Zeiten für den Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen beruhen regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (BSG, Urteil vom 10. März 2010 – B 3 P 10/08 R – in juris, Rn. 20 m.w.N.).

Bei Kindern ist nach § 15 Abs. 2 SGB XI für die Zuordnung zu einer Pflegestufe nur der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend. Damit wird klargestellt, dass der natürliche, altersentsprechende Pflegebedarf von Kindern, der jeweils vom Lebensalter der Betroffenen abhängt, unberücksichtigt bleibt und allein auf den das altersübliche Maß übersteigenden Aufwand abzustellen ist (BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 3/97 R – in juris, Rn. 30; BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 5/97 R – in juris, Rn. 27; BSG, Urteil vom 26. November 1998 – B 3 P 20/97 R – in juris, Rn. 24).

bb) Diese Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegegeld liegen beim Kläger nicht vor.

(1) Der Kläger leidet seit November 2011 an einem Diabetes mellitus Typ I sowie wiederholter Enuresis nocturna. Weitere pflegerelevante Diagnosen bestehen beim Kläger jedenfalls im streitgegenständlichen Zeitraum nicht. Insbesondere bestehen beim Kläger keine funktionellen Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates. Der Kläger ist vielmehr körperlich altersentsprechend entwickelt. Er kann frei gehen, stehen und klettern. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten der Pflegefachkraft W., das er im Wege des Urkundsbeweises verwerten konnte (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 14. November 2013 – B 9 SB 10/13 B – in juris, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. Februar 2008 – B 2 U 8/07 R – in juris, Rn. 51). Im Übrigen behauptet der Kläger auch selbst keine funktionellen Einschränkungen.

(2) Der Senat entnimmt den Gutachten der Pflegefachkräfte W. und S. einen Hilfebedarf bei der Körperpflege von 14 bis maximal 24 Minuten täglich, der Ernährung von zehn Minuten täglich und der Mobilität (Ankleiden und Entkleiden) von zwei bis drei Minuten täglich. Entgegen dem Gutachten der Pflegefachkraft S. ist für Mobilität keine Hilfebedarf anzusetzen, denn insoweit fehlt es an der wöchentlichen Regelmäßigkeit des Aufsuchens von Ärzten (dazu noch unten); Pflegefachkraft S. geht selbst nur von durchschnittlich Arztbesuchen in Abstand von 14 Tagen aus. Damit wird ein täglicher Grundpflegebedarf von allenfalls 37 Minuten erreicht.

Die (weiteren) mit dem Diabetes zusammenhängenden Verrichtungen, die die Mutter des Klägers ausführen muss, können bei der Berechnung des Grundpflegebedarfs nicht berücksichtigt werden.

Bei an Diabetes erkrankten Versicherten, insbesondere Kindern, ist – wie der Senat auch bereits gegenüber den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens entschieden hat (Beschluss des Senats vom 12. Dezember 2012 – L 4 P 4264/15 ER-B – nicht veröffentlicht; ferner Urteil des Senats vom 27. April 2012 – L 4 P 3854/11 – nicht veröffentlicht) – zu unterscheiden zwischen Grundpflege- und hauswirtschaftlichem Hilfebedarf andererseits, insbesondere beim Bereich der Ernährung. Die gesamte Vorbereitung der Nahrungsaufnahme (Einkaufen, Kochen, Vor- und Zubereiten der Bestandteile der Mahlzeiten, Tätigkeiten des Berechnens, Abwiegens und der Zusammenstellung der Speisen zur Herstellung der erforderlichen Diät) gehört nicht zur Grundpflege (Bereich der Ernährung), sondern zum Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 – B 3 P 5/97 R – in juris, Rn. 10 f.). Zur Hauswirtschaft gehört auch als Abschluss des "Kochens" das anhand der Diätvorschriften vorzunehmende Bemessen und Zuteilen der zubereiteten Nahrung bzw. der Nahrungsbestandteile. Letzteres rechnet auch nicht zum mundgerechten Zubereiten der Nahrung im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI, bei dem es nur darum geht, dass die zubereitete Nahrung so aufbereitet wird, dass der Pflegebedürftige sie greifen, zum Mund führen, zerkauen und schlucken kann (BSG, Urteile vom 17. Juni 1999 – B 3 P 10/98 R – in juris, Rn. 14, und vom 28. Juni 2001 – B 3 P 12/00 R – in juris, Rn. 15 f.). Daran ändert sich nichts, dass bei dem Kläger im Hinblick auf seine Diabetes-Erkrankung im Gegensatz zu gesunden Kindern neben drei Hauptmahlzeiten und einer Zwischenmahlzeit noch weitere Mahlzeiten erforderlich sind.

Der Senat verkennt nicht, dass es beim Kläger – altersbedingt – an der notwendigen Einsicht mit Blick auf das Ernährungsverhalten fehlt, weshalb dies durch die Pflegeperson zu kompensieren ist. Allein für die Überwachung der Aufnahme der erforderlichen Nahrungsmenge sowie der Anleitung und Aufforderung während der täglichen Mahlzeiten ergibt sich aber kein Zeitaufwand für die Aufnahme der Nahrung von mehr als 45 Minuten täglich, auch wenn man, zumindest bei einem Kind, einen zur Grundpflege zählenden Hilfebedarf bei der Aufnahme der Nahrung mit der Erwägung bejaht, dass bei einem Kind ein Hilfebedarf bestehe, wenn es zum Essen angehalten werden müsse, weil ihm die Einsichtsfähigkeit dafür fehle, dass es aus Gesundheitsgründen notwendig sei, Widerwillen erregende Speisen oder Speisen in großen Mengen – über den Appetit hinaus – einzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 1999 – B 3 P 12/98 R – in juris, Rn. 16). Denn eine Beaufsichtigung und Kontrolle bei der Nahrungsaufnahme ist nur als berücksichtigungsfähige Hilfe einzustufen, wenn sie von einer solchen Intensität ist, dass die Pflegeperson wie beim Füttern praktisch an der Erledigung anderer Aufgaben gehindert ist bzw. diese, wenn auch möglicherweise nur kurzzeitig, unterbrechen muss, die Hilfe also über das – gewissermaßen "nebenbei" erfolgende – bloße "im Auge behalten" des Pflegebedürftigen und das nur vereinzelte, gelegentliche Auffordern bzw. Ermahnen hinausgeht (BSG, Beschluss vom 8. Mai 2001 – B 3 P 4/01 B – in juris, Rn. 4; siehe auch D 4.0/II Begutachtungs-Richtlinien). Der Senat geht insoweit davon aus, dass es bei dem Kläger, wie auch bei gleichaltrigen (inzwischen sechsjährigen) Kindern, die nicht an Diabetes mellitus leiden, um die Beaufsichtigung geht, ob er die Nahrung im vorgesehenen Maße aufnimmt. Der Senat vermag deshalb nicht festzustellen, dass hier die Mutter des Klägers insbesondere bei den jeweiligen gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie durch die Überwachung der Nahrungsaufnahme in solchem Umfang zeitlich und örtlich eingebunden ist, dass sie anderweitigen Tätigkeiten nicht nachgehen kann. Ebenso verhält es sich auch mit Blick auf die vom Kläger geltend gemachte Zeit zwischen dem Spritzen des Insulins und der Essensaufnahme. Auch insoweit handelt es sich um die Beaufsichtigung, die auch bei gleichaltrigen Kindern notwendig ist.

Bei Diabetikern, auch soweit es sich um Kinder handelt, rechnen auch Blutzuckertests (einschließlich der Führung eines Blutzucker-Tagebuchs) sowie das Spritzen von Insulin sowohl als Basisinsulin als auch als Korrekturinsulin zu den Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen auch bei dem Kläger kein unmittelbarer Zusammenhang mit der "Aufnahme der Nahrung" im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI besteht (vgl. BSG, Urteile vom 17. Juni 1999 – B 3 P 10/98 R – in juris, Rn. 15; BSG, Urteil vom 28. Mai 2003 – B 3 P 6/02 R – in juris, Rn. 18).

Ein Bedarf kann auch nicht mit Blick auf die Müdigkeit des Klägers bei plötzlich auftretenden Hyper- wie Hypoglykämien mit der Folge, dass er getragen oder gefahren werden muss, berücksichtigt werden, denn insoweit ist nicht ersichtlich, dass diese im Zusammenhang mit anderen Grundpflegeverrichtungen notwendig sind.

Auch die Berücksichtigung von Arztbesuchen kommt nicht in Betracht. Erforderlich ist insoweit, dass wöchentliche Arztbesuche stattfinden und stattgefunden haben (vgl. BSG, Urteil vom 29. April 1999 – B 3 P 7/98 R – in juris, Rn. 26; BSG, Urteile vom 17. Juni 1999 – B 3 P 10/98 R – in juris, Rn. 16). Dass dies der Fall wäre, behauptet auch der Kläger nicht. Darauf, ob der Kläger öfter als ein gleichaltriges gesundes Kind dem Arzt vorzustellen ist, kommt es hingegen nicht an. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund der vom Kläger geltend gemachten zusätzlichen Untersuchungen aufgrund einer eingetretenen verminderten Sehkraft. Auch insofern behauptet der Kläger nicht die Notwendigkeit wöchentlicher Arztbesuche.

Ermessen hatte die Beklagte entgegen der Auffassung des Klägers nicht auszuüben. Bei der Gewährung von Pflegegeld handelt es sich um gebundene Entscheidungen, bei denen der Behörde kein Ermessen zusteht. Liegen die Anspruchsvoraussetzungen vor, sind die Leistungen zu gewähren; sind – wie hier – die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt, darf die Behörde die Leistungen nicht gewähren.

c) Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren nicht durchzuführen. Entgegen dem Eindruck, den der Kläger offenbar zu erzeugen versucht, hat der Senat auch in seinem im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegenüber den Beteiligten ergangenen Beschluss des Senats vom 12. Dezember 2012 (L 4 P 4264/15 ER-B – nicht veröffentlicht) nicht ausgeführt, dass im Hauptsacheverfahren weitere Ermittlungen durchzuführen wären. Der Senat hat zum Einen bereits in diesem Beschluss ausgeführt, dass aus rechtlichen Gründen eine Berücksichtigung des vom Kläger behaupteten Pflegeaufwands nicht möglich sei. Zum Anderen hat der Senat lediglich darauf hingewiesen, dass das einstweilige Rechtsschutzverfahren aufgrund seines vorläufigen und eiligen Charakters nicht der geeignete Ort für eine abschließende Sachaufklärung ist, sondern dass eine abschließende Klärung im Hauptsachverfahren stattfindet. Dies bedeutet aber nicht, dass in jedem Hauptsacheverfahren stets (weitere) Ermittlungen durchzuführen seien, sondern nur, wenn dies im konkreten Einzelfall geboten ist.

Auch dem Antrag des Klägers, ein Gutachten bei Prof. Dr. Sch. gemäß § 109 Abs. 1 SGG einzuholen, war nicht zu folgen. Zwar muss gemäß § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG auf Antrag des Versicherten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Dies gilt aber unter anderem nicht, wenn es auf die Frage, zu der der Arzt Stellung nehmen soll, nicht ankommt (BSG, Urteil vom 20. April 2010 – B 1/3 KR 22/08 R – in juris, Rn. 16 f.) oder das Gericht die zu beweisende Tatsache bereits für erwiesen erachtet (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 109 Rn. 12; Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 109 Rn. 26). Beide Ausschlussgründe liegen hier vor. Denn der Senat hält den Vortrag des Klägers hinsichtlich des durch die Diabeteserkrankung entstehenden zeitlichen Aufwandes für seine Mutter für wahr. Hierauf kommt es aber nicht an, weil dieser zeitliche Aufwand aus den dargelegten – rechtlichen! – Gründen nicht bei der Bemessung des Pflegebedarfs berücksichtigt werden kann.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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