L 4 R 4616/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 21 R 2576/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 4616/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 25. September 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 25. September 2014 wird verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob dem Kläger Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren ist.

Der Kläger ist am 1969 geboren und bei der Beklagten rentenversichert. In Folge eines Arbeitsunfalles im Jahr 2004 kam es zu einer Teilamputation von zwei Fingern seiner rechten Hand knapp oberhalb der Mittelgelenke. Im Jahr 2006 erlitt er einen Hirninfarkt. Seit dem 12. Februar 2006 ist bei ihm ein Grad der Behinderung von 60 anerkannt. Vom 1. August 2006 bis zum 31. Januar 2008 bezog er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Beklagten (zuletzt Bescheid vom 24. April 2007). Ein Antrag des Klägers vom 17. September 2007 auf Weiterzahlung seiner Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos (Bescheid der Beklagten vom 14. November 2007, Widerspruchsbescheid vom 17. April 2008). In dem vom Kläger beim Sozialgericht Freiburg (SG) sodann angestrengten Klageverfahren (S 4 R 2280/08) wurde am 3. März 2011 ein Vergleich geschlossen, nach dem die Beklagte dem Kläger Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt.

Vom 10. bis 17. Oktober 2011 nahm der Kläger daraufhin an einer Belastungserprobung in einer Rehabilitationswerkstatt teil. In einer fachdienstlichen Stellungnahme vom 3. November 2011 führte die Fachberaterin Z. vom Integrationsfachdienst in O. aus, dass der Kläger an verschiedenen Elektroarbeitsplätzen mit einfachen Tätigkeiten gearbeitet habe. Hierbei habe er auch seine beruflichen Erfahrungen als Energieelektroniker nutzen können. Sein anfänglich hohes Arbeitstempo, mit dem er sich offensichtlich selbst etwas habe beweisen wollen, habe verringert werden müssen, da es ihm dabei schlecht gegangen sei und er zeitlich nicht lange habe durchhalten können. Nach kurzer Zeit sei ersichtlich gewesen, dass es dem Kläger nicht möglich sei, drei bis vier Stunden am Stück zu arbeiten. Nach eindreiviertel bis zwei Stunden habe bei ihm eine vorzeitige Erschöpfung mit vermehrten Kopfschmerzen und Augendruck, Konzentrationsproblemen und Schwindel eingesetzt. Körperlich sei er in seiner Motorik leicht eingeschränkt gewesen. Kleinteiliges Arbeiten sei ihm sehr schwer gefallen und habe ihn unruhig und nervös gemacht. Der Verpackungsbereich sei für ihn etwas erträglicher gewesen. Hier habe er zeitlich besser durchhalten können. Trotz der Werkstattbedingungen mit angepassten Arbeitsabläufen, den häufigen Pausen und moderaten Anforderungen habe der Kläger alle zwei Stunden eine Zusatzpause benötigt. Auch auf die Umgebungseinflüsse (Menschen, Geräusche und Lichtreize) habe er psychisch mit vermehrter Anspannung und Nervosität reagiert. Im Unterschied zu seinem ruhigen häuslichen Umfeld habe er sich in der Werkstatt deutlich belastet gefühlt. Auch der Arbeitsweg habe sich schwierig gestaltet. Er sei mit dem Zug gefahren und habe vom Bahnhof zur Werkstatt einen Fußweg von ca. einem Kilometer zu bewältigen gehabt. Der Kläger habe auch über seine Sehprobleme, über eine Gangunsicherheit und Schwierigkeiten mit der räumlichen Orientierung geklagt. Blickbewegungen hätten bei ihm Schwindel ausgelöst. Andernorts sei er deshalb schon öfters gestürzt. Seine Arbeitsleistung sei von der Werkstatt positiv bewertet worden. So habe sich der Kläger im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Abläufe einfinden können. Er habe ordentlich, gewissenhaft und zuverlässig gearbeitet. Die Qualität seiner Arbeit sei sehr gut gewesen.

Unter dem 20. Oktober 2011 beantragte der Kläger erneut Rente wegen Erwerbsminderung.

Im Auftrag der Beklagten wurden verschiedene ärztliche Gutachten aufgrund von Untersuchungen des Klägers vom 15. Dezember 2011 erstellt. Fachärztin für Chirurgie Dr. L. diagnostizierte in einem chirurgisches Zusatzgutachten vom 21. Dezember 2011 eine leicht verminderte Belastbarkeit der Rumpfwirbelsäule bei geringen funktionellen Einbußen und Nachweis degenerativen Veränderungen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäulen sowie eine leichte Funktionsbeeinträchtigung der rechten Hand, vorwiegend für schwere Tätigkeiten und das Greifen großer Gegenstände auf Grund eines Arbeitsunfalles mit Amputation der Finger D2 und D3 im Mittelglied. Auf Grund dieser Diagnosen bestehe ein über sechsstündiges Leistungsvermögen für leichte und mittelschwere Arbeiten in jeder Arbeitshaltung. Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. diagnostizierte in ihrem neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten vom 21. Dezember 2011 einen Zustand nach Thalamusinfarkt links im Februar 2006 in Vollremission sowie Neurasthenie. Der Kläger könne körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in quantitativer Hinsicht sechs und mehr Stunden verrichten. Arzt für Innere Medizin Dr. M. erstellte unter Berücksichtigung der Zusatzgutachten ein mehrfachärztliches Gutachten vom 30. Januar 2012. Er wiederholte die Diagnosen aus dem Zusatzgutachten und hielt zusammenfassend fest, dass das Leistungsvermögen des Klägers qualitativ, aber nicht quantitativ eingeschränkt sei. Nicht mehr möglich seien Tätigkeiten mit besonderem Zeitdruck, mit erhöhtem Stress, mit Nachtschicht, mit längeren Wirbelsäulenzwangshaltungen, mit häufigem Bücken, mit Anheben von Gegenständen aus gebückter Haltung heraus, mit gehäuftem Greifen und Hantieren mit großen und von schweren Gegenständen mit der rechten Hand sowie körperlich schwere und ausschließlich mittelschwere Tätigkeiten.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung daraufhin mit Bescheid vom 3. Februar 2012 ab. Hiergegen erhob der Kläger am 24. Februar 2012 Widerspruch.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 zurück. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ständig im Stehen, ständig im Gehen, ständig im Sitzen, in Tagesschicht sowie Frühschicht/Spätschicht, ohne besonderen Zeitdruck, ohne längere Wirbelsäulenzwangshaltung, ohne häufiges Bücken, ohne erhöhten Stress, ohne Anheben von Gegenständen aus gebückter Haltung heraus sowie ohne gehäuftes Greifen und Hantieren mit großen und schweren Gegenständen mit der rechten Hand sechs Stunden und mehr täglich zumutbar verrichten.

Hiergegen erhob der Kläger am 24. Mai 2012 Klage beim SG. Er verwies auf die Stellungnahme der Fachberaterin Z. vom 3. November 2011 und trat den Sachverständigengutachten des Dr. B. und teilweise des Dr. R. (dazu jeweils unten) entgegen.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Sie legte sozialmedizinische Stellungnahmen der Dr. E. vom 6. März 2014 und vom 22. September 2014 vor.

Das SG holte schriftlich sachverständige Zeugenaussagen (des Arztes für Neurologie F. vom 7. August 2012 [wegen des bestehenden Psychosyndroms keine körperliche Berufstätigkeit von mehr als sechs Stunden] und des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. St. vom 17. August 2012 [wegen eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit und zunehmender Adynamie keine berufliche Tätigkeit in einem Umfang von mehr als sechs Stunden]) sowie ein Sachverständigengutachten von Amts wegen ein. Neurologe und Psychiater Dr. B. erstellte unter dem 29. November 2012 auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom selben Tag ein neurologisches und psychiatrisches Gutachten. Er diagnostizierte neben einer Amputation des jeweiligen Mittelglieds des Zeige- und Mittelfingers rechts und subjektiven Sehstörungen eine Dysthymia, das heißt eine chronifizierte Depression mit ängstlich vermeidender Grundhaltung mit Hauptcharakteristikum einer Klage über vermehrte Müdigkeit bzw. Ermüdung bei geistigen Anstrengungen, abnehmendem Leistungsvermögen, verbunden mit Schwindel, Spannungskopfschmerz und Reizbarkeit im Sinne einer Neurasthenie. Hierbei handele es sich um eine diagnostische Kategorie, die auf eine subjektive Beschwerdeschilderung gründe und in vielen Ländern nicht mehr als Diagnose akzeptiert werde. Die diagnostische Einordnung sei bei zusätzlicher depressiver Symptomatik und bis in die frühe Kindheit zurückreichenden Verhaltensauffälligkeiten nicht zu stellen. Eine Behandlung mit einem antriebssteigernden, die Stimmung verbessernde Antidepressivum könne versucht werden. Die diagnostische Verwertbarkeit der gemachten Angaben sei bei über Jahre laufendem Rentenbegehren eingeschränkt. Aus neurologischer Sicht müssten trotz vorliegender umfangreicher ophthalmologischer Befunde die vom Kläger beschriebenen Doppelbilder als im Wesentlich subjektiv ausgestaltet gewertet werden. Bei Fusionsstörung dürfte die Wegefähigkeit von 1.000 Metern nicht beeinträchtigt sein. Der Kläger könne mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten nach orthopädischer Maßgabe mindestens sechs Stunden täglich verrichten.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellte Dr. R. unter Berücksichtigung eines psychologischen Zusatzgutachtens der Psychologin L. unter dem 20. Januar 2014 auf Grund einer Begutachtung des Klägers am 26. und 27. September 2013 ein neurologisches Gutachten. Er diagnostizierte einen Thalamusinfarkt im Januar 2006, eine vaskuläre Enzephalopathie mit multiplen und parietal betonten subkortikalen Infarkten mit nahezu komplett remittierter sensomotorischer Hemisymptomatik rechts und Aphasie, teilremittierter Parinaud-Symptomatik (dorsales Mittelhirnsyndrom) und mittelschwerer neuropsychologischer Störung in Aufmerksamkeit, verbalen episodischen Gedächtnis und exekutiven Teilfunktionen, eine Dysthymie nach Thalamusinfarkt und beruflicher Überforderungssituation in Frage des Wiedereinstiegs, zusätzlich vermutlich prämorbide Komponente bei am ehesten vermeidendem ängstlichen Persönlichkeitstyp, eine psychophysische Erschöpfung bei Thorakalsyndrom nach Morbus Scheuermann, Lumbalsyndrom und Epicondylitis des humeri radialis beidseits sowie körperliche Erschöpfung seit Hausbau, damals in psychotherapeutischer Behandlung bei Somatisierung, Unsicherheit, Ängstlichkeit, Aggressivität und Psychotizismus, einen Diskus Prolaps 2005, eine chronische Sinusitis 2006 sowie einen Arbeitsunfall nach traumatischer Amputation der End- und Mittelfinger der Finger zwei und drei rechts im September 2004. Der Kläger sei derzeit nicht in der Lage, ohne therapeutische Unterstützung regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Leichte und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten seien nach orthopädischer Maßgabe zumutbar. Im Hinblick auf die Arbeitsabfolge sollten wegen der psychophysischen Verlangsamung der komplexen Simultanaufgaben auf Arbeitsabläufe mit primärselektiver Aufmerksamkeit geachtet werden. Auf Grund der durch die inkomplette Parinaud-Symptomatik hervorgerufenen Sehstörung mit Schwierigkeiten beim Einschätzen von Entfernungen seien Stehen und Gehen auf Gerüsten, Arbeiten auf Leitern oder anlaufenden Maschinen zu vermeiden. Auf Grund der Dysthymie seien Tätigkeiten mit Akkord oder am Fließband sowie Schicht- und Nachtarbeiten zu meiden. Unter Berücksichtigung der Belastbarkeit seien Tätigkeiten mit starker Beanspruchung des Sehvermögens zu vermeiden, Arbeiten in Kälte, Nässe, im Freien, unter Wärmeeinfluss, unter Einwirkung von Staub, Gasen und Dämpfen mit dem Kläger am potentiellen Arbeitsort abzustimmen. Es sollten vorwiegend Tätigkeiten mit geringer nervlicher Belastung und einem förderlichen sozialen Umfeld durchgeführt werden. Hierbei sei darauf zu achten, dass während einer erneuten beruflichen Belastungserprobung die einzelnen Schritte im Vorfeld sorgfältig besprochen werden sollten, eine terminierte Nachbesprechung und Anpassungen der Arbeitsbelastung möglich seien, um einen erneuten Rückfall nach Möglichkeit zu vermeiden. Zumutbar seien leichte körperliche Arbeiten, überwiegend im Sitzen, zeitweise im Gehen und Stehen unter Vermeidung von Wechsel- und Nachtschicht von drei bis sechs Stunden täglich.

Dr. B. hielt in einer ergänzenden Stellungnahme vom 8. Mai 2014 in Kenntnis des Gutachtens Dr. R. an seinem Gutachten fest. Dr. R. hielt in einer ergänzenden Stellungnahme vom 29. Juli 2014 in Kenntnis der ergänzenden Stellungnahme Dr. B. an seinem Gutachtenergebnis fest.

Das SG hob mit Urteil vom 25. September 2014 den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2016 zu gewähren. Der Kläger sei seit Oktober 2011 erwerbsgemindert. Das Gutachten des Dr. B. sei nachvollziehbar und überzeugend. Es sei in sich schlüssig und weise keine Brüche aus. Auch die Beurteilung der Leistungsfähigkeit in qualitativer Hinsicht sei überzeugend. Der Kläger habe aber besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz. Hier liege in Zusammenschau mit den weiteren qualitativen Einschränkung seiner Leistungsfähigkeit eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Vor diesem Hintergrund bestünden ernste Zweifel an einer tatsächlichen Einsatzfähigkeit des Klägers unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Beklagte habe die dem Kläger daher zu benennende konkrete Verweisungstätigkeit nicht benannt. Auch es – das SG – sehe sich zur Benennung einer solchen Tätigkeit nicht in der Lage. Auf die Ergebnisse des Gutachtens von Dr. R.s komme es vor diesem Hintergrund nicht an.

Gegen das ihr am 13. Oktober 2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. November 2015 Berufung eingelegt. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz habe. Er sei nicht daran gehindert, leichte Tätigkeiten auch sechs Stunden und länger pro Tag unter betriebsüblichen Bedingungen zu verrichten. Die Beklagte hat sozialmedizinische Stellungnahmen der Dr. E. vom 4. November 2014 und vom 17. November 2015 vorgelegt.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),

1. das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 25. September 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen, 2. die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

1. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, 2. die Beklagte im Wege der Anschlussberufung unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Freiburg vom 25. September 2014 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung auch über den 30. April 2016 hinaus zu gewähren.

Der Kläger hat das Urteil des SG, das ihm am 13. Oktober 2014 zugestellt worden ist, ursprünglich für zutreffend gehalten. Am 21. Oktober 2015 hat er Anschlussberufung mit dem Ziel der Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung auch über den 30. April 2016 hinaus, eingelegt. Bei ihm bestünden besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz. Eine zumutbare konkrete Verweisungstätigkeit sei nicht ersichtlich. Hilfsweise sei jedenfalls die Einschätzung des Dr. R. und der Psychologin L. plausibel. Aggravations- und Simulationstendenzen seien nur dem Gutachten des Dr. B. zu entnehmen. Die von Psychologin L. durchgeführten Beschwerdevalidierungstests seien unauffällig gewesen. Sehstörungen seien in zwei augenheilkundlichen Gutachten des Prof. Dr. Re. (Universität F.) vom 22. Dezember 2009 bzw. des Prof. Dr. Ko. (Universität H.) vom 3. August 2010 festgestellt worden. Es handele sich nicht um rein subjektive Beschwerden. Dr. R. habe die Diagnose einer teilremittierten Parinaud-Symptomatik beschrieben, die seine Leistungsfähigkeit beeinträchtige. Er leide zudem unter Einschränkungen der Konzentrationsleistung. Es komme nicht darauf an, ob sich die ohnehin bestehende eingeschränkte Konzentrationsleistung während der mehrstündigen Untersuchung durch Psychologin L. noch weiter verschlechtert habe. Er habe Kopfschmerzen, Schwindel sowie Gangunsicherheit bei körperlicher Bewegung. Er sei schnell erschöpft; je nach körperlicher Tätigkeit/Bewegung könne dies nach 20 Minuten oder ein oder zwei Stunden sein. Ihm sei ärztlicherseits empfohlen worden, nicht mehr als Kraftfahrer am Straßenverkehr teilzunehmen. Er könne nicht mehr lange stehen, gehen oder sitzen (maximal ca. 30 Minuten), weil er sonst zeitweise starke Rückenschmerzen habe. Der Sachverständige Ma. habe in seinem Gutachten (dazu unten) die augenärztlichen Befunde nicht berücksichtigt. Das Ausmaß einer Belastbarkeit hänge auch von der körperlichen Aktivität ab. Beim Sachverständigen Ma. habe er zwei Stunden nur gesessen und habe sich nicht körperlich bewegen oder anstrengen müssen. Er habe Zweifel am Ergebnis des vom Sachverständigen Ma. durchgeführten Forced-Choice-Test. Er habe nicht simuliert. Der Kläger hat einen Bericht des Privatdozenten Dr. Hi. (Chefarztes der Augenklinik O. Klinikum) vom 26. Mai 2015 vorgelegt (Diagnosen: supranukleäre Augenbewegungsstörung; Down-Beat-Nystagmus; Sakkadenstörung; Verdacht auf dorsales Mittelhirnsyndrom; Glaukom rechts und links). Der Kläger trägt dazu vor, die Augenbewegungsstörung und die Doppelbilder entsprächen sich nicht, sondern es handele sich um zwei Störungen. Der Kläger hat weiter ein Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. St. vom 10. März 2015 (Leistungsfähigkeit des Klägers für vier bis fünf Stunden pro Tag), ein Schreiben des Dr. St. vom 1. Juli 2015 (der Kläger sei nur in der Lage, unter sechs Stunden pro Tag zu arbeiten wegen erheblicher Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit und wegen schneller psychophysischer Erschöpfung), Atteste der Diplom-Psychologin Sch. vom 19. Juni 2015 (Diagnosen: Zustand nach Hirninfarkt; depressive Reaktion) und vom 3. September 2015 (Diagnosen: Zustand nach Hirninfarkt, Anpassungsstörungen), eine Stellungnahme des Arztes für Neurologie F. vom 26. August 2015 zum Gutachten des Sachverständigen Ma. sowie einen Arztbrief desselben Arztes vom 26. August 2015 (Diagnose: hirnorganisches Psychosyndrom nach Thalamusinsult) vorgelegt.

Der Senat hat Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin Ma. von Amts wegen zum gerichtlichen Sachverständigen bestellt. Der Sachverständige Ma. erstattete auf Grund einer Untersuchung des Klägers vom 21. April 2015 unter dem 23. April 2015 ein nervenärztliches Gutachten. Er hat folgende Gesundheitsstörungen beim Kläger festgestellt: Zustand nach Thalamusinfarkt links im Januar 2006 mit am ehesten unter Belastung zeitweise auftretenden Doppelbildern ohne eindeutige neurologische Folgen, kernspintomographisch nachgewiesene zerebrale Mikroangiopathie ohne eindeutige Folgen, Verdacht auf kombinierte Persönlichkeitsstörung, differenzialdiagnostisch Persönlichkeitsakzentuierung mit narzistischen und emotional instabilen Anteilen sowie eine leichte depressive Herabgestimmtheit reaktiv überwiegend zum Rentenverfahren sowie zur sozialen und finanziellen Situation. In einem Beschwerdevalidierungstest zeige der Kläger ein vergleichsweise extremes Ergebnis, das nicht anders als durch eine bewusste Simulation zu erklären sei. Auf nervenärztlichem Fachgebiet lasse sich keine Begründung führen, warum der Kläger nicht mindestens sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche eine körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeit ausüben könne.

Der Berichterstatter hat den Sachverhalt mit den Beteiligten am 7. August 2015 erörtert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtzüge sowie auf die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. a) Die gemäß § 143 SGG statthafte und gemäß § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten, die nicht der Zulassung bedarf, weil das SG dem Kläger Leistungen für mehr als ein Jahr zugesprochen hat (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig. Der Senat konnte über die Berufung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

b) Die Anschlussberufung des Klägers ist unzulässig. Für die Zulässigkeit der Anschlussberufung gelten im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 202 Satz 1 SGG die Regelungen in § 524 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 4 1. und 2. Var. Zivilprozessordnung (ZPO). Für die Anschlussberufung gilt die Berufungsfrist des § 151 Abs. 1 und 2 SGG nicht (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 6/09 R – in juris, Rn. 18).

Die Anschlussberufung muss den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung des Berufungsklägers betreffen (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 6/09 R – in juris, Rn. 18 m.w.N.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Januar 2011 – L 8 AL 474/07 – in juris, Rn. 52). Eine Anschlussberufung ist unzulässig, wenn sich der Antrag des Berufungsbeklagten bei teilbarem Streitgegenstand gegen einen anderen als den mit der Berufung angegriffenen Teils des erstinstanzlichen Urteils richtet (BSG, Urteil vom 5. Mai 2010 – B 6 KA 6/09 R – in juris, Rn. 18; Bernsdorff, in: Hauck/Behrend [Hrsg.], SGG, § 143 Rn. 27 [April 1996]; Sommer, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 143 Rn. 31).

So verhält es sich aber hier. Die Berufung der Beklagten betrifft die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2016. Die Anschlussberufung des Klägers zielt hingegen auf eine Rente für die Zeit ab dem 1. Mai 2016 und damit einen anderen Streitgegenstand. Der Sache nach wendet er sich gegen eine – vom SG vorgenommene, allerdings nicht tenorierte – Klageabweisung im Übrigen; der Kläger hatte in erster Instanz zuletzt die Verurteilung zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit beantragt, ohne dies auf den ausgeurteilten Zeitraum zu begrenzen. Die Entscheidung des SG, dem Kläger über den 30. April 2016 hinaus keine Rente zuzusprechen, ist nicht Gegenstand der Berufung der Beklagten und daher rechtskräftig geworden ist. Der Kläger kann daher einen anderen Zeitraum auch nicht zulässigerweise im Wege der Klageänderung zum Gegenstand des Berufungsverfahrens machen.

Als selbständige Berufung ist der Antrag des Kläger verfristet, da sie erst am 21. Oktober 2015 eingelegt worden ist, ihm das Urteil des SG aber bereits am 13. Oktober 2014 zugestellt worden ist, so dass die Monatsfrist des § 151 Abs. 1 SGG nicht gewahrt ist.

2. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Mai 2012 bis zum 30. April 2016 verurteilt. Denn der Bescheid der Beklagten vom 15. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2013 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung zum 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007, BGBl. I, S. 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden pro Tag verrichten kann.

(1) Der Kläger leidet auf nervenärztlichem Fachgebiet zum einem – unbestritten – an einem Zustand nach Thalamusinfarkt links im Jahr 2006 mit am ehesten unter Belastung zeitweise auftretenden Doppelbildern. Während der gerichtliche Sachverständige Ma. eindeutige neurologische Folgen nicht feststellen konnte, geht der gerichtliche Sachverständige Dr. R. davon aus, dass eine vaskuläre Enzephalopathie mit multiplen und parietal betonten subkortikalen Infarkten mit nahezu komplett remittierter sensomotorischer Hemisymptomatik rechts und Aphasie, teilremittierter Parinaud-Symptomatik (dorsales Mittelhirnsyndrom) und mittelschwerer neuropsychologischer Störung in Aufmerksamkeit, verbalen episodischen Gedächtnis und exekutiven Teilfunktionen besteht. Der Senat geht zu Gunsten des Klägers davon aus, dass auch diese von Dr. R. bestehenden Gesundheitsstörungen vorliegen. In Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. B. diagnostiziert Dr. R. zudem eine Dysthymie und führt diese auf den Thalamusinfarkt und eine berufliche Überforderungssituation in Phasen des Wiedereinstiegs mit zusätzlich vermutlich prämorbider Komponente bei am ehesten vermeidenden ängstlichen Persönlichkeitstyps, zurück. Auch vom Vorliegen einer Dysthymie geht der Senat daher aus.

Hinzu kommen eine psychophysische Erschöpfung bei Thorakalsyndrom nach Morbus Scheuermann, Lumbalsyndrom und Epicondylitis des humeri radialis beidseits sowie körperliche Erschöpfung bei Somatisierung, Unsicherheit, Ängstlichkeit, Aggressivität und Psychotizismus. Auch dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R. Dem Sachverständigengutachten des Sachverständigen Ma. entnimmt der Senat zudem, dass der Kläger unter einer kernspintomographisch nachgewiesenen zerebralen Mikroangiopathie ohne eindeutige Folgen leidet. Soweit der Sachverständige Ma. den Verdacht auf eine kombinierte Persönlichkeitsstörung, differenzialdiagnostisch einer Persönlichkeitsakzentuierung mit narzisstischen und emotional instabilen Anteilen sowie schließlich einer leichten depressiven Herabgestimmtheit in Reaktion zur sozialen und finanziellen Situation festgestellt hat, besteht im Wesentlichen Übereinstimmung mit den Feststellungen Dr. R.

Auf augenärztlichem Fachgebiet besteht beim Kläger eine supranukleäre Augenbewegungsstörung, ein Down-Beat-Nystagmus, eine Sakkadenstörung, ein Verdacht auf ein dorsales Mittelhirnsyndrom, Glaukome rechts und links. Dies entnimmt der Senat dem vom Kläger vorgelegten Bericht des Privatdozenten Dr. Hi. vom 26. Mai 2015.

Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass beim Kläger der Zeigefinger und der Mittelfinger der rechten Hand oberhalb des Mittelgliedes amputiert sind.

(2) Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass die festgestellten Gesundheitsstörungen das berufliche Leistungsvermögen der Kläger jedenfalls nicht in einem Ausmaß mindern, dass er nicht zumindest leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden pro Tag verrichten kann.

Dies gilt zunächst für die von Dr. R. festgestellten neurologischen Folgen des Thalamusinfarkts aus dem Januar 2006. Die sensomotorische Hemisymptomatik rechts und Aphasie ist nahezu komplett remittiert, die Parinaud-Symptomatik (Blicklähmung) ist teilremittiert. Verblieben sind Defizite hinsichtlich Aufmerksamkeit, verbalem episodischem Gedächtnis und exekutiver Teilfunktionen. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R. Auch der Kläger stellt in den Mittelpunkt seines Vortrages die schnelle Erschöpfung und die reduzierte Konzentrationsleistung.

Ausgeschlossen sind daher Tätigkeiten auf Gerüsten, auf Leitern und an laufenden Maschinen, Tätigkeiten im Akkord, am Fließband sowie Schicht- und Nachtarbeit, Tätigkeiten mit starker Beanspruchung des Sehvermögens und Tätigkeiten mit mehr als geringer nervlicher Beanspruchung. Zumutbar sind leichte körperliche Arbeiten, überwiegend im Sitzen, zeitweise im Gehen und Stehen. Dies ist die im Wesentlichen übereinstimmende Einschätzung der Sachverständigen Dr. B., Dr. R. und Ma ... Soweit Dr. R. in zeitlicher Hinsicht von einer Leistungsfähigkeit des Klägers von drei bis unter sechs Stunden ausgeht, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Zwingende Gründe, die die Limitierung unterhalb der Sechs-Stunden-Grenze rechtfertigen, lassen sich dem Gutachten des Dr. R. nicht entnehmen. Etwas andere gilt auch nicht aufgrund der augenärztlich festgestellten Befunde (supranukleäre Augenbewegungsstörung, Down-Beat-Nystagmus, Sakkadenstörung, Verdacht auf ein dorsales Mittelhirnsyndrom, Glaukome rechts und links).

Auch die Dysthymie des Klägers führt nicht zu einer Einschränkung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht. Bei einer Dysthymie handelt es sich nach ihrer Definition nach dem ICD-10 (F34.1) (lediglich) um eine chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder rezidivierenden depressiven Störung zu erfüllen. Eine Dysthymie ist in der Regel nicht geeignet, eine zeitliche Leistungseinschränkung herbeizuführen (Beschluss des Senats vom 7. April 2015 – L 4 R 5183/14 –, Urteil des Senats vom 19. Juni 2015 – L 4 R 4233/14 – und Urteil des Senats vom 18. September 2015 – L 4 R 864/15 – alle nicht veröffentlicht). So verhält es sich auch hier. Insofern besteht Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Einschätzungen der Sachverständigen Dr. B. und Ma ... Auch Diplom-Psychologin Sch. geht in ihren vom Kläger vorgelegten Attesten vom 19. Juni 2015 und vom 3. September 2015 lediglich von einer depressiven Reaktion bzw. Anpassungsstörungen und damit von eher gering ausgeprägten psychischen Beeinträchtigungen aus.

Auch der Kläger räumt ein, dass seine zeitliche Leistungsfähigkeit davon abhängt, ob er körperlich belastende Tätigkeiten verrichtet. Mit Pausen ist ihm nach eigener Darstellung sogar körperliche Arbeit möglich. So berichtete er in der mündlichen Verhandlung vor dem SG, dass er Haus- und Gartenarbeit verrichtet. Solche in der Regel zumindest mittelschwere Tätigkeiten sind dem Kläger in der Tat nicht mehr sechsstündig täglich zumutbar. Anders verhält es sich indes mit leichten Tätigkeiten.

(2) Ob dem Kläger ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob der Kläger mit dem ihm verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, sie also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 13 R 78/09 R – in juris). Dies bejaht der Senat wie zuvor dargelegt.

(3) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (siehe – auch zum Folgenden – etwa Urteil des Senats vom 21. November 2014 – L 4 R 4797/13 – nicht veröffentlicht). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.

Dies ist hier nicht der Fall. Die qualitativen Leistungseinschränkungen des Klägers (siehe oben) sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Darin ist weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu sehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R –, in juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist bei dem Kläger vorhanden.

Entgegen dem SG vermag der Senat auch dem Gutachten des Sachverständigen Dr. B. nicht zu entnehmen, dass beim Kläger besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz vorliegen. Dr. B. hat lediglich eine Dysthymia diagnostiziert und auf die Mittelgliedamputationen von zwei Fingern der rechten Hand und subjektive Sehstörungen hingewiesen. Besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz hat Dr. B. nicht angenommen; eine solche Annahme wäre angesichts der erhobenen Befunde auch nicht schlüssig.

(4) Auch die Wegefähigkeit des Klägers war und ist gegeben. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – in juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – in juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – in juris, Rn. 19 f.). Der Kläger ist in der Lage, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal in weniger als 20 Minuten täglich zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Aus den ärztlichen Äußerungen ergeben sich keine Befunde, die für eine unter den genannten Maßstäben eingeschränkte Gehfähigkeit der Klägerin sprechen. Vielmehr sind Dr. B., Dr. R. und Ma. übereinstimmend von der Gehfähigkeit des Klägers ausgegangen.

(5) Aus der Anerkennung des Klägers als Schwerbehindertem folgt ebenfalls nicht, dass der Kläger erwerbsgemindert wäre. Zwischen der Schwerbehinderung nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) und der Erwerbsminderung nach dem SGB VI besteht keine Wechselwirkung, da die gesetzlichen Voraussetzungen unterschiedlich sind (BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 SB 5/01 B – in juris, Rn. 5; BSG, Beschluss vom 9. Dezember 1987 – 5b BJ 156/87 – in juris, Rn. 3). Für die Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI sind die Erwerbsmöglichkeiten des Betroffenen maßgeblich, während § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 geltenden Fassung und § 159 Abs. 7 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 geltenden Fassung (geändert durch Art. 1a des Gesetzes vom 7. Januar 2015, BGBl. II, S. 15) auf die abstrakten Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) verweist (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 SB 5/01 B – in juris, Rn. 5; BSG, Beschluss vom 9. Dezember 1987 – 5b BJ 156/87 – in juris, Rn. 3).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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