L 9 R 2753/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 21 R 566/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 2753/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten.

Der 1951 geborene Kläger bezieht seit dem 01.03.2002 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, welche ihm die Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg (LVA), heute Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg, mit Bescheid vom 22.01.2004 bewilligte. Zur Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigte die LVA die im Versicherungskonto des Klägers enthaltenen rentenrechtlichen Zeiten, beginnend ab dem 01.01.1967. Die Beklagte zahlt seit dem 01.08.2011 die Leistungen an den Kläger aus.

Anträge des Klägers auf Gewährung einer Altersrente lehnte die Beklagte mit Bescheiden vom 14.06.2011 und 11.09.2014 ab.

Mit Schreiben vom 20.07.2011 stellte der Kläger bei der Beklagten einen "Antrag auf Kontenklärung / Überprüfung nach § 44 SGB X". Er habe in der Zeit vom 01.05.1960 bis Ende des Jahres 1966 Zwangsarbeit während der Heimerziehung im N. in C. leisten müssen.

Mit Bescheid vom 20.10.2011 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Die Voraussetzungen für eine Pflichtbeitragszeit seien nicht gegeben, da der Kläger keine Beitragszahlung nachgewiesen habe. Ebenso wenig scheide eine Anerkennung als Anrechnungszeit aus, weil diese Zeiten erst ab dem vollendeten 17. Lebensjahr zu berücksichtigen seien.

Der Kläger legte hiergegen am 07.11.2011 Widerspruch ein, in dem er die von ihm im streitigen Zeitraum verrichtete Arbeit näher darlegte. So gab er an, er sei im Wesentlichen im landwirtschaftlichen Dienst und als Pflegekraft in einer Seniorenanstalt eingesetzt gewesen. Unter normalen Umständen hätte es hierfür fachkundigen externen Personals bedurft. Er habe bei einer Sechstagewoche täglich sechs bis neun Stunden zu arbeiten gehabt. Es liege zumindest ein faktisches Arbeitsverhältnis, entsprechend einer Vollzeitbeschäftigung, vor. Die Arbeit könne nicht als erzieherische Maßnahme gewertet werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.12.2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Neben dem fehlenden Nachweis über die Entrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung könne das Vorliegen einer Beitragszeit gemäß §§ 55, 247 Abs. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht werden.

Der Kläger hat hiergegen am 30.01.2012 bei dem Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben. Zuständig für die Heim- und Fürsorgeerziehung sei das L. N. gewesen. Der Umstand, dass von den faktischen Arbeitgebern weder Lohn gezahlt noch Sozialabgaben abgeführt worden seien, dürfe nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. Für die rentenrechtliche Bewertung einer Tätigkeit als Beschäftigungsverhältnis sei - beispielsweise bei einem rechtswidrigen oder nichtigen Arbeitsvertrag - entscheidend, ob die Leistung von dem Arbeitgeber gefordert worden und vom Arbeitnehmer erbracht worden sei. Er sei über seine bisherigen Angaben hinaus außerdem als Küchenhilfe und im sonstigen hauswirtschaftlichen Bereich eingesetzt gewesen. Er habe für seine Tätigkeit ein Arbeitsentgelt in Form von Kost, Logis, Bereitstellung von Bekleidung und sonstigen Gegenständen des täglichen Gebrauchs sowie ein geringes Taschengeld erhalten. Die Beitragszahlung des Arbeitgeberanteils zur Sozialversicherung habe dem Heimträger oblegen. Das Jugendamt C. sei sein Amtsvormund gewesen. Er gehe davon aus, dass die Heimkinder von den zuständigen Stellen offiziell als Hilfsarbeitskräfte geführt worden seien. Im Rahmen der Amtsermittlung sei Einsicht in die Vormundschaftsakten und die Fürsorgeakten der Heimeinrichtung zu nehmen. Ein faktisches Arbeitsverhältnis sei durch schlüssiges Verhalten zustande gekommen. Die Beklagte habe fiktive Beiträge zugrunde zu legen unter Berücksichtigung des für die jeweilige Berufsgruppe branchenüblichen bzw. tariflichen Lohns. Im Übrigen sei es auf eine wirksame Willenserklärung des damals minderjährigen Klägers nicht angekommen. Einzig sein Amtsvormund sei zur Abgabe einer solchen Erklärung befugt gewesen. Diese Erklärung könne vom Amtsvormund auch formlos abgegeben worden sein. Es sei zu unterstellen, dass der Amtsvormund von den Arbeitseinsätzen der Heimkinder und somit auch des Klägers gewusst habe. Durch sein schlüssiges Verhalten habe der Amtsvormund seine Einwilligung zu diesem Vertragsverhältnis erteilt. Die genannten Pflichten hätten unabhängig davon bestanden, ob Kinderarbeit einem rechtlichen Verbot unterlegen habe.

Mit Urteil vom 21.05.2014 hat das SG die Klage abgewiesen. Bei Erlass des Rentenbescheides vom 22.01.2004 sei weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen worden. Für die Feststellung von Beitragszeiten sei grundsätzlich der Nachweis der tatsächlichen Entrichtung der Beiträge erforderlich. Der Kläger habe jedoch keine Nachweise für eine Beitragszahlung vorlegen können. Beitragszeiten seien auch nicht glaubhaft gemacht. Angesichts der Aussage des Klägers, er habe keinen Lohn erhalten, halte es die Kammer für sehr unwahrscheinlich, dass Beiträge zur Rentenversicherung für den in Rede stehenden Zeitraum entrichtet worden seien. Das schlichte Nichtwissen des Klägers über eine etwaige Beitragszahlung genüge für eine Glaubhaftmachung nicht. Die streitige Zeit sei auch keine Zeit, für die nach § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten würden. Insbesondere ergebe sich eine solche Fiktion nicht aufgrund § 247 Abs. 2a SGB VI, da der Kläger nicht geltend gemacht habe, dass er als Lehrling oder sonst zur Berufsausbildung beschäftigt gewesen sei und grundsätzlich Versicherungspflicht bestanden habe. Denn der Kläger habe nach seinen eigenen Angaben Helfertätigkeiten verrichten müssen.

Gegen das dem Bevollmächtigten des Klägers am 04.06.2014 zugestellte Urteil hat dieser am 30.06.2014 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung seine Ausführungen aus dem Klageverfahren wiederholt und vertieft. Darüber hinaus trägt er vor, er habe Tätigkeiten verrichtet, die seine Aus- und Weiterbildung unterstützt haben. Er sei in den Bereichen Landwirtschaft, Küche, Pflege und Hauswirtschaft eingesetzt worden, um dort seine Fähig- und Fertigkeiten zu erproben und um ihn dann entsprechend auszubilden. Alle Kriterien für das Vorliegen einer versicherten Beschäftigung, wie Weisungsgebundenheit und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers, hätten vorgelegen. Wenn die Beklagte ein wirksames Beschäftigungsverhältnis aufgrund mangelnder Freiwilligkeit nicht zustande kommen lassen wolle, so verkenne sie, dass es im Grunde kein Kind gebe, welches nicht für sich den Zwang empfunden habe, arbeiten zu müssen. Die erzieherische Wirkung sei nicht im Vordergrund gestanden, sondern vielmehr die wirtschaftliche Nutzung der Arbeitskraft der Heimkinder. Das geringfügige Taschengeld, das er erhalten habe, könne als Lohnersatz angesehen werden. Der Kläger sei von einer ordnungsgemäßen Verwaltung durch die Heimleitung ausgegangen. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um eine größere Einrichtung gehandelt habe und die Versicherungspflicht daher nach außen bekannt gewesen sein muss, die Einrichtung einer sie kontrollierenden Trägerschaft unterstellt gewesen sei, müsse die Beitragszahlung glaubhaft angenommen werden. Er habe Arbeiten zu verrichten gehabt, die auch auf dem freien Arbeitsmarkt als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu werten seien.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. Mai 2014 und den Bescheid vom 20. Oktober 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Dezember 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter teilweiser Rücknahme des Bescheides vom 22. Januar 2004 die Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung weiterer Beschäftigungszeiten für die Zeit vom 1. Mai 1960 bis 31. Dezember 1966 neu zu berechnen und den sich ergebenden höheren monatlichen Leistungsbetrag auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie stützt sich auf ihre Ausführungen im Verwaltungsverfahren. Ergänzend trägt sie vor, die Versicherungskarte 01 könne nicht mehr im Original vorgelegt werden. Laut den gespeicherten Daten im Versicherungskonto des Klägers seien diese nach vollständiger Zuspeicherung und eingetretener Rechtskraft vernichtet worden. Auch dem Kontenspiegel des Klägers sei das erste versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis ab dem 01.01.1967 zu entnehmen. Vor diesem Zeitpunkt seien keine rentenrechtliche Zeiten abgespeichert oder zurückgelegt worden. Vor diesem Zeitpunkt habe weder ein versicherungspflichtiges (freies) Beschäftigungsverhältnis vorgelegen noch seien Beiträge zur Rentenzahlung für die geleistete Arbeit in Kinderheimen entrichtet worden. Ebenso wenig habe ein Ausbildungsverhältnis als Lehrling oder zur Berufsausbildung vorgelegen. Der Gesetzgeber habe bislang keine spezialgesetzliche Vorschrift (ähnlich den "Ghettorenten") geschaffen, wonach "erzwungene" Arbeit in Kinderheimen einer versicherungspflichtigen Tätigkeit gleichgestellt worden sei. Der Kläger sei im fraglichen Zeitraum neun bis fünfzehn Jahre alt gewesen. Für ihn habe somit zumindest bis Sommer 1966 Vollschulpflicht bestanden. Damit sei er als Kind nach dem Jugendschutzgesetz zu werten gewesen, und aus diesem Grund habe ein Beschäftigungsverbot für Erwerbstätigkeiten bestanden. Es sei nicht glaubhaft, dass der Kläger neben des Schulbesuchs noch einer sechs- bis neunstündigen Erwerbstätigkeit täglich nachgegangen sei. Dies sei nur in den Schulferien möglich gewesen. Aber auch dann habe kein Arbeitsentgeltzufluss vorgelegen. Des Weiteren sei kein freies arbeitsvertragliches Verhältnis begründet worden. Für den Zeitraum ab Schulentlassung im Sommer 1966 fehlten substantiierte Aussagen des Klägers zu Art und Umfang einer Beschäftigung, dem Entgelt und der Benennung eines Arbeitgebers. Das den Heimkindern erlittene Unrecht sei nicht über den Weg der gesetzlichen Sozialversicherung, sondern über den Fond Heimerziehung West auszugleichen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und auch sonst zulässig, jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Ihm steht kein Anspruch auf teilweise Rücknahme der angegriffenen Bescheide sowie Neuberechnung seiner Erwerbsminderungsrente und somit auch nicht auf eine höhere Rentenleistung zu.

Dem Rechtsstreit zugrunde liegt ein Antrag des Klägers auf "Kontenklärung / Überprüfung nach § 44 SGB X". Nachdem der Kläger zum Zeitpunkt seiner Antragstellung bereits eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bezog, ist sein Begehren - über den Weg des Überprüfungsverfahrens - als Antrag auf Gewährung einer höheren Rentenzahlung unter Berücksichtigung weiterer rentenrechtlicher Zeiten auszulegen. Im Übrigen wäre nach Erlass eines Rentenbescheids die Durchführung eines gesonderten Rechtsbehelfsverfahrens zur Kontenklärung nicht mehr zulässig. Vielmehr ist vom Versicherten ein Antrag auf Überprüfung des Rentenbescheids zu stellen (vgl. BSG, Urteil vom 06.05.2010, B 13 R 118/08 R (juris) Rn. 16). Die Beklagte lehnte mit angegriffenem Verwaltungsakt vom 20.10.2011 zwar nicht ausdrücklich die Rücknahme des Rentenbescheids vom 22.01.2004 mitsamt aller Folgebescheide ab. Die darin enthaltene Ablehnung des Antrags kann jedoch inhaltlich als Ergebnis einer Überprüfung des bestandskräftigen Bescheides vom 22.01.2004 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) angesehen werden.

Statthafte Klageart zur Erreichung des vom Kläger angestrebten Ziels ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine teilweise Rücknahme des Bescheides vom 22.01.2004 sind nicht gegeben. Die Beklagte hat zu Recht den Antrag des Klägers abgelehnt.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes entscheidet nach § 44 Abs. 3 SGB X die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist. Die Beklagte ist gemäß § 130 Satz 1 und Satz 2, § 129 Abs. 1 Nr. 5 SGB VI in Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung für Leistungen und für Versicherungen für den Kläger, dessen Versicherungskonto Beiträge für die Seefahrt enthält, die zuständige Behörde.

Die LVA hat das Recht richtig angewandt, als sie die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Erwerbsminderungsrente unter Zugrundelegung von Versicherungszeiten beginnend ab dem 01.01.1967 berechnete. Die hier streitgegenständlichen Zeiträume vom 01.05.1960 bis 31.12.1966 hat die LVA zutreffend nicht als rentenrechtliche Zeiten berücksichtigt.

Die Höhe der dem Kläger gemäß § 43 Abs. 2 SGB VI bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung bestimmt sich nach § 63 SGB VI. Gemäß Abs. 1 der Vorschrift richtet sich die Höhe einer Rente vor allem nach der Höhe der während des Versicherungslebens durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen. Das in den einzelnen Kalenderjahren durch Beiträge versicherte Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen wird in Entgeltpunkte umgerechnet, § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VI. Die Ermittlung der Entgeltpunkte ergibt sich aus §§ 70 (Beitragszeiten) und 71 (beitragsfreie und beitragsgeminderte Zeiten) SGB VI.

Beitragszeiten sind nach § 55 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge (Pflichtbeitragszeiten) oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind. Dabei sind Pflichtbeitragszeiten Zeiten, in denen kraft Gesetzes oder auf Antrag Versicherungspflicht bestand und für die Beiträge wirksam gezahlt worden sind. Der versicherungspflichtige Personenkreis bestimmt sich hierbei insbesondere nach §§ 1ff. SGB VI sowie nach entsprechendem früheren Recht.

Für die Feststellung von Beitragszeiten ist grundsätzlich der Nachweis der Versicherungspflicht sowie der Beitragszahlung erforderlich. Gemäß § 286 Abs. 5 SGB VI ist eine Beschäftigungszeit für Zeiten vor dem 01.01.1973 jedoch bereits dann als Beitragszeit anzuerkennen, wenn Versicherte glaubhaft machen, dass sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt ausgeübt haben, die vor dem Ausstellungstag der Versicherungskarte liegt oder nicht auf der Karte bescheinigt ist, und für diese Beschäftigung entsprechende Beiträge gezahlt worden sind. Dabei hat sich die Glaubhaftmachung auf das Vorliegen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gegen Arbeitsentgelt sowie auf die tatsächliche Beitragszahlung zu erstrecken (Bayerisches LSG, Urteil vom 28.01.2009, L 13 R 610/08). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache dann, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen überwiegend wahrscheinlich ist, § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X.

Orientiert an diesem Maßstab konnte der Kläger eine Beitragszeit nicht nachweisen oder glaubhaft machen.

Gemäß § 1227 Abs. 1 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F., der im Wesentlichen der aktuellen Regelung in § 1 Nr. 1 SGB VI entspricht, waren in der Rentenversicherung der Arbeiter pflichtversichert alle Personen, die als Arbeitnehmer gegen Entgelt oder als Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren.

Die Arbeitnehmereigenschaft setzt das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses voraus. Liegt ein Arbeitsverhältnis vor, ist in der Regel auch ein sozialversicherungsrechtliches Beschäftigungsverhältnis anzunehmen. In Anwendung der die tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigenden Eingliederungstheorie ist jedoch auch im Falle eines unwirksamen Arbeitsvertrages die Versicherungspflicht zu bejahen (vgl. BSG, Urteil vom 10.08.2000, B 12 KR 21/98 R (juris)).

Ein wirksames oder unwirksames Arbeitsverhältnis kommt immer dann zustande, wenn die Beteiligten eine Vereinbarung über den Austausch von Arbeit und Entgelt getroffen haben. Wesen einer Vereinbarung ist dabei die freie Entscheidung der Beteiligten, somit der aus eigenem Antrieb begründete Vertragsschluss (BSG, Urteil vom 18.06.1997, 5 RJ 66/95 (juris) Rn. 18).

An dieser Voraussetzung fehlt es im Falle des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum. Denn die von ihm vorgetragene Tätigkeit als Neun- bis Fünfzehnjähriger in der Landwirtschaft, als Küchenhilfe sowie im sonstigen hauswirtschaftlichen Bereich ist als nicht frei gewählte und somit Zwangsarbeit anzusehen. Zunächst bezeichnete der Kläger sowohl in seinem Antragsschreiben als auch in seinem Widerspruchsschreiben die von ihm verrichteten Tätigkeiten selbst als Zwangsarbeit. In der Berufungsbegründung wendet sich der Kläger gegen die Charakterisierung seiner Tätigkeiten als "Zwangsarbeit". Weitere Ausführungen zu den Arbeitsbedingungen und insbesondere Konsequenzen bei Arbeitsverweigerung oder "Schlechtleistungen" hat der Kläger nicht gemacht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Kläger zu der Gruppe der Menschen gehört, die in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland als Heimkinder massive Rechtsverletzungen erfahren haben, beispielsweise durch körperliche Züchtigungen oder Zwangsarbeit. Dabei ist unter Zwangsarbeit die Arbeit zu verstehen, zu der ein Mensch unter Androhung von Strafe oder eines sonstigen Übels gegen seinen Willen gezwungen wird. Der Kläger hat nicht einmal behauptet, dass er sich zu einer Arbeitsaufnahme aus freiem Willen entschieden hat. Zudem sind im vorliegenden Fall keine Hinweise erkennbar, dass der Kläger die damals von ihm verrichteten Tätigkeiten durchgeführt hat, um etwaige arbeitsvertragliche Pflichten zu erfüllen, sondern vielmehr, entweder um konkreten Strafen zu entgehen oder um sich allgemein der Anstaltsgewalt unterzuordnen.

Das Erfordernis des frei gewählten Vertragsverhältnisses wird entgegen der Annahme des Klägers auch nicht hinfällig, wenn die wirtschaftliche Nutzung der Arbeitskraft im Vordergrund steht. Soweit der Kläger darauf verweist, dass auch in einem Zwangskontext freie Arbeitsverhältnisse möglich sind, führt dies vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. Bei der Bewertung einer Arbeit als Folge einer Arbeitsvereinbarung oder im Rahmen eines Zwanges ist zwar sehr wohl zu berücksichtigen, dass die Beweggründe, die für die Aufnahme einer Tätigkeit führen, sowie sonstige allgemeine Lebensumstände keine Rolle für die rechtliche Einordnung als Beschäftigungsverhältnis spielen (BSG, 5 RJ 66/95, a.a.O.). Dies ändert aber nichts daran, dass das Vertragsverhältnis im engeren Sinne frei gewählt sein muss. Zu unterscheiden ist somit zwischen den (unbeachtlichen) Beweggründen und dem (entscheidenden) Willensentschluss. Ein freier Wille zum Vertragsabschluss - unabhängig von dem Alter des Klägers - konnte jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht angenommen werden.

Des Weiteren ist davon auszugehen, dass auch ein minderjähriger Arbeitnehmer die hinreichende Einsicht besitzt, um ein Arbeitsverhältnis zu begründen, sofern beschränkte Geschäftsfähigkeit - wie damals im Falle des Klägers - vorliegt. Nach § 106 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist ein Minderjähriger, der das siebte Lebensjahr vollendet hat, in der Geschäftsfähigkeit beschränkt. Demzufolge bedarf ein beschränkt geschäftsfähiger Minderjähriger zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters, § 107 BGB. Das Institut der beschränkten Geschäftsfähigkeit geht davon aus, dass Sieben- bis Siebzehnjährige durchaus in der Lage sind, Willensentschlüsse in rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten zu bilden, dass sie aber andererseits noch nicht die geistige Reife und geschäftliche Erfahrung besitzen, welche erforderlich ist, um ungefährdet im Rechtsverkehr selbstständig auftreten zu können (vgl. Lange in: Herberger/Martinek/Rüßmann u.a. juris-PK BGB, 7. Auflage, § 107 Rn. 2 mwN). Der beschränkt Geschäftsfähige hat somit zu einem Vertragsschluss eine eigene Willensäußerung abzugeben, die jedoch - isoliert betrachtet - schwebend unwirksam ist. Dem Kläger kann somit auch nicht in seinem Vortrag gefolgt werden, dass alle Minderjährigen Arbeit als Zwang empfinden würden.

Offen bleiben kann, ob der Amtsvormund des Klägers in dessen Namen überhaupt ein wirksames Arbeitsverhältnis für den Kläger gegen dessen Willen begründen konnte. Denn hierfür bestehen keinerlei Anhaltspunkte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dieser allenfalls die Anstaltsgewalt stillschweigend geduldet hat (so auch SG Hamburg, Urteil vom 28.01.2013, S 53 R 102/12 (juris)).

In Übereinstimmung hierzu hat das BSG die Arbeit von Fürsorgezöglingen als unfrei verrichtete Arbeit gewertet (BSG, 5 RJ 66/95, a.a.O., Rn. 21; ebenso Urteil vom 30.01.1975, 2 RU 200/72 (juris)). Darüber hinaus wird die von den Heimzöglingen ausgeübte Arbeit im Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren als Zwangsarbeit eingestuft. Dessen Ergebnis schloss sich auch der Deutsche Bundestag an, der im Juli 2011 den Antrag "Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen" verabschiedet hat, der wiederum zur Errichtung des Fonds "Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1975" (Fonds Heimerziehung West) mit Wirksamkeit zum 1. Januar 2012 geführt hat. Ziel dieses Fonds ist es unter anderem, in Fällen, in denen es aufgrund seinerzeit nicht gezahlter Sozialversicherungsbeiträge zu einer Minderung von Rentenansprüchen gekommen ist, mit Hilfe des Fonds einen Ausgleich zu gewähren. Hierdurch wird deutlich, dass auch nach Auffassung des Gesetzgebers regelmäßig davon auszugehen ist, dass bei Arbeiten in Kinderheimen gerade keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anzunehmen ist. Das Vorliegen eines hiervon abweichenden Einzelfalls konnte der Kläger gerade nicht glaubhaft machen oder nachweisen.

Überdies hat der Kläger weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht, dass er Entgelt für seine Arbeit erhalten oder zumindest eine Vereinbarung hierüber getroffen hat. Der Kläger trägt hierzu vor, er habe Kost und Logis und ein geringfügiges Taschengeld bekommen. Arbeitsentgelt kann zwar im Einzelfall auch in Form einer Sachleistung geleistet werden (BSG, 5 RJ 66/95, a.a.O., Rn. 17). Im vorliegenden Fall ist jedoch davon auszugehen, dass der Heimträger dem Kläger diese Leistungen unabhängig von der Arbeitsleistung gewährt hat, somit alle Heimkinder Unterkunft und Essen und einen geringen Barbetrag erhalten haben. Zudem liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger als Lehrling oder zur Berufsausbildung beschäftigt war. Diese Beschäftigungsarten unterscheiden sich von dem des Arbeitsverhältnisses insoweit, als sie zum Inhalt wesentlich die Vermittlung theoretischen Wissens und praktischer Fertigkeiten haben. Doch auch hier ist erforderlich, dass ein frei gewähltes Vertragsverhältnis zugrunde liegt.

Eine Versicherungspflicht kraft Gesetzes ist somit ausgeschlossen.

Schließlich konnte der Kläger die Zahlung von Pflichtbeiträgen nicht nachweisen oder glaubhaft machen. Die Versicherungskarte des Klägers ist nach Angaben der Beklagten bereits im Jahre 2012 nach vollständiger Speicherung vernichtet worden. Die Speicherung des Inhalts erfolgte ab dem 01.01.1967. Der Kläger hat auch nicht vorgetragen, dass seine Quittungskarte Beitragszahlungen für die Zeit vor dem Jahr 1967 enthalten hat.

Eine Beitragsfiktion nach § 55 Abs. 1 Satz 2 SGB VI liegt ebenfalls nicht vor. Nach dieser Vorschrift sind Pflichtbeitragszeiten auch Zeiten, für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Insbesondere liegen nicht die Voraussetzungen des § 247 Abs. 2a SGB VI vor. Dort ist geregelt, dass Pflichtbeitragszeiten aufgrund einer versicherten Beschäftigung auch Zeiten sind, in denen in der Zeit vom 01.06.1945 bis 30.06.1965 Personen als Lehrling oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren und grundsätzlich Versicherungspflicht bestand, eine Zahlung von Pflichtbeiträgen für diese Zeiten jedoch nicht erfolgte. Bereits an anderer Stelle wurde jedoch festgestellt, dass der Kläger für seine zu leistende Arbeit in den Jahren 1960 bis 1966 nicht als Lehrling oder zur Berufsausbildung Beschäftigter einzuordnen ist.

Ebenso wenig kommt eine Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI (Zeiten einer schulischen Ausbildung) in Betracht, da der Kläger im maßgeblichen Zeitraum das siebzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.

Da die Beklagte nicht zu verpflichten ist, den Rentenbescheid teilweise zurückzunehmen, kommt auch ein Leistungsanspruch nach § 44 Abs. 4 SGB X nicht in Betracht.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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