S 27 KR 371/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 27 KR 371/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 05.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2015 verurteilt, die Kosten für eine ambulante Liposuktion in drei Sitzungen der oberen und unteren Extremitäten zu übernehmen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist der Eintritt der Genehmigungsfiktion bei einer Sachleistung (ambulante Liposuktion) umstritten.

Die an einem Lipödem leidende Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Dort beantragte sie Ende Dezember die Kostenübernahme für eine ambulante Liposuktion der unteren und oberen Extremitäten in drei Eingriffen unter Vorlage diese Behandlung befürwortende Stellungnahmen der Praxis für Plastische und Ästhetische Chirurgie L Aesthetics sowie des Phlebologen/Lymphologen M1; die Klägerin behauptet, sie habe diesen Antrag am 23.12.2014 bei der Geschäftsstelle der Beklagten in M2 abgegeben, nach einem Vermerk der Beklagten ist der Antrag am 29.12.2014 im Fachgebiet "allgemeine Leistungen" eingegangen. Ferner machte die Klägerin am 02.02.2015 geltend, die begehrte Behandlung gelte als genehmigt, nachdem die Beklagte nicht innerhalb der gesetzlich vorgesehenen 3-Wochen-Frist entscheiden habe. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 05.02.2015 ab. Bei der begehrten Therapie handele es sich um eine neue Behandlungsmethode, die mangels Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) nicht von den gesetzlichen Krankenkasse finanziert werde dürfe. Ferner folge nichts anderes aus dem von der Klägerin geltend gemachten Fristablauf. Dieser führe nicht dazu, dass die beantragte Leistung als genehmigt gelte. Der Fristablauf führe allenfalls zu einem Kostenerstattungsanspruch nach Selbstbeschaffung; dieser Anspruch sei zudem auf ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungen beschränkt. Hierzu zähle die Liposuktion nicht.

Die Klägerin widersprach und machte geltend, die beantragte Leistung gelte wegen Ablaufs der 3-Wochen-Frist als genehmigt. Die Beklagte nahm diesen Widerspruch zum Anlass, eine sozialmedizinische Stellungnahme vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einzuholen. G stellte unter dem 09.03.2015 fest, dass die in der Regel ambulant durchzuführende Therapie mangels Empfehlung des GBA nicht zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden dürfe. Als Therapie der Wahl gelte die komplexe Entstauungstherapie (manuelle Lymphdrainage, Kompressionstherapie, ggf. apparative Lymphdrainage). Diesem Votum folgend wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 23.04.2015 zurück. Ergänzend verwies sie darauf, nach Eintritt der Genehmigungsfiktion bestehe kein Sachleistungs-, sondern nur ein Erstattungsanspruch nach Selbstbeschaffung, der allerdings auf dem Grunde nach übernahmefähige Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sei.

Mit ihrer am 04.05.2015 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt.

Sie ist der Auffassung, die beantragte Leistung gelte nach Fristablauf als genehmigt und zwar auch in Form der hier begehrten Sachleistung. Andernfalls käme der Regelung in § 13 Abs. 3a Satz 6 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V), wonach die Leistung nach Fristablauf als genehmigt gelte, keine eigenständige Bedeutung zu. Ferner würden mittellose Versicherte bei einer Beschränkung auf die Erstattung von der Genehmigungsfiktion ausgeschlossen. Außerdem umfasse der Erstattungsanspruch auch immer den Sachleistungsanspruch. Schließlich sei der Sachleistungsanspruch nach Genehmigungsfiktion nicht auf dem Grunde nach übernahmefähige Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 05.02.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie antragsgemäß mit einer Liposuktion der oberen und unteren Extremitäten zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an der getroffenen Entscheidung fest. Hierzu verweise sie auf das vom MDK eingeholte Gutachten. Auch die von der Klägerin geltend gemachte Genehmigungsfiktion erweitere nicht den Leistungsrahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung. Es müsse ein Kausalzusammenhang zwischen dem die Haftung der Krankenkasse begründendem Umstand und dem Nachteil des Versicherten bestehen. Diese Kausalität liege aber nur vor, wenn die Krankenkasse die begehrte Sachleistung hätte erbringen müssen und sie über den darauf gerichteten Leistungsantrag nicht rechtzeitig entschieden hat. Dafür spreche auch, dass § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V den Anspruch auf die "erforderlichen Leistungen" beschränke, also auf das Maß des Notwendigen und die Erforderlichkeit im Einzelfall nach § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Zudem beziehe sich die Genehmigungsfiktion nur auf den verfahrensrechtlichen Akt der Genehmigung, nicht aber auf den materiell-rechtlichen Inhalt, also auf die Rechtmäßigkeit der Fiktion. Rechtsfolge der Genehmigungsfiktion sei außerdem nur ein Kostenerstattungsanspruch nach Selbstbeschaffung, nicht aber der hier von der Klägerin geltend gemachte Sachleistungsanspruch; § 13 SGB V regele entsprechend seiner Überschrift nur die Kostenerstattung. Schließlich folge nichts anderes aus dem Sanktionsgedanken der Vorschrift; dieser beschränke sich darauf, dass die Krankenkasse nach Fristablauf mit formellen Einwendungen, z.B. hinsichtlich einer Fristverlängerung, aufgeschlossen sei.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und die von der Beklagten beigezogene Verwaltungsakte Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 05.02.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2015 beschwert die Klägerin nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Diese Bescheide sind rechtswidrig, weil die Klägerin von der Beklagten die Kostenzusage für die begehrte ambulante Liposuktion in drei Sitzungen der oberen und unteren Extremitäten beanspruchen kann. Dies folgt aus § 13 Abs. 3a Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V). Nach Satz 1 der Vorschrift hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Satz 5 bestimmt, dass die Krankenkassen den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mitteilt, wenn sie diese Frist nicht einhalten kann. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist gemäß Satz 6 als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, so ist die Krankenkasse nach Satz 7 zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet.

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht der Klägerin nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V der geltend gemachte Sachleistungsanspruch. Die Beklagte hat zunächst nicht die Entscheidungsfrist aus § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V eingehalten. Sie hat – ohne Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme – nicht binnen 3 Wochen über den Antrag der Klägerin entschieden. Der Antrag der Klägerin datiert zumindest auf den 29.12.2014, der Ablehnungsbescheid auf den 05.02.2015. Die Beklagte hat der Klägerin auch nicht im Sinne von Satz 5 der Vorschrift rechtzeitig schriftlich und unter Darlegung der Gründe mitgeteilt, dass sie die 3-Wochen-Frist nicht einhalten kann.

Rechtsfolge der Fristversäumung ist der Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V. Dies vermittelt der Klägerin den hier geltend gemachten Sachleistungsanspruch. Nach ihrem klaren Wortlaut gewähren Satz 6 und Satz 7 mittels einer Genehmigungsfiktion einen Sachleistungsanspruch oder einen Kostenerstattungsanspruch für die erforderliche Leistung, der Versicherte ist also bei Eingreifen der Genehmigungsfiktion nicht auf den Weg der Selbstbeschaffung und Kostenerstattung beschränkt. Dies hatte der Gesetzgeber zwar zunächst beabsichtigt, wie es sich aus dem Entwurf des Patientenrechtsgesetz (PatRechtG) ergibt (BR-Drucks. 312/12, S.46, siehe auch BT- Drucks. 17/10488, S. 32). Nachdem durch den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags im November 2012 mit dem Satz 6 eine Genehmigungsfiktion der Leistung bei Nichteinhaltung der Fristen neben der in Satz 7 geregelten Kostenerstattung aufgenommen worden war (BT-Drucks. 17/11710 S.30), um es dem Versicherten zu erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen, wurden Satz 6 und Satz 7 - ohne den klaren Wortlaut auf einen Kostenerstattungsanspruch zu beschränken - in der Gesetzesänderung aufgenommen. Beide Sätze stehen ihrem Wortlaut nach gleichberechtigt nebeneinander. Wäre der Geltungsbereich des § 13 Abs. 3a SGB V lediglich auf einen Kostenerstattungsanspruch beschränkt, käme Satz 6 kein eigener Regelungsgehalt zu. Insoweit vermag auch der Hinweis der Beklagten, die Überschrift von § 13 SGB V spreche für eine reine Kostenerstattungsvorschrift, nicht zu überzeugen. Zudem schlösse eine solche Auslegung mittellose Versicherte, die nach Ablauf der Frist nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, entgegen des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) praktisch aus dem Schutzbereich des § 13 Abs. 3a SGB V aus (so ausdrücklich: LSG Nordrhein- Westfalen, Beschluss vom 23.05.2014 - L 5 KR 222/14 B ER; ebenso: LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14; SG Speyer, Urteil vom 09.07.2015 – S 17 KR 327/14; SG Detmold, Urteil vom 09.07.2015 – S 24 KR 254/14; Urteil vom 18.06.2015 – S 3 KR 493/14; SG Gießen, Urteil vom 26.06.2015 – S 7 KR 429/14; SG Dessau-Roßlau, Urteil vom 18.12.2013 - S 21 KR 282/13; SG Nürnberg, Beschluss vom 25.03.2014 - S 7 KR 100/14 ER - und Urteil vom 27.03.2014 - S 7 KR 520/13; SG Koblenz, Urteil vom 23.03.2015 – S 13 KR 977/15; Noftz in Hauck/Haines, SGB V, § 13 S. 78g ff.). Letztlich würde aber auch nichts anderes gelten, wenn man § 13 Abs. 3 a SGB V auf einen Kostenerstattungsanspruch beschränkte. Denn dieser umfasst auch einen Anspruch auf Freistellung (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.; SG Marburg, Urteil vom 15.01.2015, S 6 KR 160/13).

Schließlich besteht der (fingierte) Sachleistungsanspruch unabhängig davon, ob diese Behandlung den sonstigen Leistungsvoraussetzungen des SGB V genügt, hier insbesondere dem Wirtschaftlichkeitsgebot aus § 12 SGB V und dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus § 135 SGB V. Das Wirksamwerden der Genehmigungsfiktion hängt ausschließlich von der Nichteinhaltung der Frist oder der fehlenden schriftlichen Mitteilung der Nichteinhaltung der Frist ab, nicht dagegen von der Einhaltung des Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebots nach §§ 2 Abs. 1 S. 3, 12 Abs. 1 SGB V oder der sonstigen Voraussetzungen (SG Detmold, Urteil vom 09.07.2015 – S 24 KR 254/14; Urteil vom 18.06.2015 – S 3 KR 493/14; LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14; SG Speyer, Urteil vom 09.07.2015 – S 17 KR 327/14; SG Koblenz, Urteil vom 23.03.2015 – S 13 KR 977/15; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23.05.2014 - L 5 KR 222/14 B ER; a.A. aber: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.05.2014 - L 16 KR 154/14 B ER). Andernfalls würden der Sanktionscharakter und die Genehmigungsfiktion der Vorschrift leer laufen. Eine Beschränkung auf den sonstigen Leistungsvoraussetzungen des SGB V genügende Leistungen wäre mit dem Ziel der Gesetzesnovellierung nicht vereinbar, weil dieselbe Situation eintreten kann, wie sie vor der Einführung der Genehmigungsfiktion im Rahmen der Freistellung nach § 13 Abs. 3 SGB V bestanden hat, nämlich, dass der Anspruch auf die erforderliche Leistung innerhalb des Systems der GKV zu überprüfen ist. Wenn Prüfungsumfang und Zeitdauer des Verfahrens durch eine nachträgliche Überprüfung praktisch wieder identisch mit den Verfahren vor Inkrafttreten der Regelung werden, hätte die Neuregelung in der Praxis keine spürbar positiven Effekte für den Schutz der Patientenrechte (so ausdrücklich: LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14; s.a. SG Heilbronn, Urteil vom 10.03.2015 – S 11 KR 2425/14).

Nichts anders folgt aus dem Hinweis der Beklagten, § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V beschränke den Erstattungsanspruch auf die "erforderlichen Leistungen". Die hier einschlägige Regelung in § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V enthält diese Beschränkung nicht. Außerdem lässt sich dem Wortlaut von Satz 7 nicht entnehmen, dass nur den sonstigen Leistungsvoraussetzungen des SGB V genügende Leistungen erforderlich sind. Vielmehr folgt die Erforderlichkeit der Leistung schon aus der Rechtswirkung der Genehmigungsfiktion (LSG Saarland, Urteil vom 17.06.2015 – L 2 KR 180/14).

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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