L 7 AS 1466/15 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 40 AS 2871/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 1466/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 21.08.2015 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat die Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen zu erstatten. Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin U, L, beigeordnet.

Gründe:

I.

Die 1972 geborene Antragstellerin zu 1) ist die Mutter der 2008 und 2014 geborenen Antragsteller zu 2) bis 4). Die Antragsteller sind bulgarische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1) ist seit dem 01.07.2012 im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners gemeldet, nach eigenen Angaben befindet sie sich seit 2011 in Deutschland. Die Antragsgegner wohnen aufgrund einer ordnungsbehördlichen Einweisung in einer Wohnung in L, für die sie eine Nutzungsentschädigung iHv insgesamt 557,53 EUR monatlich zu zahlen haben. Für die Antragsteller zu 2) bis 4) werden Kindergeld und Leistungen nach dem UVG gezahlt. Aufgrund einer einstweiligen Anordnung bewilligte der Antragsgegner bereits Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bis zum 31.03.2015.

Am 22.04.2015 beantragten die Antragsteller erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beim Antragsgegner. Mit Bescheid vom 11.05.2015 lehnte der Antragsgegner den Antrag gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab. Die Antragsteller seien weder als Arbeitnehmer anzusehen, noch verfügten sie über ein Daueraufenthaltsrecht. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Antragsgegner mit Bescheid vom 21.07.2015 zurück, wogegen die Antragsteller am 10.08.2015 Klage erhoben haben.

Am 10.08.2015 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Köln beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu zahlen. Sie haben vorgetragen, das Kindergeld und die Leistungen nach dem UVG seien nicht bedarfsdeckend. Sie seien zudem nicht in der Lage, die Nutzungsentschädigung für die Wohnung zu zahlen, weshalb eine Einweisung in eine Obdachlosenunterkunft drohe. Hierzu haben die Antragsteller eine Bestätigung der Stadt L (Schreiben vom 28.07.2015) vorgelegt. Die Antragstellerin zu 1) leide unter einem Myom und müsse operiert werden, was eine Sicherstellung des Krankenversicherungsschutzes erfordere.

Mit Beschluss vom 21.08.2015 hat das Sozialgericht den Antragsgegner aufgrund einer Folgenabwägung vorläufig verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 10.08.2015 bis zum 09.02.2016, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Gegen diese am 21.08.2015 zugestellte Entscheidung hat der Antragsgegner am 25.08.2015 Beschwerde eingelegt. Der Antragsgegner hält den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für europa- und verfassungsrechtskonform.

Am 05.10.2015 hat die Antragstellerin zu 1) ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis aufgenommen. Mit Schriftsatz vom 13.11.2015 hat der Antragsgegner sich bereit erklärt, dem Grunde nach Leistungen ab dem 05.10.2015 vorläufig zu erbringen. Im Übrigen hält er an der Beschwerde fest.

II.

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antragsgegner zu Recht zur Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verpflichtet.

Für die Zeit ab dem 05.10.2015 ist die Antragstellerin zu 1) unstreitig Arbeitnehmerin, weshalb der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ab diesem Zeitpunkt ohnehin nicht greift. Sollte sich nach Auswertung des Arbeitsverdienstes der Antragstellerin zu 1) herausstellen, dass Hilfebedürftigkeit nicht mehr besteht, kann der Antragsgegner einen Änderungsantrag nach §§ 86 b Abs. 2, Abs. 1 Satz 4 SGG stellen (allg. Meinung, vergl. nur Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86 b Rn. 45 mwN).

Auch für die Zeit vom 10.08.2015 bis zum 04.10.2015 ist die Beschwerde unbegründet.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund iSd § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG glaubhaft gemacht. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffende Begründung der angefochtenen Entscheidung, die auch hinsichtlich der Unterkunftskosten der ständigen Rechtsprechung des Senats entspricht (Beschluss des Senats vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER).

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Grundvoraussetzungen für einen Leistungsanspruch gem. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II - insbesondere die Hilfebedürftigkeit auch unter Berücksichtigung des Kindergeldes und der Leistungen nach dem UVG - hat das Sozialgericht zutreffend als glaubhaft gemacht angesehen.

Der Senat kann offen lassen, ob die Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen waren, weil sie als bulgarische Staatsangehörige Ausländer sind, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Denn der Antragsgegner als Träger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (§§ 6, 44 b Abs. 1 SGB II) ist nach § 43 SGB I zur Erbringung vorläufiger Leistungen verpflichtet:

Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen (hierzu unten 1) und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist (hierzu unten 2), kann gem. § 43 SGB I der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger (hierzu unten 3) vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßen Ermessen bestimmt. Er hat gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I Leistungen zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags (hierzu unten 4).

1) Die Antragsteller haben dem Grunde nach einen Anspruch auf existenzsichernde Sozialleistungen (zur Notwendigkeit der Zweckidentität von vorgeleisteter und ggfs. endgültig zustehender Leistung Grube, in: JurisPK, § 102 SGB X Rn. 37). Sie sind mangels ausreichenden eigenen Einkommens und Vermögens hilfebedürftig und haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Insofern erfüllen sie sowohl die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und 4 SGB II als auch die Voraussetzungen des §§ 19 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Sie bewegen sich innerhalb der Altersgrenzen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; für Leistungen nach dem SGB XII sind Altersgrenzen nicht vorgegeben (lediglich die Leistungsart ist gem. § 19 Abs. 2 SGB XII altersabhängig). Der Umstand, dass die Antragsteller sowohl nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II als auch nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII als Personen, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus der Arbeitsuche ergibt (bzw. deren Familienangehörige), von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen sind, steht der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge einem Anspruch nicht entgegen. Das BSG hat mit Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R (Medieninformation Nr. 28/15) entschieden, dass sowohl für Arbeitsuchende, als auch für Personen, die in Ermangelung von Erfolgsaussichten bei der Arbeitsuche nicht über eine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, zumindest Sozialhilfeleistungen im Ermessenswege zu erbringen sind, wenn - wie bei den Antragstellern - ein verfestigter Aufenthalt (über sechs Monate) vorliegt. Das Ermessen ist nach den bislang zugänglichen Informationen über die Begründung der Entscheidung des BSG dann u.a. aufgrund der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu leisten ist.

2) Es liegt zwischen dem Antragsgegner und dem Sozialhilfeträger ein negativer Kompetenzkonflikt iSd § 43 SGB I vor. Dies folgt aus § 21 Satz 1 SGB XII. Nach dieser Regelung erhalten Personen, die nach dem SGB II als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII. Umstritten ist, ob das Tatbestandsmerkmal "dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem SGB II" nur allgemein die Leistungssysteme des SGB II einerseits und des SGB XII andererseits nach dem Kriterium der Erwerbsfähigkeit abgrenzt mit der Folge, dass erwerbsfähige Personen keinen Anspruch nach dem SGB XII geltend machen können, auch nicht bei Eingreifen eines Leistungsausschlusses (so zB LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 - L 8 SO 129/14 BER mwN auch auf die Gegenauffassung), oder ob die Vorschrift den Zugang zum SGB XII eröffnet, wenn Hilfebedürftige aufgrund eines negativen Tatbestandsmerkmals keinen Zugang zu SGB II-Leistungen haben (so u.a. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.11.2012 - L 19 AS 1917/12 B ER). Seit dem Urteil des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) ist höchstrichterlich entschieden, dass jedenfalls auch erwerbsfähige Personen mit einem verfestigten Aufenthalt Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII haben können. Damit ist die Frage, ob die Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterfallen, - ähnlich wie die Frage der Erwerbsfähigkeit iSd § 8 Abs. 1 SGB II (vergl. § 44 a Abs. 1 Satz 7 SGB II) - jedenfalls bei diesen Personen (lediglich) maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Leistungsträgers. Unterliegen die Antragsteller dem Leistungsausschluss nicht, weil sie auch über ein anderweitiges Aufenthaltsrecht verfügen (hierzu BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R), ist der Antragsgegner für die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zuständig. Unterliegen die Antragsteller hingegen dem Leistungsausschluss, ist der Träger der Sozialhilfe bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen für die Erbringung von Hilfe zum Lebensunterhalt zuständig.

Der Umstand, dass der Sozialhilfeträger bislang mit dem Leistungsfall noch nicht befasst war, steht der Anwendung von § 43 SGB I nicht entgegen. Ausreichend ist, dass ein Leistungsträger - hier der Antragsgegner - den Anspruch aus einem Grund ablehnt, der zur Zuständigkeit eines anderen Sozialleistungsträgers führt, wenn - wie hier - alle übrigen Voraussetzungen für den Leistungsanspruch bestehen (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 26). Es ist nicht erforderlich, dass der zuerst angegangene Träger ausdrücklich auf die Einstandspflicht eines anderen Trägers verweist (Lilge, SGB I, § 43 SGB I Rn. 25).

3) Der Antragsgegner ist zuerst angegangener Leistungsträger iSd § 43 SGB I. Die Antragsteller haben bislang nur bei dem Antragsgegner existenzsichernde Leistungen geltend gemacht. Unbeachtlich ist, dass der Antragsgegner seine Leistungspflicht aufgrund der Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bereits mit Bescheid abgelehnt hat. Eine - der Sache nach wegen fehlender Zuständigkeit - bereits ergangene Ablehnungsentscheidung steht einer Vorleistungspflicht nach § 43 SGB I jedenfalls so lange die Ablehnungsentscheidung (wie hier) noch nicht bestandskräftig geworden ist, nicht entgegen. Vorläufigen Entscheidungen nach dem Sozialgesetzbuch kommt nach Zweck und Bindungswirkung allein die Funktion zu, eine (Zwischen-)Regelung bis zur endgültigen Klärung der Sach- und Rechtslage zu treffen. Vorläufig bewilligte Leistungen sind daher als aliud gegenüber endgültigen Leistungen anzusehen, deren Bewilligung keine Bindungswirkung für die endgültige Leistung entfaltet (BSG, Urteil vom 29.04.2015 - B 14 AS 31/14 R mwN) und die daher unabhängig von der Ablehnung endgültig zustehender Leistungen erbracht werden können.

4) In dem Leistungsantrag ist im Zweifel auch ein Antrag iSd § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I zu sehen, vorläufige Leistungen zu erbringen. Ein Antrag ist jede gegenüber dem erstangegangenen Leistungsträger abgegebene Willenserklärung, aus der - erforderlichenfalls durch Auslegung - zu entnehmen ist, dass der Berechtigte zumindest vorläufige Leistungen wünscht (Lilge, SGB I, § 43 Rn. 40). Dies ist bei einem Antrag auf lebensnotwendige existenzsichernde Leistungen im Regelfall zu bejahen, zumal die Antragstellerin zu 1) auf ihre akute Erkrankung hingewiesen hat.

5) Die Rechte des Antragsgegners sind gewahrt, weil er für den Fall, dass die Antragsteller von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sind, einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X gegen den Träger der Sozialhilfe geltend machen kann. Der aus der Anwendung von § 43 SGB I folgende Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X erfordert die grundsätzliche Rechtmäßigkeit der vorläufig erbrachten Leistungen (allg. Meinung, vergl. nur LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.04.2013 - L 20 SO 453/11 mwN), die gegeben ist, weil es sich bei der Frage, ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eingreift, als Folge der Rechtsprechung des BSG vom 03.12.2015 (B 4 AS 44/15 R) nicht um den Streit um eine materielle Anspruchsvoraussetzung, sondern um die Eröffnung eines Kompetenzkonfliktes handelt. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den Antragsgegner geltenden Rechtsvorschriften (§ 102 Abs. 2 SGB X). Der Sozialhilfeträger kann diese evtl. erweiterte Erstattungspflicht vermeiden, indem er den Leistungsfall übernimmt und den negativen Kompetenzkonflikt damit beendet.

6) Eine Beiladung des Sozialhilfeträgers war nicht notwendig. Zwar ist gem. § 75 Abs. 2 2. Alt. SGG eine Beiladung notwendig, wenn bei der Ablehnung des Anspruchs ein Träger der Sozialhilfe als leistungspflichtig in Betracht kommt. Da jedoch im vorliegenden Fall der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung gem. § 43 SGB I vorläufig verpflichtet wird, war eine Beiladung des Sozialhilfeträgers nicht notwendig. Von einer im Hinblick auf den evtl. Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X naheliegenden (einfachen) Beiladung des Sozialhilfeträgers gem. § 75 Abs. 1 SGG hat der Senat im Hinblick auf die Dauer des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens in diesem Einzelfall abgesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Die Antragsteller haben für das Beschwerdeverfahren Anspruch auf Prozesskostenhilfe (§§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG, 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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