L 25 AS 3035/15 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 87 AS 23139/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 3035/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 2015 aufgehoben, soweit der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Leistungserbringung verpflichtet worden ist. Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 7. Dezember 2015 bis zum 30. April 2016, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 1.009,- Euro (für Dezember 2015 anteilig) zu gewähren. Der Beigeladene hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten für das Beschwerdeverfahren zur Hälfte zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung von Rechtsanwalt T bewilligt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist begründet, soweit das Sozialgericht ihn im Wege einstweiliger Anordnung zur vorläufigen Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 12. November 2015 bis zum 30. April 2016 verpflichtet hat. Denn das Sozialgericht hat zu Unrecht den Antragsgegner und nicht den Beigeladenen verpflichtet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO)). Einen Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner hat die Antragstellerin hier indes nicht glaubhaft gemacht.

Zwar hat die Antragstellerin, die rumänische Staatsangehörige ist, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II glaubhaft gemacht. Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen vorläufigen Einschätzung ist sie aber gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Danach sind von Leistungen ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ein solcher Fall liegt hier nach vorläufiger Einschätzung vor.

Zum einen hält sich die Antragstellerin nach summarischer Einschätzung nicht im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zur Berufsausbildung in der Bundesrepublik Deutschland auf. Zwar nimmt sie derzeit bei dem Netzwerkpartner IQ – Netzwerk Berlin - Europäischen Bildungswerk für Beruf und Gesellschaft gemeinnützige GmbH – an einer Anpassungsqualifizierung für zugewanderte Pflegekräfte teil. Bei dieser Maßnahme handelt es sich aber um keine Berufsausbildung im Sinne des FreizügG/EU. Der Begriff der Berufsausbildung bezieht sich nach der Systematik des Gesetzes nur auf entgeltliche Ausbildungstätigkeiten, die unionsrechtlich einen Arbeitnehmerstatus begründen (vgl. Verwaltungsgericht Dresden, Beschluss vom 1. August 2013 - 3 L 300/13 – juris). Auszubildende sind Arbeitnehmer, wenn die Berufsausbildung in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis durchgeführt wird. Dies ist bei einer Weiterbildungsmaßnahme, die vollständig aus öffentlichen Mitteln finanziert wird und bei der – wie hier - den Teilnehmern kein Lohn oder Gehalt gezahlt wird, nicht der Fall.

Auch liegt hier kein Fall des § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU vor, wonach unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt auch Unionsbürger sind, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben (vgl. Spellbrink/Becker Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, § 7, Rn. 43). Ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU hat die Antragstellerin nicht erworben. Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben danach unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Zwar ist die Antragstellerin seit dem 6. November 2009 in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet und hält sich mithin seit über fünf Jahren im Bundesgebiet auf. Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt aber voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Artikels 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22/14 – juris). Die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Artikels 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG müssen während eines zusammenhängenden Zeitraumes von fünf Jahren erfüllt worden sein, wobei die Zeitspanne, während der zur Begründung eines Daueraufenthaltsrechts fünf Jahre lang ununterbrochen die Voraussetzungen des Artikels 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG vorgelegen haben müssen, nicht der Zeitraum vor der letzten mündlichen Verhandlung oder Tatsacheninstanz sein muss. Hier kommt nur die Erfüllung der Freizügigkeitsvoraussetzungen des Artikels 7 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/38/EG in Betracht. Jeder Unionsbürger hat danach das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen muss, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen.

Nach Aktenlage hat die Antragstellerin nicht während eines zusammenhängenden Zeitraums von mindestens fünf Jahren über ausreichende Existenzmittel verfügt. Im Bundesgebiet hält sich die Antragstellerin seit dem 6. November 2009 auf. Zwar hat die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner erklärt, schon am 9. September 2009 in das Bundesgebiet eingereist zu sein, doch sprechen dagegen die aktenkundige Anmeldebestätigung sowie der Mietvertrag. Bereits mit Schreiben an den Antragsgegner vom 6. Oktober 2014 hat die Antragstellerin erklärt, "derzeit völlig mittellos" zu sein. In einer Erklärung vom 25. September 2014 hat sie dem Antragsgegner mitgeteilt, sich von ihrem Lebenspartner im Juni 2014 getrennt zu haben; im Juli 2014 habe sie eine finanzielle Unterstützung von ihren Eltern erhalten, den Lebensunterhalt im August und September 2014 habe sie mithilfe eines Kredits bestritten. Dies zugrunde gelegt hat die Antragstellerin nicht während eines zusammenhängenden Zeitraums von mindestens fünf Jahren über ausreichende Existenzmittel verfügt. Ob sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt hat, kann hier demnach offen bleiben. Dass die Antragstellerin nach Beendigung ihrer Beschäftigung zum 15. Januar 2012 bis zur Anmeldung bei ihrer derzeitigen Krankenkasse zum 6. November 2014 über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt hat, ist allerdings nach Aktenlage ungeachtet des § 5 Abs. 1 Nr. 13 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch mindestens unklar.

Bei dieser Sachlage hält sich die Antragstellerin derzeit nur zum Zweck der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass der europarechtskonforme (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. September 2015 - C-67/14 – Alimanovic – juris) Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hier anzuwenden ist.

Nach Maßgabe der jüngsten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG; vgl. Urteile vom 3. Dezember 2015 – insbesondere B 4 AS 44/15 R; vgl. den Terminbericht Nr. 54/15) hat die Antragstellerin jedoch einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII gegen den Beigeladenen, der nach § 75 Abs. 2 2. Alt., Abs. 5 SGG hier im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten ist. Nach dem genannten Terminbericht steht dem nicht entgegen, dass der Beigeladene bis zu seiner Beiladung mit Beschluss des Senats vom 14. Dezember 2015 keine Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin hatte. Denn der Beigeladene muss sich hier die Kenntnis des Antragsgegners zurechnen lassen. Ebenso wenig führt die "gesundheitlich" bestehende Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin nach § 21 SGB XII zu einem Ausschluss von Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Sie ist als nach dem SGB II Ausgeschlossene bei Hilfebedürftigkeit dem System des SGB XII zugewiesen. Soweit die Antragstellerin wegen der fehlenden Freizügigkeitsberechtigung aufgrund des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII auch von einem Rechtsanspruch auf die Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen ist, sind ihr Leistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII im Ermessenswege zu erbringen. Danach kann Sozialhilfe geleistet werden, soweit dies im Einzelfall gerechtfertigt ist. Die Regelung räumt dem Sozialhilfeträger dem Grunde und der Höhe nach auf der Rechtsfolgenseite Ermessen ein. Im Falle eines verfestigten Aufenthalts - über sechs Monate - ist dieses Ermessen jedoch aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dem Sinne auf Null reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist. Der 14. Senat des BSG hat sich der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG, soweit dem Terminbericht Nr. 61/15 zu entnehmen ist, im Wesentlichen angeschlossen (Urteile vom 16. Dezember 2015 - B 14 AS 15/14 R u. a.). Auch vor diesem Hintergrund folgt der Senat im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren der gegenläufigen Rechtsprechung des Sozialgerichts Berlin (Urteil vom 11. Dezember 2015 - S 149 AS 7191/13 – juris) nicht.

Der Beigeladene ist demnach aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes für die Zeit ab Beschlussfassung des Sozialgerichts bis zum 30. April 2016, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zur vorläufigen Leistungserbringung zu verpflichten. Für die Zeit vom 12. November 2015 bis 6. Dezember 2015 hat die Antragstellerin dagegen einen Anordnungsgrund im Sinne des § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG nicht in ausreichendem Maße glaubhaft gemacht. Auch im Lichte des in Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes verankerten Gebots effektiven Rechtsschutzes ist es ihr insoweit nämlich zuzumuten, die Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache abzuwarten. Denn die vorgenannte Zeit ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts bereits verstrichen gewesen und schwere und unwiederbringliche Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, sind hier nicht ersichtlich.

Die Höhe der von dem Sozialgericht zuerkannten Leistungen – monatlich 399,- Euro Regelbedarf und monatlich 610,- Euro für Kosten der Unterkunft und Heizung – war hier zu bestätigen. Die Erhöhung des Regelbedarfs zum 1. Januar 2016 auf 404,- Euro monatlich konnte der Senat nicht berücksichtigen, weil die Antragstellerin keine Beschwerde erhoben hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens und Veranlassungsgesichtspunkte. Ein sofortiges Anerkenntnis hat der Beigeladene ungeachtet der genannten höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht erklärt, so dass sich ein solches hier nicht kostenmindernd auswirken konnte.

Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO zu entsprechen, weil die Antragstellerin nicht in der Lage ist, die Kosten der Verfahrensführung auch nur anteilig aufzubringen. Ob die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet oder mutwillig erscheint, war hier gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO nicht zu prüfen, weil der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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