L 5 R 676/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 1621/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 676/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.11.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1961 geborene Kläger (ohne Berufsausbildung, vom 01.05.2002 bis 20.03.2008 GdB 90) war zuletzt (mit Unterbrechungen) bis März 1995 versicherungspflichtig beschäftigt. Bis 2003 war er etwa 10 Jahre als Gastwirt selbstständig erwerbstätig. Am 15.05.2002 wurde der Kläger bei einem Verkehrsunfall in der T. schwer verletzt. Seit 01.01.2005 bezieht er Arbeitslosengeld II. Vom 01.02.2005 übte der Kläger in einem von seinem Schwager bzw. seiner Tochter betriebenen Wettbüro (Sportwetten) eine geringfügige Beschäftigung mit Verzicht auf die Versicherungsfreiheit aus.

Am 05.08.2009 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung (zuvor Anträge vom 24.03.2003 und 28.07.2008 (insoweit in der Anlage zum Rentenantrag: "seit jetzt oder früher (?) wegen Unfall im Jahr 2002 mit Folgen erwerbsgemindert"; leichteste Arbeit im Sitzen 1-2 Stunden täglich). Er halte sich wegen psychischer Störungen seit dem Unfall vom 15.05.2002, einer Diabeteserkrankung, ständiger Schmerzen beim Laufen, Gehen und Sitzen und wegen Schwindelattacken für erwerbsgemindert.

Der Kläger legte Bescheinigungen - jeweils vom 02.06.2009 - über geringfügige Beschäftigungsverhältnisse im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter wie folgt vor:

Arbeitgeber Zeitraum Arbeitszeit S. Ö. Sportwetten 02/2005 - 10/2006 3,5 Stunden/5 Wochentage D. K. Sportwetten 01.11.2006 - 31.08.2008 3,5 Stunden/5 Wochentage D. B. Sportwetten 03.09.2008 - 15.03.2009 3,5 Stunden/5 Wochentage M. K. Sportwetten seit 16.03.2009 2 Stunden/5 Wochentage

Die Beklagte holte die sozialmedizinische Stellungnahme der Internistin Dr. M. vom 26.08.2009 ein. Darin sind auf der Basis vorgelegter unfallchirurgischer und internistischer Befundberichte aus dem Zeitraum Oktober 2002 bis April 2008 die Diagnosen Gebrauchseinschränkung beider Beine, Füße, des linken Arms, der linken Hand, Teillähmung der linken Ellen- und linken Mittelhandnerven und Folgebeschwerden nach Mittelgesichtsbrüchen nach schwerer Vielfachverletzung am 15.05.2002 (Verkehrsunfall in der T.), Hüftkopfnekrose rechts 2004, Diabetes mellitus ca. 2001 mit beginnender diabetischer Beinnervenschädigung und leichter Verengung der rechten inneren Carotis-Arterie festgehalten. Der Kläger könne als selbstständiger Gastwirt seit dem 15.05.2002 nur noch unter 3 Stunden täglich arbeiten und leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts unter qualitativen Einschränkungen (u.a. keine volle Gebrauchsfähigkeit des linken Armes/der linken Hand) 3 bis unter 6 Stunden täglich verrichten. Es bestünden erhebliche Funktionseinschränkungen beider Beine/Füße und des linken Arms bzw. der linken Hand. Eine Besserung sei unwahrscheinlich.

In einer weiteren sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. H. vom 12.10.2009 sind außerdem eine anhaltende Depression und psychogene Schlaflosigkeit als Folge der körperlichen Einschränkungen festgehalten. Dr. H. vertrat die Auffassung, der Kläger könne seit dem Unfall im Mai 2002 auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein. Eine Besserung sei unwahrscheinlich.

Mit Bescheid vom 21.10.2009 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mangels Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente ab. Nach den getroffenen Feststellungen bestehe eine volle Erwerbsminderung seit 15.05.2002. Im Fünfjahreszeitraum vor Eintritt der Erwerbsminderung (15.05.1997 bis 14.05.2002 seien keine Kalendermonate mit Beiträgen belegt. Die Zeit ab 1.1.1984 sei auch nicht durchgehend mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt.

Am 28.10.2009 legte der Kläger Widerspruch ein. Er trug der Kläger vor, sein Gesundheitszustand habe sich vorübergehend gebessert. Er habe vom 01.02.2005 bis 30.11.2008 3,5 Stunden täglich gearbeitet und hätte auch noch länger arbeiten können. Dann habe sich sein Gesundheitszustand wieder verschlechtert; jetzt könne er nur noch 2 Stunden täglich arbeiten.

Die Beklagte erhob die sozialmedizinische Stellungnahme der Dr. M. vom 09.02.2010. Darin sind die Diagnosen Funktionsminderung beider Beine, Füße, des linken Arms und der linken Hand nach schwerer Vielfachverletzung Mai 2002 (Verkehrsunfall in der T.) mit zahlreichen operierten Knochenbrüchen mit erheblich kompliziertem Verlauf, insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit diabetischer Schädigung der Beinnerven, anhaltende reaktive Depression und Hüftkopfnekrose rechts festgehalten. Unzweifelhaft liege auf Dauer seit dem Verkehrsunfall im Mai 2002 ein quantitativ gemindertes Leistungsvermögen vor. Die schwere Vielfachverletzung mit seit dem Unfall bestehenden erheblichen Funktionsminderungen beider Beine und des linken Arms seien bestens und vielfach dokumentiert. Es verbleibe bei der bisherigen Leistungsbeurteilung. Der Kläger könne als selbstständiger Gastwirt nur unter 3 Stunden täglich arbeiten und auch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ebenfalls nur unter 3 Stunden täglich verrichten. Eine Besserung sei unwahrscheinlich.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ergänzend führte sie aus, der Kläger könne seit 15.05.2002 (durchgehend) nur noch unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein, weshalb volle Erwerbsminderung vorliege; Anhaltspunkte für einen späteren Leistungsfall gebe es nicht.

Am 17.05.2010 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG). Er trug vor, unstreitig stehe fest, dass er nach dem Verkehrsunfall am 15.05.2002 nur noch weniger als 3 Stunden täglich habe arbeiten können. Von Februar 2005 bis November 2008 habe er aber in Teilzeit erwerbstätig sein können und dadurch Rentenanwartschaften begründet. Er habe als Aufsicht in einem Wettbüro gearbeitet (Öffnungszeit 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr). Dabei habe es sich um eine überwiegend sitzende und körperlich nicht anstrengende Arbeit gehandelt (Hochfahren der Computerprogramme, Entgegennahme der Wetteinsätze und Eingabe in den Computer). Zur Arbeit sei er mit seinem PKW (mit Automatikgetriebe), den er in unmittelbarer Nachbarschaft des Wettbüros habe parken können, gefahren. Das Landratsamt (Versorgungsamt) T. habe mit Bescheid vom 17.03.2008 den ihm zuerkannten GdB auf 70 vermindert; die Voraussetzungen für die (ursprüngliche) Zuerkennung der Merkzeichen A, G (gemeint wohl: aG) und B seien ebenfalls nicht mehr erfüllt. Das belege eine Besserung seines Gesundheitszustands. Allerdings sei deswegen ein Rechtsstreit vor dem Sozialgericht anhängig (S 4 SB 4144/09). Der Lohnzahlung von 300 EUR sei eine Arbeitszeit von 18 Wochenstunden (6 Tage zu 3 Stunden), der Lohnzahlung von 150 EUR eine Arbeitszeit von 9 Wochenstunden zugrunde gelegt worden (Lohnkontoauszüge SG-Akte S. 32 ff.). Ab März 2009 habe er die Arbeitszeit reduziert. Sein Gesundheitszustand habe sich wieder verschlechtert; am 05.10.2010 habe er auch einen Herzinfarkt erlitten, weshalb 2 Stentimplantationen durchgeführt worden seien.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und trug vor, im Hinblick auf das (geringe) Arbeitsentgelt des Klägers (vom 31.03.2005 bis 3.12.2005 brutto 3.100 EUR) müsse von einer Arbeitsleistung deutlich unter 3 Stunden täglich ausgegangen werden. In einem Verfahren wegen der Gewährung von Grundsicherungsleistungen im Jahr 2004 sei ein Leistungsvermögen von unter 3 Stunden täglich auf Dauer ab 26.05.2002 angenommen worden. Angesichts der Schwere der gesundheitlichen Einschränkungen sei eine Besserung des Leistungsvermögens auf über 3 Stunden täglich mehr als unwahrscheinlich.

Die Beklagte legte die beratungsärztliche Stellungnahme des Internisten und Sozialmediziners Dr. B. vom 18.01.2011 vor. Darin ist ausgeführt, im Schwerbehindertenverfahren habe der Internist Dr. N. im Bericht vom 13.07.2004 zahlreiche Knochenbrüche aufgrund des Verkehrsunfalls vom Mai 2002 aufgeführt. Der Oberarm links sei kompliziert gebrochen gewesen mit Nervenverletzung und Funktionsverlust von Teilen der Oberarmmuskeln links. Besonders gravierend seien beidseitige Unterschenkelbrüche mit mehrfachen und langwierigen Komplikationen gewesen. Am rechten Sprunggelenk sei es zu einer erheblichen, nicht mehr rückbildungsfähigen Arthrose gekommen. Selbst mit Gehhilfen sei der Kläger nach Einschätzung des Dr. N. erheblich beeinträchtigt. Eine volle Belastung sei nicht möglich, weitere Operationen seien notwendig. Der Kläger könne eine Gehstrecke von 100 m nicht bewältigen, weshalb die Voraussetzungen des Merkzeichens aG unzweifelhaft vorlägen. Im am 05.08.2009 gestellten Rentenantrag habe sich der Kläger seit 15.05.2002 selbst für erwerbsgemindert erachtet und hierfür auf seine Gehbehinderung, psychische Störungen seit dem Unfall, die Diabeteserkrankung, ständige Schmerzen beim Laufen, Gehen und Sitzen und auf Schwindelattacken verwiesen. Nach Ansicht des Dr. N. habe seit dem Unfall 2002 durchgängig Arbeitsunfähigkeit bestanden; der Gesundheitszustand des Klägers habe sich weiter verschlechtert, eine Erwerbstätigkeit sei höchstens 2 Stunden täglich möglich. Aus den Berichten der Universitätsklinik T. über die (komplikationslose) Stentimplantation während eines zweitätigen stationären Aufenthalts ergäben sich keine höhergradigen funktionellen Einschränkungen. Aus einer Herabstufung des GdB (gegen die der Kläger im Übrigen mit Rechtsbehelfen vorgehe) könne nicht ohne Weiteres auf eine Verminderung der vorbestehenden funktionellen Einschränkungen geschlossen werden. Neue medizinische Gesichtspunkte, die eine Änderung der bisherigen Leistungseinschätzung begründen könnten, lägen insgesamt nicht vor.

Das SG befragte behandelnde Ärzte:

Der Neurologe und Psychiater Dr. K. teilte im Bericht vom 05.03.2011 Konsultationen zwischen September 2008 und September 2009 mit. Der Kläger habe diffuse, schlecht fassbare Beschwerden geklagt. Auf seinem Fachgebiet bestünden keine Leistungseinschränkungen.

Der Internist Dr. N. verwies im Bericht vom 30.03.2011 auf seinen Bericht vom 19.02.2010 im Schwerbehindertenverfahren. Seitdem habe sich an den erheblichen Beeinträchtigungen des Klägers infolge des Verkehrsunfalls im Jahr 2002 nichts verändert. Führend in der Schmerzsymptomatik sei die beidseitige Arthrose des Sprunggelenks. Dadurch sei das Gehen erheblich eingeschränkt. Die erhebliche körperliche Einschränkung des Klägers auf orthopädischem/unfallchirurgischem Fachgebiet berechtige zu der Beurteilung, dass der Kläger durchgehend seit 2002 nur noch leichte Tätigkeiten unter 3 Stunden täglich habe verrichten können.

Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Z. teilte im Bericht vom 12.04.2011 mit, er habe den Kläger erstmals am 09.10.2008 behandelt. Eine anhaltende depressive Verstimmung des Klägers sei Ausdruck der seelischen Überforderung durch die körperlichen Einschränkungen und deren soziale Folgen. Dadurch sei auch das Durchhaltevermögen und das Anpassungs- und Umstellungsvermögen erheblich eingeschränkt. Der Kläger sei kaum belastbar und habe den Tagesablauf mit Anstrengungen noch selbstständig bewerkstelligen können. Eine wesentliche Veränderung des psychopathologischen Befundes sei nicht festzustellen. Der Kläger leide an einer anhaltenden depressiven Verstimmung. Ob er vom 15.05.2002 bis 09.10.2008 nur noch leichte Tätigkeiten unter 3 Stunden täglich habe verrichten können, könne er nicht beurteilen. Derzeit könne der Kläger nicht mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein.

Der Dipl.-Psych. und Psychotherapeut K. teilte im Bericht vom 14.04.2011 mit, er behandele den Kläger seit 19.12.2008. Der Kläger leide (u.a.) unter einer posttraumatischen Belastungsstörung mit mittelschwerer Depression. Nach zahlreichen Operationen seien die Beine schief zusammengewachsen, wodurch die Gehfähigkeit auf ca. 200 m eingeschränkt sei. Der Kläger könne aber Auto fahren. Zu Beginn der Verhaltenstherapie am 19.12.2008 habe sich der Gesundheitszustand des Klägers verschlechtert. Zu einer weiteren Verschlechterung sei es gekommen, als der Kläger nicht mehr wie zuvor im Wettbüro habe arbeiten können. Gegen die Beurteilung, der Kläger könne durchgehend seit 15.05.2002 nur noch unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein, bestünden Bedenken. Von Februar 2005 bis Ende 2008 habe er 3,5 bis 4,5 Stunden an 5 Tagen in der Woche im Wettbüro Büroarbeit erledigen können. Danach habe der Kläger die Arbeitszeit auf bis zu 2 Stunden vermindert, weil er sich nicht habe länger konzentrieren können. Da ihn die Arbeit ablenke, sei sie gleichwohl hilfreich.

Der Orthopäde Dr. W.-St. gab ihm Bericht vom 02.06.2011 Konsultationen ab 23.12.2010 an; die Konsultationen davor lägen über 10 Jahre zurück. Aufgrund der aktuellen Befundlage vom Dezember 2010 und der Untersuchung vom März 2011 könne der Kläger leichte Tätigkeiten im Sitzen 6 Stunden täglich und mehr verrichten. Er sei auch wegefähig. Das Gangbild sei zwar behindert, der Kläger benötige jedoch keine Gehhilfen, wie Gehstock oder Unterarmgehstützen.

Der Internist Dr. G. führte im Bericht vom 17.07.2011 aus, er habe den Kläger zuletzt vom 18.01.2006 bis 16.06.2011 behandelt. Der Zustand sei seit 2006 stabil; Änderungen hätten sich nicht ergeben. Zu der Leistungsfähigkeit des Klägers in der Zeit von 2002 bis 2006 sei eine Stellungnahme nicht möglich. Aus internistischer Sicht habe der Kläger aber sicherlich leichte Tätigkeiten 6 Stunden täglich verrichten können.

Der Orthopäde und Unfallchirurg Sch. teilte im Bericht vom 31.08.2011 (neben den erhobenen Diagnosen) mit, er habe den Kläger vom 22.04.1999 bis 19.06.2008 behandelt. Gegen die Beurteilung, der Kläger habe seit 15.05.2002 durchgehend nur unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein können, bestünden Bedenken. In der Gesamtbetrachtung seien die funktionellen Einschränkungen ab 2005 nicht mehr so schwerwiegend gewesen, dass der Kläger ab 2005 daran gehindert gewesen wäre, leichte Tätigkeiten weit überwiegend im Sitzen mehr als 3 Stunden täglich zu verrichten. Derzeit könne der Kläger leichte Arbeiten (ebenfalls weit überwiegend im Sitzen) mindestens 6 Stunden täglich leisten.

Der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. R. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T., dessen im Schwerbehindertenverfahren erstattetes Gutachten vom 01.09.2011 vom SG beigezogen und dessen ergänzende unfallchirurgische-orthopädische sachverständige Stellungnahme vom 14.10.2011 vom Kläger vorgelegt wurde, führte im Bericht vom 06.09.2011 aus, er habe den Kläger vom 30.05.2002 bis 05.05.2011 behandelt. Die Gehfähigkeit des Klägers, die anfangs nicht bzw. nur sehr stark eingeschränkt bestanden habe, habe sich im Laufe der Zeit etwas gebessert. Es bestünden keine Bedenken gegen die Beurteilung, der Kläger habe seit 15.05.2002 durchgehend leichte Tätigkeiten (nur) unter 3 Stunden täglich verrichten können. Derzeit könne er nicht mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein.

Nachdem die Beklagte die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. B. vom 31.10.2011 (keine Änderung der bisherigen Leistungseinschätzung) vorgelegt hatte, erhob das SG das Gutachten des Orthopäden und Unfallchirurgen Dr. B. vom 05.02.2012.

Dr. B. führte aus, der Kläger habe angegeben, nach dem Unfall im Jahr 2002, den er nur knapp überlebt habe, sei er bis Januar 2005 massiv eingeschränkt und nicht mehr arbeitsfähig gewesen. Danach habe er ab Februar 2005 im Wettbüro seines Schwagers auf 320-EUR-Basis durchschnittlich 3 Stunden täglich ausgeholfen. Nach der Übernahme des Wettbüros durch seine Tochter sei er bei dieser bis etwa Januar 2009 angestellt gewesen. Danach habe er nur noch sporadisch gearbeitet und für seine Tochter den "Papierkram" erledigt, was er auch derzeit noch mache. Mittlerweile könne er nicht mehr arbeiten, da er unter ausgeprägten Schmerzen und Beeinträchtigungen leide. Er habe über 30 operative Eingriffe vornehmen lassen müssen (zuletzt am 09.12.2011 eine Versteifung des rechten Fußes bzw. Sprunggelenks wegen schwerer Arthrose).

Der Gutachter erhob folgende Diagnosen:

- Z. n. Polytrauma vom 15.05.2002 mit Mittelgesichtsfrakturen (Nasenbein, Jochbein links, Orbitaboden links), distaler Humerustrümmerfraktur links mit Gelenkbeteiligung, inkompletter Läsion des Nervus ulnaris und Nervus medianus links, Schenkelhalsfraktur beidseits, Unterschenkelfraktur beidseits, Talusfraktur rechts, Calcaneusfraktur rechts, bimalleoläre Sprunggelenksfraktur links und Metatarsaliafrakturen II und III links, - Chronisches ortsständiges cervicales Wirbelsäulensyndrom ohne Funktionsbehinderung der HWS und ohne radikuläre Reiz- oder Ausfallerscheinungen der oberen Extremitäten, - Chronisches ortsständiges thoracales Wirbelsäulensyndrom mit Funktionsbehinderung der BWS bei Wirbelsäulenfehlstatik und muskulärer Dysbalance im Wirbelsäulenbereich, - Chronisches ortsständiges lumbales Wirbelsäulensyndrom mit Funktionsbehinderung der LWS bei Wirbelsäulenfehlstatik und muskulärer Dysbalance im Wirbelsäulenbereich ohne radikuläre Reiz- oder Ausfallerscheinungen der unteren Extremitäten, - Wiederkehrender Reizzustand des Muskel-Sehnen-Weichteil-Mantels beider Schultergelenke mit Funktionsbehinderung im Sinne der Schulterteilsteife beidseits, links ausgeprägter als rechts, - Deutliche Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenks bei Z. n. osteosynthetisch versorgter distaler Humerustrümmerfraktur mit Gelenkbeteiligung, - Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke bei Z. n. konservativ behandelter Schenkelhalsfraktur beidseits, - Funktionsbehinderung des oberen und unteren Sprunggelenks links bei posttraumatischer Sprunggelenksarthrose links bei Z. n. osteosynthetischer Versorgung einer Unterschenkelfraktur links und bimalleolärer Sprunggelenksfraktur links sowie Z. n. Valgisationsosteotomie am linken Unterschenkel, - Aufgehobene Funktion im oberen und unteren Sprunggelenk rechts nach kürzlich stattgehabter Arthrodese des rechten OSG und USG bei fortgeschrittener posttraumatischer Sprunggelenksarthrose und Pseudoarthrose nach Talusfraktur mit Talusnekrose, - Funktionsbehinderung und Belastungsstörung beider Füße bei posttraumatischer Fußdeformität nach o. g. Sprunggelenksfrakturen und Z. n. Metatarsalia-Frakturen links

sowie

- Diabetes mellitus, - Adipositas, - Psychosomatisches Syndrom, - Anpassungsstörung.

Der überwiegende Teil der Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet beruhe auf dem schweren Verkehrsunfall 2002. Nach Erstbehandlung in der T. sei der Kläger in der BG-Klinik T. weiterbehandelt worden. Diese Klinik habe über den langwierigen Heilverlauf (auch für die hier streitige Zeit ab Februar 2005) Berichte erstattet. Insgesamt gebe es aber für die Zeit von 2005 bis 2008 nur spärliche Befunde. Den vorliegenden Berichten für die Zeit vor 2005 und nach 2008 könne eine weitgehend konstant beschriebene Befundsituation entnommen werden. Das Klagebegehren lasse sich anhand des dargestellten Aktenverlaufs zweifellos nicht stützen, da kaum nachvollziehbar sei, dass unter dem Aspekt eines als weitgehend konstant beschriebenen Befundverlaufs anfangs Leistungsunfähigkeit, zwischenzeitlich Leistungsfähigkeit und sodann wieder Leistungsunfähigkeit vorgelegen haben solle. Die vom Kläger angeführte Verminderung des GdB und der Wegfall des Merkzeichens aG betreffe die Zeit ab 20.03.2008 und belege ein Leistungsvermögen für die hier streitige Zeit von Februar 2005 bis November 2008 nicht; entsprechendes gelte für die Mehrzahl der vom Sozialgericht erhobenen Arztberichte. Die Auffassung des Orthopäden Sch. (Bericht vom 31.08.2011), wonach während der streitigen Zeit vorübergehend Leistungsfähigkeit eingetreten sei, könne sich weder auf eigene Befunderhebungen noch auf die dem Bericht beigefügten Befundberichte anderer Ärzte stützen. Die Annahme eines (seinerzeit) erhaltenen vollschichtigen Leistungsvermögens könne unter Berücksichtigung der Multimorbidität des Klägers auch nicht überzeugen. Die Beurteilung des Dr. R. hinsichtlich einer Besserung des Gehvermögens beziehe sich auf den Bereich des Schwerbehindertenrechts und nicht auf die rentenrechtliche Leistungsfähigkeit des Klägers. Außerdem könne aus einer graduellen Besserung der Gehfähigkeit nicht zwingend auf eine verbesserte berufliche Leistungsfähigkeit geschlossen werden. Auch derzeit könne angesichts der Vielzahl der Erkrankungen und Funktionseinschränkungen des Klägers vollschichtiges Leistungsvermögen nicht angenommen werden; der Kläger könne nur unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein. Berücksichtige man den gesamten Aktenverlauf, gebe es keine ausreichenden beweisenden medizinischen Befunde, die im Zeitraum Februar 2005 bis November 2008 ein über dreistündiges Leistungsvermögen plausibel erscheinen lassen könnten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung der Mehrzahl der mitgeteilten ärztlichen Berichte und der sachverständigen Zeugenaussagen ein weitgehend konstanter Befundverlauf vorgelegen und insoweit ein aufgehobenes Leistungsvermögen bereits nach dem Unfall im Mai 2002 bestanden habe und seither auch durchgängig weiter bestehe. Freilich sei deswegen die theoretische bzw. hypothetische Möglichkeit einer graduellen temporären Besserung nicht auszuschließen. Aus gutachterlicher Sicht sei dies anhand der aktenkundigen objektiven medizinischen Befunde jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen.

Der Kläger könne nicht mehr mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig sein. Das Leistungsvermögen sei seit dem Unfall vom 15.05.2002 aufgehoben gewesen. Das sei für die Zeit ab 2009 (wieder) besser ärztlich dokumentiert. Von einer temporären Besserung des Leistungsvermögens in der Zeit von 2005 bis 2008 könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden. Der Kläger habe auch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts während der streitigen Zeit nur unter 3 Stunden täglich verrichten können.

Der Kläger machte abschließend geltend, er habe während der streitigen Zeit tatsächlich (in eingeschränktem Umfang von durchschnittlich 3,5 Stunden täglich) im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter arbeiten können; das sei maßgeblich. Es habe sich um eine sitzende Tätigkeit mit der Möglichkeit zum Wechsel der Körperhaltung gehandelt. Da sich die Tür des Wettbüros automatisch geöffnet habe, habe er nicht aufstehen müssen. Man möge hierzu Zeugen vernehmen.

Am 21.11.2012 fand die mündliche Verhandlung des SG statt. Der Kläger wiederholte im Wesentlichen die bisherigen Angaben zu seiner Tätigkeit im Wettbüro. Anfangs habe das Wettbüro seinem Schwager und seiner Tochter gehört. Diese hätten sich zerstritten und seine (als Arzthelferin beschäftigte) Tochter habe ein eigenes Wettbüro aufgemacht. Dort habe er seine Tätigkeit fortgesetzt; falls notwendig, habe man eine weitere Mitarbeiterin beschäftigt. Arbeitsunfähigkeitszeiten habe er damals nicht gehabt.

Mit Urteil vom 21.11.2012 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Beklagte habe den Rentenantrag des Klägers zu Recht abgelehnt. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente gem. § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) seien (unstreitig) weder zum Unfallzeitpunkt am 15.05.2002 noch zum Zeitpunkt der Aufnahme einer Tätigkeit im Wettbüro des Schwagers bzw. der Tochter des Klägers im Februar 2005 erfüllt. Entgegen der Ansicht des Dr. B. sei aber davon auszugehen, dass der Kläger zu Beginn der Beschäftigung im Wettbüro im Februar 2005 habe 3 bis unter 6 Stunden täglich erwerbstätig sein können. Die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit - hier an 3,5 Stunden täglich - könne die vom Gutachter angenommene (volle) Erwerbsminderung widerlegen. Insoweit komme der tatsächlichen Arbeitsleistung höherer Beweiswert zu, sofern die Arbeit nicht auf Kosten der Restgesundheit erbracht werde. Das sei nicht der Fall gewesen, da es seinerzeit nicht zu Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers gekommen sei. Die Beschäftigung im Wettbüro sei - der Tätigkeit einer Spielhallenaufsicht ähnlich - auch dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnen; eine vergönnungsweise gewährte Beschäftigung oder ein Schonarbeitsplatz habe nicht vorgelegen. Auch betriebsunübliche Arbeitsbedingungen seien nicht erforderlich gewesen. Das gehe aus den Angaben des Klägers hervor. Nicht nachgewiesen sei aber, dass das Leistungsvermögen des Klägers Anfang 2009 (wieder) auf unter 3 Stunden täglich abgesunken sei. Eine entsprechende Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers sei nicht dokumentiert; das gelte auch für die Diabeteserkrankung des Klägers. Insoweit hätten sich während der Behandlung durch Dr. G. (Zeitraum 18.01.2006 bis 16.06.2011) keine wesentlichen Veränderungen ergeben (Bericht des Dr. G. vom 17.07.2011: seit 2006 stabiler Zustand, aus internistischer Sicht sechsstündige Leistungsfähigkeit). Der Eintritt eines erneuten Leistungsfalls sei auch Anfang 2009 durch die Verminderung der täglichen Arbeitsstunden von 3,5 auf 2 bzw. die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses nicht nachgewiesen. Der Kläger habe als teilweise Erwerbsgeminderter seinen Teilzeitarbeitsplatz in Erwartung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgegeben. Die Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit bzw. die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses sei demgegenüber medizinisch nicht indiziert gewesen, weswegen von einem Verschlossensein des Arbeitsmarkts nicht ausgegangen werden könne.

Gegen das ihm am 08.02.2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14.02.2013 Berufung eingelegt. Das SG hätte weitere Ermittlungen zu seinem Leistungsvermögen ab 2009 anstellen müssen. So habe sich sein psychischer Gesundheitszustand verschlechtert. Hinzukomme die Diabeteserkrankung. Sein Gehvermögen sei seit der Versteifung des rechten Fußes im Dezember 2011 ebenfalls schlechter geworden. Schließlich habe er 2010 einen Herzinfarkt erlitten, habe Lungenprobleme und leide an Schlafapnoe, die mit einer Atemmaske nur unzureichend kompensiert sei. Der Kläger hat weitere Arztberichte (u.a. Entlassungsbericht der Klinik A. M., Bad S. vom 01.06.2012 über eine stationäre psychosomatische/psychiatrische Behandlung vom 01.05.2012 bis 22.05.2012) vorgelegt. Der Dipl.-Psych. K. hat unter dem 20.04.2013 ausgeführt, der Kläger werde wegen rezidivierender mittelschwerer Depression und somatoformer Schmerzstörung seit 19.12.2008 behandelt. Die Beeinträchtigungen hätten sich seit 2009 verschlimmert und die Belastbarkeit sei auch in der Alltagsbewältigung sehr gering geworden. Seit Anfang 2009 könne der Kläger zur Alltagsbewältigung nur noch maximal 2 Stunden pro Tag mit Pausen und Konzentrationsstörungen arbeiten. Der Lungenarzt Dr. L. hat in einer Bescheinigung vom 07.05.2013 eine obstruktive Atemwegserkrankung und eine obstruktive Schlafapnoe bestätigt. Daraus resultierten eine mäßig eingeschränkte Verminderung der Belastbarkeit. Wegen der genannten Erkrankungen allein wäre zwar Arbeitsfähigkeit von mindestens 6 Stunden täglich für leichte Tätigkeiten anzunehmen. Im Hinblick auf die weiteren Erkrankungen des Klägers sei eine abschließende Leistungseinschätzung aber nicht möglich. Dr. N. hat unter dem 07.05.2013 ausgeführt, der Gesundheitszustand des Klägers habe sich seit 2009 außer Frage weiter erheblich verschlechtert. Der Kläger könne wegen der KHK mit progredienter Luftnot nicht mehr 3 Stunden täglich arbeiten. Das Leistungsvermögen sei schon vor dem 31.01.2012 auf unter 3 Stunden täglich abgesunken gewesen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.11.2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 21.10.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.04.2010 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.08.2009 zu gewähren,

hilfsweise, Prof. Dr. K. zu den Einwendungen der Beklagten in deren Stellungnahme vom 04.08.2015 zu hören.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. Nach ihrer Auffassung sei der Kläger seit dem Unfallereignis im Mai 2002 durchgehend voll erwerbsgemindert; das gehe aus dem Gutachten des Dr. B. hervor. Der Kläger habe im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter anfangs über 3 Stunden täglich auf Kosten der Restgesundheit gearbeitet; die spätere Verminderung der täglichen Arbeitszeit auf 3 Stunden beruhe ersichtlich auf einer Überforderung des Klägers.

Die Beklagte hat mitgeteilt, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente seien im Hinblick auf die geringfügige Beschäftigung im Wettbüro unter Verzicht auf Beitragsfreiheit und den Sozialleistungsbezug bzw. Beitragszeiten bei einem Leistungsfall in der Zeit zwischen 02.12.2007 und 31.01.2012 erfüllt.

Der Senat hat ergänzend behandelnde Ärzte befragt.

Der Kardiologe Dr. V. hat im Bericht vom 22.04.2013 mitgeteilt, er habe den Kläger erstmals am 07.07.2011, sodann am 11.11.2011 und zuletzt am 28.03.2013 untersucht. Die Untersuchungsbefunde hätten sich verschlechtert. Zu vermuten sei eine Progression der KHK; eine Re-Koronarangiographie sei empfohlen worden. Die Ergebnisse der Untersuchung lägen noch nicht vor. Der Herzinfarkt vom 05.10.2010 habe nicht zu einer relevanten Einschränkung der LV-Pumpfunktion geführt, die Untersuchung vom 28.03.2013 habe echokardiographisch eine gute links- und rechtsventrikuläre Funktion gezeigt. Die Pumpleistung des Herzens sei damit nicht verantwortlich für eine reduzierte Leistungsfähigkeit, allerdings sei zu vermuten, dass infolge der koronaren Herzkrankheit myokardiale Durchblutungsstörungen eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit trotz guter linksventrikulärer Pumpfunktion verursachen könnten.

Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Z. hat im Bericht vom 07.05.2013 mitgeteilt, das erste Gespräch mit dem Kläger habe am 09.10.2008, das letzte Gespräch habe am 10.04.2013 stattgefunden. Seit dem Autounfall 2002 klage der Kläger neben anhaltenden Schmerzen ebenfalls durchgehend über eine depressive Verstimmung mit Kraftlosigkeit, Antriebsminderung, Interesselosigkeit, sozialem Rückzug, erhöhter Erschöpfbarkeit, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Nervosität und Gereiztheit sowie Libidoverlust. Die depressive Symptomatik gehe einher mit psychovegetativen Beschwerden (Schwindel) und verstärktem Erleben der körperlichen Beschwerden. Dr. Z. hat als Diagnosen Dysthymie und psychogene Schlafstörung mitgeteilt. Insgesamt habe sich die depressive Symptomatik verstärkt. Die Zunahme der körperlichen Beschwerden verschlimmere die depressive Symptomatik, wodurch eine Negativspirale in Gang gesetzt werde, die die Verschlechterung der depressiven Symptomatik erkläre. Der Kläger könne nur unter 3 Stunden täglich erwerbstätig sein. Von Oktober 2008 bis Oktober 2009 sei die berufliche Leistungsfähigkeit wegen depressiver Verstimmung auf weniger als 6 Stunden täglich eingeschränkt gewesen. Gegenüber diesem Befund sei es in der Zwischenzeit zu einer Verschlechterung gekommen, da weitere körperliche Erkrankungen hinzugetreten seien und die Schmerzsymptomatik weiter bestehe.

Der Internist und Diabetologe Dr. G. hat im Bericht vom 27.07.2013/15.08.2013 mitgeteilt, er behandele den Kläger seit 18.01.2006 bis heute. Die Diabeteserkrankung stelle der Kläger durch Insulin selbst ein. Der Diabetes - mit leichtgradigen Folgeerkrankungen - sei mäßig gut eingestellt. Ein diabetisches Fußsyndrom liege nicht vor. Die berufliche Leistungsfähigkeit sei insofern betroffen, als der Kläger viermal täglich den Blutzucker messen und Insulin spritzen müsse. Im Hinblick auf die Diabeteserkrankung seien leichte Tätigkeiten 6 Stunden täglich möglich.

Die Beklagte hat die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. B. vom 23.08.2013 vorgelegt. Darin ist ausgeführt, zur Begründung der Berufung würden entscheidende neue medizinische Gesichtspunkte nicht geltend gemacht. Dem Entlassungsbericht der Klinik A. M., Bad S., könne entnommen werden, dass die maßgeblichen psychosomatischen Störungen bereits seit 2002/2003 bestünden. Von einer entscheidenden Verschlechterung im Verlauf sei in dem Bericht nicht die Rede. Der Entlassungsbericht spreche somit ebenfalls dafür, dass das Leistungsvermögen des Klägers bereits seit dem Unfall im Jahr 2002 auf unter 3 Stunden täglich abgesunken gewesen sei. Die von Dr. Z. angegebene Verschlechterung der depressiven Stimmung während der letzten Jahre sei nicht nachvollziehbar begründet. Außerdem habe er neben den seit dem Unfall 2002 anhaltenden Schmerzen über eine vom Kläger ebenfalls angegebene durchgehende depressive Verstimmung berichtet. Die Diagnose einer (bloßen) Dysthymie sei nicht verständlich und stehe im krassen Widerspruch zu den Ausführungen im Entlassungsbericht der Klinik A. M ... Der Kardiologe Dr. V. habe über eine Verschlechterung anlässlich einer Untersuchung am 28.03.2013 berichtet. Die anstehende Untersuchung habe vom 16.04.2013 bis 18.04.2013 in der Universitätsklinik T. stattgefunden. Man habe die Beschwerdesymptomatik dort rasch beheben können. Echokardiographisch habe sich eine gute Herzfunktion gezeigt. Daraus könne eine quantitative Leistungseinschränkung auf Dauer nicht abgeleitet werden; das gelte auch für den vom Kläger vorgelegten Bericht des Dr. V. vom 10.05.2013. Insgesamt ergäben sich aus den jetzt vorgelegten Unterlagen keine eindeutigen neuen medizinischen Gesichtspunkte, die eine entscheidende Abweichung von der bisherigen Leistungseinschätzung nachvollziehbar begründen könnten, gerade auch im Hinblick auf den Leistungsfall.

Der Senat hat (nach Beiziehung der Akten der Schwerbehindertenverfahren des SG S 4 SB 4144/09 und S 4 B 3743/03) die ergänzende gutachterliche Stellungnahme des Dr. B. vom 05.05.2014 eingeholt. Dr. B. hat ausgeführt, in seinem für das SG erstatteten Gutachten vom 05.02.2012 habe er aufgrund der erheblichen und vielschichtigen Funktionsstörungen ein auf unter 3 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen des Klägers angenommen. Er habe hierfür auf die ausgeprägten Funktionsbehinderungen auf orthopädisch-traumatologischem Fachgebiet und auf die sich zusätzlich negativ auswirkende Verflechtung mit Befunden auf internistischem und nervenärztlichem Fachgebiet abgestellt. Aus den (beigezogenen) Akten der Schwerbehindertenverfahren S 4 SB 3743/03 und S 4 SB 4144/09 ergäben sich keine neuen, entscheidungserheblichen Gesichtspunkte. Er sei seinerzeit zu der Überzeugung gelangt, dass beim Kläger durchgängig volle Erwerbsminderung vorgelegen habe. Daran halte er auch in Kenntnis der neu vorgelegten medizinischen Unterlagen sowie nach nochmaliger Durchsicht der damals erhobenen Befunde unverändert fest. Aus medizinischer Sicht sei es unerheblich, ob damals die geschilderte Tätigkeit ausgeübt worden sei oder nicht. Die damalige Befundlage sei sozialmedizinisch so zu bewerten, dass von einem durchgehend aufgehobenen Leistungsvermögen habe ausgegangen werden müssen. Er habe ausdrücklich einschränkend darauf hingewiesen, dass aus dem Zeitraum 2005 bis 2008 nur spärliche Befunde vorgelegen hätten und sich aus den Berichten vor 2005 bzw. nach 2008 eine von den behandelnden Ärzten jeweils als weitgehend konstant beschriebene Befundsituation ableiten lasse. Dabei habe er nach Auswertung des Längsschnittverlaufs der medizinischen Befunde nicht ausreichend nachvollziehen können, dass unter dem Aspekt weitgehend konstanter Befunde zunächst Leistungsunfähigkeit vorgelegen habe, sodann vorübergehende Leistungsfähigkeit vorhanden gewesen und dann erneut wieder Leistungsunfähigkeit eingetreten sein solle. Auch in Kenntnis der neu vorgelegten medizinischen Unterlagen könne aus hiesiger Sicht retrospektiv nicht bewertet werden, ob die spärliche Befundlage im Zeitraum 2005 bis 2008 - bei umfangreicherer medizinischer Befundlage aus dem Zeitraum 2002 bis 2004 bzw. ab 2009 - dadurch bedingt sei, dass im Zeitraum 2005 bis 2008 tatsächlich weniger Beschwerden bestanden hätten und die Frequenz ärztlicher Konsultationen rückläufig gewesen wäre. Letzteres könne auch auf einem Verharrungszustand beruhen, worauf er bereits in seinem Gutachten hingewiesen habe. Seinerzeit hätten Funktionsbehinderungen an beiden unteren Extremitäten sowie an der linken oberen Extremität nebst Funktionsbehinderungen im Bereich der Wirbelsäule vorgelegen. Gerade unter Berücksichtigung eines eindeutig mehrdimensionalen Befalls arthrotischer Veränderungen der großen Gelenke an den oberen und unteren Gliedmaßen habe er unter expliziter Bezugnahme auf entsprechende Einschätzungsempfehlungen der Literatur ausgeführt, dass hieraus bereits faktisch Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit abzuleiten wäre, selbst ohne die Mitberücksichtigung der funktionellen Beeinträchtigungen am Achsorgan. Ebenso habe er darauf verwiesen, dass auch außerhalb des orthopädischen Fachgebiets Gesundheitsstörungen vorlägen, die weitere Beeinträchtigungen des beruflichen Leistungsvermögens mit sich brächten. Die medizinische Aktenlage sei seinerzeit hinsichtlich der orthopädischen Befunde so zu bewerten gewesen, dass die Annahme eines über dreistündigen Leistungsvermögens in der Zeit von Februar 2005 bis November 2008 nicht plausibel erscheine. In Annahme eines weitgehend konstanten Befundverlaufs sei er daher von durchgängig aufgehobenem Leistungsvermögen seit dem Unfall im Mai 2002 ausgegangen. Daran halte er weiterhin fest, auch wenn die hypothetische Möglichkeit einer graduellen temporären Besserung letztendlich nicht sicher auszuschließen gewesen sei. Jedenfalls sei die Annahme eines Leistungsvermögens von (über) 3 bis unter 6 Stunden täglich während der maßgeblichen Zeit nach seiner medizinisch-gutachtlichen Sicht nicht zu unterstützen. Nachdem sich hinsichtlich der orthopädischen Befunde anhand der neu vorgelegten medizinischen Unterlagen keine substantielle Änderung erkennen lasse, habe er keinen Anlass, Änderungen an der seinerzeitigen Leistungsbeurteilung vorzunehmen. Das gelte auch unter Berücksichtigung der geltend gemachten anhaltenden Beschwerden nach der Arthrodese. Diese Thematik habe er bereits in seinem Gutachten angesprochen, wobei er auch durch die Arthrodese keine durchgreifende Besserung der Befundsituation erwartet habe; dies habe sich nach aktueller Aktenlage durchaus bestätigt. Insgesamt halte er an seiner damaligen gutachtlichen Bewertung zu einem durchgängig aufgehobenen Leistungsvermögen seit Mai 2002 fest. Aus seiner Sicht würde auch die tatsächliche Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit an 3,5 Stunden pro Tag die Annahme voller Erwerbsminderung nicht kategorisch ausschließen. Die Ausübung einer leichten Tätigkeit im genannten Umfang bzw. in der genannten qualitativen Dimension sei nach seiner Einschätzung so zu bewerten, dass sie auf Kosten der Restgesundheit erfolgt sei. Dafür sprächen auch die im Berufungsverfahren erhobenen Arztberichte, wonach es im zeitlichen Verlauf zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers gekommen sei. Die während der streitigen Zeit ausgeübte Tätigkeit stelle naheliegend den Auslöser einer Verschlechterung in Gesundheitszustand des Klägers dar.

Am 12.11.2014 hat eine erste mündliche Verhandlung des Senats stattgefunden. Die Beklagte hat bezweifelt, dass die Tätigkeit des Klägers eine Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts gewesen ist, insbesondere unter Berücksichtigung der Entlohnung von monatlich 300,00 EUR, was bei 18 Arbeitsstunden einen Stundenlohn von nur 3,85 EUR ergebe. Die mündliche Verhandlung ist zur weiteren Sachaufklärung vertagt worden.

Nachdem der Kläger seine Tätigkeit im Wettbüro (im Schriftsatz vom 26.11.2014) näher beschrieben und die Beklagte Auszüge aus "B." zur Tätigkeit der Spielhallenaufsicht bzw. des Wett- und Lotterieannehmers vorgelegt hatte, hat der Senat das Gutachten des Prof. Dr. K. (Chefarzt der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie am R., St.) vom 09.06.2015 (mit radiologischem Zusatzgutachten vom 23.06.2015) erhoben.

Prof. Dr. K. hat folgende Diagnosen festgehalten:

Auf unfallchirurgisch/orthopädischem Fachgebiet: - Bewegungseinschränkung im linken Ellenbogen, vor allem für die Streckung mit einer Kraftminderung Ellenbogen für die Streckung, - Verheilter Unterschenkelbruch links mit Verbiegung des Unterschenkels in O-Bein-Stellung von ca. 30° sowie einer 1,5 cm messenden Beinverkürzung sowie einer posttraumatischen Arthrose im linken Sprunggelenk mit einer Einschränkung der Beweglichkeit, - Knöchern verheilter Bruch des Sprunggelenks rechts mit einer Einsteifung im Verlauf sowie einer Polyneuropathie mit Missempfinden und Sensibilitätsstörung am rechten Fuß, - Komplexes Schmerzsyndrom als Folge des Unfalls mit Mehrfachverletzung.

Auf nicht unfallchirurgisch/orthopädischem Fachgebiet: - Depression, - Herzinfarkt im Jahr 2010 mit Implantation von fünf cardialen Stents im Verlauf sowie einer Angina pectoris, - Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, - Schlafapnoesyndrom, - Diabetes mellitus.

Aufgrund des komplexen und vielschichtigen Krankheitsbildes sowohl auf orthopädisch/traumatologischer als auch internistischer und psychiatrischer Sicht sei der Kläger aktuell nicht in der Lage, ohne unmittelbare Gefährdung seiner Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig auszuüben. Aufgrund der ausgeprägten Depression, einhergehend mit deutlichen Konzentrationsschwächen sowie der deutlich eingeschränkten Leistungsfähigkeit aufgrund der pulmonalen Erkrankung sowie der orthopädischen Beschwerden sei derzeit eine maximale tägliche Arbeitszeit von 2 Stunden möglich. Selbst bei dieser kurzen Beschäftigungsdauer seien mehrere Pausen zur Erholung erforderlich. Die Wegefähigkeit sei deutlich eingeschränkt. Bei einer aktuell maximalen Gehstrecke von 200 Meter mit einer dann erforderlichen Pause sei es dem Kläger nicht möglich, 500 Meter in nicht mehr als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Ihm sei auch nicht zuzumuten, zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel während der Hauptverkehrszeit zu benutzen. Der Weg zu einem Arbeitsplatz sei allenfalls mit einem Pkw mit direkter Parkmöglichkeit vor dem Arbeitsplatz möglich. Der Kläger besitze einen Führerschein und einen PKW mit Automatikgetriebe.

Der Kläger habe am 15.05.2002 einen schweren Verkehrsunfall mit multiplen Verletzungen erlitten. Infolgedessen sei er zunächst arbeitsunfähig gewesen und habe auch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts nicht verrichten können. Im Laufe der Rehabilitation mit Physiotherapie sowie Gerätetraining sei es zu einer Verbesserung des Beschwerdebildes gekommen. Die bekannte Depression habe sich stabilisiert. Im Jahr 2003 habe der Kläger eine ehrenamtliche gelegentliche Tätigkeit als Buchhalter in einem t. Verein in R. aufgenommen, vor allem, um aus der Wohnung heraus und wieder unter Menschen zu kommen. Er habe sich nach eigenen Angaben damals fit gefühlt. Sei der Kläger im Jahr 2004 noch auf Unterarmgehstützen für die Mobilisation angewiesen gewesen, hätten diese zunehmend abtrainiert werden können und der Kläger habe kurze Gehstrecken auch ohne Hilfsmittel zurücklegen können. Dadurch sei es zu einer Verbesserung des Leistungsvermögens in der Folgezeit nach dem Unfall gekommen, so dass zwischenzeitlich im Jahr 2005 eine leichte Tätigkeit mit überwiegendem Sitzen über 3 Stunden täglich möglich gewesen sei. Der Kläger sei damals auch geistig in der Lage gewesen, sich über 3 Stunden zu konzentrieren. Am 01.01.2005 habe der Kläger schließlich die Tätigkeit als Aufsicht im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter aufgenommen. Aus den Schilderungen des Klägers sowie dem Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 26.11.2004 (gemeint: 2014) ergebe sich, dass der Kläger damals eine hauptsächlich sitzende Tätigkeit ausgeübt habe. Er habe jedoch auch zwischenzeitlich aufstehen und wenige Schritte umhergehen können. Zur Arbeit sei der Kläger mit seinem PKW mit Automatikgetriebe gelangt. Er habe bei allen Arbeitsstellen in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz parken können und habe nur kurze Gehstrecken zu Fuß zurücklegen müssen. Nach dem Kenntnisstand, der sich aus der Anamnese des Klägers sowie den vorliegenden Befunden ergebe, sei die Tätigkeit im Wettbüro nicht auf Kosten der Restgesundheit erfolgt. Ende 2008 sei es zu einer Verschlechterung der bekannten Depressionen gekommen, hauptsächlich weil Probleme im familiären Umfeld aufgetreten seien. Als Konsequenz der sich verschlechternden Depression sei es zu zunehmenden Konzentrationsschwächen gekommen. Der Kläger habe deswegen die Arbeit reduziert und Ende 2009 schließlich ganz aufgegeben. Im weiteren Verlauf sei es hauptsächlich zu Komplikationen auf internistischem sowie neurologischem Gebiet mit einem Herzinfarkt im Jahr 2010 gekommen und es seien insgesamt fünf cardiale Stents implantiert worden. Sodann sei eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung diagnostiziert worden. Diese schränke die Leistungsfähigkeit weiter ein. Aufgrund der Lungenerkrankung sei eine Wegstrecke über 200 Meter derzeit nicht möglich. Dann erleide der Kläger eine Dyspnoe mit Kurzatmigkeit sowie Herzrasen; hinzukomme die Angst vor einem erneuten Kollaps. Auf orthopädisch/unfallchirurgischem Fachgebiet bestünden nach wie vor die Beschwerden wegen des Unfalls von 2002. Die aktuelle Begrenzung des Leistungsvermögens begründe sich aber vor allem aus den Erkrankungen auf internistischem und psychiatrischem Fachgebiet. Mit einer Verbesserung des Gesundheitszustandes sei nicht zu rechnen. Unter Berücksichtigung der Schilderungen des Klägers sowie der vorliegenden Berichte und der Stellenbeschreibung des Tätigkeitsprofils als Aufsicht in einem Wettbüro sei der Kläger durchaus in den Jahren 2005 bis 2008 in der Lage gewesen, diese leichte Tätigkeit im Wechsel von Sitzen und Stehen ohne Gefährdung der Gesundheit auszuüben. Die im Jahr 2008 aufgetretene Leistungseinschränkung mit Aufgabe der beruflichen Tätigkeit im Jahr 2009 beruhe hauptsächlich auf einer Verschlechterung der Depression. Dies sei nicht auf die körperliche Tätigkeit im Wettbüro, sondern auf familiäre Probleme zurückzuführen. Die weitere Reduktion der Leistungsfähigkeit im Verlauf sei auch im Zusammenhang mit den internistischen Erkrankungen, wie dem Herzinfarkt im Jahr 2010, dem bekannten Diabetes mellitus mit einer nur schwer einstellbaren Insulintherapie, der chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung mit einer doch deutlichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit sowie der bekannten chronischen Depression zu sehen. Auch wenn Dr. B. in seinem orthopädischen Gutachten vom 05.02.2012 zutreffend beschreibe, dass für die Jahre 2005 bis 2009 nur wenige Gutachten und schriftliche Befunde über das Allgemeinbefinden des Klägers vorlägen, habe retrospektiv für diesen Zeitraum die Leistungsfähigkeit für eine leichte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts mit einer täglichen Beschäftigungszeit von 3 Stunden bestanden. Dies decke sich auch mit dem Urteil des SG. Im weiteren Verlauf sei in den Jahren nach 2009 die Leistungsfähigkeit aufgrund der Konzentrationsstörungen und -schwäche bei einer Verschlechterung der Depression abgesunken. Aufgrund der im weiteren Verlauf hinzugekommenen Erkrankungen bestehe derzeit keine Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Auch wenn in den vorliegenden Gutachten eine leichte Tätigkeit durchaus befürwortet werde, müsse in der Zusammenschau der Befunde von einer deutlichen Leistungseinschränkung mit einer Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden.

Die Beklagte hat hierzu die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. B. vom 04.08.2015 vorgelegt. Darin heißt es, den Ausführungen des Prof. Dr. K., wonach das Leistungsvermögen des Klägers derzeit auf 2 Stunden täglich abgesunken sei, lasse sich nicht entnehmen, welche konkreten Gesundheitsstörungen, zumal welchen Fachgebiets, hierfür ausschlaggebend seien. Der Gutachter habe Gesundheitsstörungen unzulässig verallgemeinert und vermischt und sich über weite Strecken fachfremd geäußert. So bleibe völlig unklar, woraus der Gutachter das Vorliegen einer ausgeprägten Depression ableite; psychische Untersuchungsbefunde fänden sich in dem Gutachten an keiner Stelle. Auch sei dem Gutachten nicht zu entnehmen, bei welchen Ärzten insoweit überhaupt eine Behandlung stattfinde. Auch die Einschätzung zur fehlenden Wegefähigkeit des Klägers (Nutzbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel) bleibe gänzlich unbegründet. Woraus der Gutachter ableite, dass es beim Kläger nach dem schweren Verkehrsunfall vom 15.05.2002 im Laufe der Rehabilitation mit Physiotherapie und Gerätetraining zu einer Besserung des Beschwerdebildes gekommen sei, bleibe ebenfalls gänzlich unklar. In der gesamten (umfangreichen) Akte gebe es keine Berichte über eine Rehabilitation mit Physiotherapie und Gerätetraining und auch keine Berichte über eine vermeintliche, vom Gutachter beschriebene Verbesserung des Beschwerdebildes. Wie bereits Dr. B. im Gutachten vom 05.02.2012 festgestellt habe, sei die Befundlage für den maßgeblichen Zeitraum mehr als spärlich. Die Äußerung des Gutachters, die bekannte Depression des Klägers habe sich stabilisiert, stelle lediglich eine Behauptung ohne Begründung dar. Unklar bleibe auch, welche (kurze) Gehstrecken der Kläger nach dem Jahr 2004 ohne Unterarmgehstützen habe bewältigen können. Der Aussage des Gutachters könne auch insoweit nicht gefolgt werden, wonach es dadurch (Abtrainieren der Unterarmgehstützen) zu einer Verbesserung gekommen sei. Ein Beleg für diese Einschätzung finde sich im Gutachten nicht. Das gelte auch für die Annahme des Gutachters, Ende 2008 sei es zu einer Verschlechterung der bekannten Depressionen gekommen. Woraus dies abgeleitet werde, bleibe unklar. Auch die Ableitung zunehmender Konzentrationsschwächen aus der postulierten verschlechterten Depression werde durch nichts belegt und bleibe rein spekulativ. Die vom Gutachter angeführten Komplikationen auf internistischem und neurologischem Fachgebiet würden nicht konkret und nachvollziehbar benannt und es werde auch nicht dargelegt, welche funktionellen Beeinträchtigung sich daraus ergeben könnten. Auch die Behauptung weiterer Leistungseinschränkungen durch eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung werde weder belegt noch auch nur wahrscheinlich gemacht. Das gelte insbesondere für die Behauptung, wonach wegen der Lungenerkrankung eine Wegstrecke von 200 Meter derzeit nicht möglich sei. Diese Aussage entbehre jeder rationalen Grundlage und beruhe allenfalls einzig und allein auf den subjektiven Angaben des Klägers, die durch entsprechende objektive Untersuchungsbefunde nicht belegt seien. Mit der Aussage, die aktuelle Beschränkung des Leistungsvermögens beruhe vor allem auf Erkrankungen des internistischen und psychiatrischen Fachgebiets überschreite der Gutachter die Grenzen seines Fachgebiets bei weitem. Insgesamt werde im Gutachten über weite Strecken nicht mit Gesundheitsstörungen des eigenen Fachgebiets (des Gutachters) sondern mit Gesundheitsstörungen anderer Fachgebiete argumentiert, was nicht zulässig sei. Die notwendige intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorgutachten fehle. Zum im Schwerbehindertenverfahren erstatteten Gutachten des Dr. R. vom 01.09.2011 bzw. zum entsprechenden Bericht vom 06.09.2011 äußere sich der Gutachter lediglich ganz pauschal mit der Annahme, die Gehstrecke habe im Laufe der Zeit ausgeweitet werden können, ohne diese Aussage eindeutig und zweifelsfrei zu belegen. Eine im Jahr 2008 aufgetretene Leistungseinschränkung begründe der Gutachter hauptsächlich mit einer Verschlechterung der Depression, was eindeutig fachfremd sei. Entsprechendes gelte für die Bezugnahme auf internistische Erkrankungen, wie der Lungenerkrankung des Klägers. Obwohl der Gutachter die Einschätzung des Dr. B. (in dessen Gutachten vom 05.02.2012) zur Spärlichkeit der Befundlage in der Zeit von 2005 bis 2008 bestätige, meine er dennoch, sich definitiv zum Leistungsvermögen des Klägers für diesen Zeitraum äußern zu können. Hierfür gebe es keine rationale Grundlage. Auf den Bericht des Internisten Dr. N. vom 20.03.2009, wonach seit dem Unfall 2002 bis zum heutigen Tag Arbeitsunfähigkeit bestanden habe, gehe der Gutachter gar nicht ein. Diese wichtige Aussage des hausärztlichen Internisten sei nicht einmal zur Kenntnis genommen worden. Das gelte auch für die Ausführungen im Bericht des Dr. N. vom 03.03.2011, wonach sich im Verlauf des letzten Jahres an der erheblichen Beeinträchtigung des Klägers infolge des Verkehrsunfalls von 2002 nichts geändert habe. Dr. N. habe außerdem die Auffassung vertreten, dass durchgehend seit 2002 nur noch leichte Tätigkeiten unter 3 Stunden täglich möglich gewesen seien. Eine nennenswerte Verbesserung des Gesundheitszustandes des Klägers im Zeitraum von 2005 bis 2008 habe Dr. N. während der hausärztlichen Betreuung nicht feststellen können. Zur ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme des Dr. B. vom 05.05.2014 fänden sich im Gutachten ebenfalls keine Ausführungen; diese Stellungnahme sei ebenfalls nicht zur Kenntnis genommen worden. Es bleibe daher bei der bisherigen Einschätzung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Die Beklagte es zu Recht abgelehnt hat, ihm Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren; er hat darauf keinen Anspruch.

Rechtsgrundlage für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente ist § 43 SGB VI. Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Volle Erwerbsminderung liegt vor, wenn das Leistungsvermögen des Versicherten auf unter 3 Stunden täglich abgesunken ist (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die Beteiligten streiten nicht darüber, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente (3 Jahre Pflichtbeiträge in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung) bei - insoweit ebenfalls unstreitigem - Eintritt von Erwerbsminderung zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalls des Klägers in der T. am 15.05.2002 nicht erfüllt gewesen sind. Im Fünfjahreszeitraum vom 15.05.1997 bis 14.05.2002 sind Pflichtbeitragszeiten nicht vorhanden. Auch die Voraussetzungen der Anwartschaftserhaltung nach Maßgabe des § 241 Abs. 2 SGB VI sind unstreitig nicht erfüllt. Bis zum Kalendermonat vor Eintritt von Erwerbsminderung am 15.05.2002 sind nicht alle Kalendermonate seit 01.01.1984 mit Anwartschaftserhaltungszeiten (§ 241 Abs. 2 Nr. 1 bis 6 SGB VI) belegt. Der Kläger war zwischen 1995 und 2003 nämlich mehrere Jahre als Gastwirt selbstständig erwerbstätig und hat während dieser Zeit rentenrechtliche Zeiten, insbesondere Pflichtbeitragszeiten für eine versicherungspflichtige Beschäftigung, nicht zurückgelegt.

Der Kläger hat aber (insbesondere) durch die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter unter Verzicht auf die Beitragsfreiheit und durch den Bezug von Sozialleistungen eine (neue) Rentenanwartschaft insoweit erworben, als die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente bei Eintritt eines Leistungsfalls in der Zeit zwischen 02.12.2007 und 31.01.2012 (wieder) erfüllt sind. Die Rentengewährung setzt freilich voraus, dass in der genannten Zeit auch ein neuer Leistungsfall eingetreten ist, für den die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung neu geprüft werden müssen. Fehlt es an einem neuen Leistungsfall, bleibt es bei der Nichterfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung hinsichtlich des ursprünglichen Leistungsfalls (vom 15.05.2002). Erwerbsminderungsrente steht dem Kläger dann weiterhin nicht zu. Ein neuer Leistungsfall kommt hier nur in Betracht, wenn sich das Leistungsvermögen des Klägers seit Eintritt des ursprünglichen Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung (15.05.2002) in rentenrechtlich beachtlicher Weise geändert hätte. Das wäre der Fall, wenn das am 15.05.2002 auf unter 3 Stunden täglich abgesunkene Leistungsvermögen entweder auf mindestens 6 Stunden täglich (dann Wegfall der Erwerbsminderung, § 43 Abs. 3 SGB VI) oder auf mindestens 3 Stunden (bis unter 6 Stunden) täglich bei Innehabung eines Teilzeitarbeitsplatzes (dann nur noch teilweise Erwerbsminderung, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) angestiegen wäre (vgl. auch etwa LSG Baden-Württemberg, Beschl. v. 13.08.2014, L 9 R 1721/14 (m. w. N.) zur Unbeachtlichkeit des Absinkens des zeitlichen Leistungsvermögens von 3 bis unter 6 Stunden täglich ohne Teilzeitarbeitsplatz und Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts auf unter 3 Stunden täglich im Hinblick auf den einheitlichen Versicherungsfall "volle Erwerbsminderung").

Davon ausgehend kommt die Gewährung von Erwerbsminderungsrente auf Grund eines neuen - bis 31.01.2012 eingetretenen - Leistungsfalls nur in Betracht, wenn das (zeitliche) Leistungsvermögen des Klägers seit dem Eintritt voller Erwerbsminderung zum ursprünglichen Leistungsfall am 15.05.2002 während der Beschäftigung im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter (01.02.2005 bis 30.11.2008) vorübergehend wieder - zumindest - auf 3 Stunden täglich angestiegen ist. Der Kläger trägt hierzu vor, er habe in dem Wettbüro täglich 3,5 Stunden als Aufsicht gearbeitet. Dass er während dieser Zeit, anders als zuvor seit 15.05.2002 (vorübergehend) nicht mehr voll, sondern nur noch teilweise erwerbsgemindert (i. S. d § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) gewesen wäre, ist indessen nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen. Dem stehen insbesondere die Erkenntnisse des Dr. B. im Gutachten vom 05.02.2012 und der ergänzenden Stellungnahme vom 05.05.2014 entgegen. Das im Berufungsverfahren erhobene Gutachten des Prof. Dr. K. vom 09.06.2015 (mit radiologischem Zusatzgutachten vom 23.06.2015) überzeugt den Senat nicht.

Der Kläger hat am 15.05.2002 (unstreitig) einen schweren Verkehrsunfall mit vielfachen Verletzungen, insbesondere multiplen Brüchen, erlitten, die zu dauerhaften schwerwiegenden Funktionseinschränkungen geführt haben. Diese betreffen im Schwerpunkt beide Beine und den linken Arm sowie die linke Hand. Die Internistin Dr. M. hat in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 26.08.2009 auf Grund der von ihr diagnostizierten Gebrauchseinschränkung beider Beine, Füße, des linken Arms, der linken Hand, Teillähmung der linken Ellen- und linken Mittelhandnerven und Folgebeschwerden nach Mittelgesichtsbrüchen sowie einer Hüftkopfnekrose rechts (zunächst) ein auf 3 bis unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen angenommen und eine Besserung für unwahrscheinlich erachtet. Dr. H. hat unter dem 12.10.2009 außerdem eine anhaltende Depression und psychogene Schlaflosigkeit als Folge der körperlichen Einschränkungen festgestellt und den Kläger seit dem Verkehrsunfall am 15.05.2002 für außerstande befunden, mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein; auch Dr. H. hat eine Besserung als unwahrscheinlich angesehen. Nachdem der Kläger die Besserung des zeitlichen Leistungsvermögens auf 3,5 Stunden täglich während der Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2008 geltend gemacht hatte, hat Dr. M. in der sozialmedizinischen Stellungnahme vom 09.02.2010 (Diagnosen: Funktionsminderung beider Beine, Füße, des linken Arms und der linken Hand nach schwerer Vielfachverletzung Mai 2002 mit zahlreichen operierten Knochenbrüchen mit erheblich kompliziertem Verlauf, insulinpflichtiger Diabetes mellitus mit diabetischer Schädigung der Beinnerven, anhaltende reaktive Depression und Hüftkopfnekrose rechts) unter Beibehaltung der bisherigen Leistungseinschätzung erneut volle Erwerbsminderung seit dem Verkehrsunfall am 15.05.2002 festgestellt und betont, dass die schwere Vielfachverletzung des Klägers mit den seit dem Unfall bestehenden erheblichen Funktionsminderungen beider Beine und des linken Arms bestens und vielfach dokumentiert ist. Eine Besserung ist wiederum für unwahrscheinlich erachtet worden.

Diese Leistungseinschätzung ist in der Folgezeit - während des sozialgerichtlichen Verfahrens und auch während des Berufungsverfahrens - nicht erschüttert worden. Vielmehr hat sich ein vorübergehend auf 3,5 Stunden täglich angestiegenes Leistungsvermögen des Klägers während der Beschäftigung als Aufsicht im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter nicht nachweisen lassen. In der Sache hat sich die Annahme durchgehender voller Erwerbsminderung seit dem Unfall am 15.05.2002 zur Überzeugung des Senats bestätigt.

Der Internist und Sozialmediziner Dr. B. hat in der Stellungnahme vom 18.01.2011 - unter Hinweis auf die Diagnostik des Dr. N. im Schwerbehindertenverfahren (Bericht vom 13.07.2004) - schlüssig dargelegt, dass es durch den Unfall am 15.05.2002 zu zahlreichen Knochenbrüchen gekommen ist. Der linke Oberarm war kompliziert gebrochen mit Nervenverletzung und Funktionsverlust von Teilen der Oberarmmuskeln. Hinzu kamen als besonders gravierend beidseitige Unterschenkelbrüche mit mehrfachen und langwierigen Komplikationen. Hierauf gestützt hat auch Dr. B. überzeugend durchgehend volle Erwerbsminderung angenommen und bekräftigend darauf verwiesen, dass Dr. N. (im Schwerbehindertenverfahren) seit dem Unfall 2002 (ebenfalls) durchgängig Arbeitsunfähigkeit festgestellt und eine höchstens zweistündige Erwerbstätigkeit für möglich erachtet hat.

Der Internist Dr. N. hat (im Zuge der Ärztebefragung durch das SG) im Bericht vom 30.03.2011 (unter Bezugnahme auf seinen Bericht vom 19.02.2010 im Schwerbehindertenverfahren S 4 SB 4144/09) Veränderungen des medizinischen Status nicht mitteilen können. Auch aus seiner Sicht hat sich an den erheblichen Beeinträchtigungen des Klägers wegen der Folgen des Unfalls vom 15.05.2002 nichts geändert. Dr. N. hat die Einschätzung, der Kläger könne wegen der erheblichen körperlichen Einschränkungen auf orthopädischem/unfallchirurgischem Fachgebiet durchgehend seit 2002 nur noch leichte Tätigkeiten unter 3 Stunden täglich verrichten, bestätigt.

Der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. R. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T., der den Kläger nach der Erstversorgung in der T. wegen der Folgen des Unfalls am 15.05.2002 während der Zeit vom 30.05.2002 bis 05.05.2011 behandelt hat, hat im Bericht vom 06.09.2011 Bedenken gegen die Beurteilung, der Kläger habe seit 15.05.2002 durchgehend leichte Tätigkeiten (nur) unter 3 Stunden täglich verrichten können, nicht geäußert.

Der Orthopäde Dr. B. schließlich hat im Gutachten vom 05.02.2012 eine umfassende Diagnostik und Befunderhebung vorgenommen und u.a. den Z.n. nach Polytrauma vom 15.05.2002 mit Mittelgesichtsfrakturen (Nasenbein, Jochbein links, Orbitaboden links), distaler Humerustrümmerfraktur links mit Gelenkbeteiligung, inkompletter Läsion des Nervus ulnaris und Nervus medianus links, Schenkelhalsfraktur beidseits, Unterschenkelfraktur beidseits, Talusfraktur rechts, Calcaneusfraktur rechts, bimalleoläre Sprunggelenksfraktur links und Metatarsaliafrakturen II und III links) festgehalten sowie außerdem eine deutliche Funktionsbehinderung des linken Ellenbogengelenks bei Z. n. osteosynthetisch versorgter distaler Humerustrümmerfraktur mit Gelenkbeteiligung, eine Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke bei Z. n. konservativ behandelter Schenkelhalsfraktur beidseits, eine Funktionsbehinderung des oberen und unteren Sprunggelenks links bei posttraumatischer Sprunggelenksarthrose links bei Z. n. osteosynthetischer Versorgung einer Unterschenkelfraktur links und bimalleolärer Sprunggelenksfraktur links sowie Z. n. Valgisationsosteotomie am linken Unterschenkel festgestellt. Der Gutachter hat die genannten Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet dem schweren Verkehrsunfall am 15.05.2002 zugeordnet und die (vor allem hierzu) vorliegenden Arztberichte über die Behandlung des Klägers ausgewertet. Den Berichten für die Zeit vor 2005 und nach 2008 hat Dr. B. eine weitgehend konstant beschriebene Befundsituation entnommen und es deswegen schlüssig für kaum nachvollziehbar erachtet, dass unter dem Aspekt eines als weitgehend konstant beschriebenen Befundverlaufs anfangs Leistungsunfähigkeit, zwischenzeitlich Leistungsfähigkeit und sodann wieder Leistungsunfähigkeit vorgelegen haben solle. Der Gutachter hat daher bei Berücksichtigung des gesamten Aktenverlaufs ausreichende medizinische Befunde, die im Zeitraum Februar 2005 bis November 2008 ein (zumindest) dreistündiges Leistungsvermögen plausibel erscheinen lassen könnten, nicht gefunden. Er hat - gestützt auf die Mehrzahl der Arztberichte - für den Senat überzeugend angenommen, dass bei weitgehend konstantem Befundverlauf seit dem Unfall am 15.05.2002 volle Erwerbsminderung eingetreten ist und seitdem durchgängig bestanden hat. Der Senat schließt sich der Einschätzung des Dr. B. an. Dass dieser eine bloß theoretische oder hypothetische Möglichkeit der graduellen temporären Besserung nicht ausgeschlossen hat, ist unerheblich. Für die (positive) Feststellung einer derartigen Besserung, die auch nicht nur graduell hätte ausfallen dürfen, sondern zumindest zum Vorliegen nur noch teilweiser Erwerbsminderung im Rechtssinne (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) hätte führen müssen, genügt das nicht.

Dr. B. hat in seiner im Berufungsverfahren abgegebenen ergänzenden Stellungnahme vom 05.05.2014 - unter Berücksichtigung der Akten der Schwerbehindertenverfahren des SG S 4 SB 4144/09 und S 4 B 3743/03 - an seiner Auffassung dezidiert festgehalten. Er hat dargelegt, dass sich aus den genannten Schwerbehindertenakten neue, entscheidungserhebliche Gesichtspunkte nicht ergeben und er hat nach wie vor durchgängig volle Erwerbsminderung des Klägers seit dem Unfall am 15.05.2002 angenommen. Dr. B. hat seine Ansicht - erneut - überzeugend auf die Auswertung der im Längsschnittverlauf weitgehend konstanten medizinischen Befunde gestützt und es wegen der konstanten Befundlage schlüssig für nicht nachvollziehbar erachtet, zunächst Leistungsunfähigkeit, sodann vorübergehende Leistungsfähigkeit und dann erneut wieder Leistungsunfähigkeit annehmen zu wollen. Daran ändert es nichts, dass die Befundlage in der Zeit von 2005 bis 2008 spärlicher ausfällt als in der Zeit davor und danach. Das kann, wie Dr. B. ebenfalls schlüssig dargelegt hat, auf einem Rückgang der Behandlungsfrequenz oder auf einem Verharrungszustand beruhen. Mit dem bloßen ("negativen") Rückgang der Arztkontakte und dem Rückgang oder Fehlen von Befunden ist eine Besserung der sozialmedizinisch (rentenrechtlich) beachtlichen (zeitlichen) Leistungsfähigkeit nicht dargetan; hierfür wäre ("positiv") das Vorliegen von Befunden notwendig, die eine Besserung dokumentieren würden. Befunde dieser Art liegen indessen nicht vor.

Die den Senat überzeugende Auffassung des Dr. B. - die sich zusätzlich auf die zuvor genannten Arztberichte und Stellungnahmen der Dres. B., N. und R. stützen kann - wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass der Kläger während der Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2008 - nach seinem Vorbringen - als Aufsicht im Wettbüro seines Schwagers bzw. seiner Tochter 3,5 Stunden täglich beschäftigt gewesen ist. Sollte es sich dabei um eine den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entsprechende Tätigkeit gehandelt haben, wäre sie von Vornherein nicht von Belang. Im Übrigen hat Dr. B. in der ergänzenden Stellungnahme vom 05.05.2014 unter Hinweis auf die in den während des Berufungsverfahrens vorgelegten Arztberichten dokumentierte weitere Verschlechterung des Gesundheitszustands des Klägers für den Senat schlüssig dargelegt, dass der Kläger die Tätigkeit - sollte sie unter arbeitsmarktüblichen Bedingungen verrichtet worden sein - auf Kosten der Restgesundheit ausgeführt hätte. Die Beschäftigung als Aufsicht in dem Wettbüro kann damit der gutachterlichen Leistungsbeurteilung nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden. Ein Indiz dafür stellt auch die Tatsache dar, dass der Kläger während des Beschäftigungsverhältnisses am 28.07.2008 einen Rentenantrag stellte. In der Anlage zum Rentenantrag gab er an, er halte sich "jetzt oder früher (?) wegen Unfall im Jahr 2002 mit Folgen" für erwerbsgemindert und er könne nur leichteste Arbeit im Sitzen "1 - 2 Stunden tägl." verrichten. Zweifel an der Leistungsbeurteilung des Dr. B. folgen schließlich auch nicht aus einzelnen Berichten behandelnder Ärzte. Der Dipl.-Psych. K. hat im Bericht vom 14.04.2011 am Bestehen voller Erwerbsminderung durchgehend seit dem Unfall am 15.05.2002 nur Bedenken geäußert; außerdem beruht die Aufhebung des Leistungsvermögens wesentlich auf orthopädischen Erkrankungen. Auch der Orthopäde Sch. hat im Bericht vom 31.08.2011 nur Zweifel angeführt. Beide Ärzte haben in der Sache lediglich Meinungsäußerungen abgegeben, aber keine auf entsprechende Befunde nachvollziehbar gestützte sozialmedizinische Leistungsbeurteilung; darauf hat Dr. B. im Gutachten vom 05.02.2012 - hinsichtlich des Berichts des Orthopäden Sch. - zu Recht hingewiesen. Im Übrigen sind von behandelnden Ärzten weiterführende Leistungsbeurteilungen für die Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2008 nicht abgegeben worden.

Der Auffassung des Prof. Dr. K. in dessen im Berufungsverfahren eingeholtem Gutachten vom 09.06.2015 kann sich der Senat nicht anschließen.

Der Gutachter hat zum derzeitigen Leistungsvermögen des Klägers und zur Entwicklung des Leistungsvermögens seit dem Unfall vom 15.05.2002 eine nachvollziehbar und schlüssig begründete sozialmedizinische Beurteilung nicht abgegeben, sondern weitgehend nur thesenartige Behauptungen aufgestellt, für die er sich im Kern allein auf das Vorbringen des Klägers gestützt hat. Er hat sich auch mit den abweichenden Auffassungen etwa des Dr. B. in dessen Gutachten vom 05.02.2012 und der ergänzenden Stellungnahme vom 05.05.2014 oder des Dr. N. in dessen Bericht vom 20.03.2009 nicht hinreichend auseinandergesetzt. Schließlich hat Prof. Dr. K. für seine Einschätzung außerdem weitgehend Folgen von Erkrankungen angeführt, die nicht seinem Fachgebiet zugehören; er hat sich daher fachfremd geäußert. Das Gutachten des Prof. Dr. K. ist daher insgesamt nicht überzeugend.

Prof. Dr. K. hat seine Leistungseinschätzung zum derzeitigen Leistungsvermögen des Klägers wesentlich auf eine von ihm postulierte ausgeprägte Depression und auf internistische Erkrankungen gestützt. Zur Beurteilung der sozialmedizinischen Auswirkungen von Erkrankungen des psychiatrischen und des internistischen Fachgebiets verfügt Prof. Dr. K. als Orthopäde und Unfallchirurg aber schon nicht über die erforderliche Sachkunde; er hat sich insoweit klar fachfremd geäußert. Außerdem ist die Annahme einer ausgeprägten Depression im Gutachten durch nichts begründet. Es finden sich dort weder ein psychopathologischer Befund noch Feststellungen (etwa) zum Tagesablauf des Klägers. Eine sozialmedizinisch (rentenrechtlich) beachtliche Erkrankung des depressiven Formenkreises kann auf diese Weise nicht festgestellt werden. Eine leitliniengerechte Behandlung der postulierten Depressionserkrankung findet auch offensichtlich nicht statt (dazu etwa: Senatsurteil vom 11.05.2011, - L 5 R 1823/10 -, nicht veröffentlicht). Prof. Dr. K. begründet die Annahme einer zwischenzeitlichen Besserung der Leistungsfähigkeit des Klägers während der Zeit von Februar 2005 bis November 2008 praktisch ausschließlich mit den gänzlich unkritisch übernommenen Angaben des Klägers, die er in seinem Gutachten referiert. Der Gutachter führt hierzu (u.a.) an, der Kläger habe sich nach eigenen Angaben "wieder fit gefühlt" und nach dem Kenntnisstand, der sich aus der Anamnese des Klägers sowie den vorliegenden - freilich nicht näher bezeichneten oder erörterten - Befunden ergebe, sei die Tätigkeit im Wettbüro nicht auf Kosten der Restgesundheit erfolgt. Der Kläger sei (u.a.) unter Berücksichtigung seiner Schilderungen in den Jahren 2005 bis 2008 in der Lage gewesen, die in Rede stehende Tätigkeit ohne Gefährdung der Gesundheit auszuüben. Bei all dem handelt es sich nicht um eine aus Befunden nachvollziehbar und schlüssig begründete sozialmedizinische Leistungsbeurteilung, sondern nur um thesenartige Behauptungen unter Übernahme des Klagevorbringens. Eine brauchbare gutachterliche Einschätzung stellt das nicht dar. Für die postulierte Verschlechterung des Leistungsvermögens ab 2008 stützt sich Prof. Dr. K. wiederum auf die Verschlechterung einer Depressionserkrankung und auf internistische Erkrankungen, was aus den bereits dargelegten Gründen nicht überzeugen kann. Für die Thesen des Gutachters fehlt es weithin an den notwendigen Befundtatsachen. Das gilt für das Postulat einer sozialmedizinisch beachtlichen Depressionserkrankung des Klägers und deren (wechselvolle) Entwicklung im Zeitverlauf ebenso wie etwa für die postulierte Besserung des Gehvermögens durch Physiotherapie oder Gerätetraining. Arztberichte oder -befunde oder sonstige Unterlagen, in denen sich hierzu dokumentierte Feststellungen finden ließen, gibt es ersichtlich weitgehend nicht und werden auch von Prof. Dr. K. nicht benannt. Insgesamt kritisiert Dr. B. daher auch nach Ansicht des Senats zu Recht, dass es für die Annahmen des Prof. Dr. K. zur wechselvollen Entwicklung des Leistungsvermögens des Klägers an einer rationalen und nachvollziehbaren (objektiven) Grundlage fehlt. Demgegenüber hat etwa der behandelnde Hausarzt Dr. N. in dem zum Zeitraum 2005 bis 2008 zeitnahen Bericht vom 20.03.2009 mitgeteilt, dass seit dem Unfall im Jahr 2002 durchgehend Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat. Daran hat er der Sache nach im Bericht vom 30.03.2011 festgehalten. Prof. Dr. K. ist darauf auch nicht ansatzweise eingegangen. Insgesamt kann sein Gutachten den Senat daher nicht überzeugen.

Der Kläger selbst hat sich schließlich in seinem am 05.08.2009 gestellten Rentenantrag für seit dem Unfall am 15.05.2002 erwerbsgemindert gehalten und die Behauptung einer vorübergehenden Besserung des Leistungsvermögens erst (im Widerspruchsverfahren) aufgestellt, nachdem der Rentenantrag mit Bescheid vom 21.10.2009 mangels Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung abgelehnt worden war. Gegen die - für die rentenrechtliche Leistungsfähigkeit ohnehin nicht aussagekräftige - Herabsetzung des GdB von 90 auf 70 (Bescheid vom 17.03.2008) hat der Kläger Rechtsmittel eingelegt und damit den Eintritt einer entsprechenden Besserung - jedenfalls für das Schwerbehindertenrecht, wenngleich nicht für das Rentenrecht - wiederum in Abrede gestellt. Davon abgesehen betrifft die Herabsetzung des GdB nicht die Zeit ab 01.02.2005.

Insgesamt ist danach nicht zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, dass der Kläger nach dem Eintritt voller Erwerbsminderung am 15.05.2002 während der Zeit vom 01.02.2005 bis 30.11.2008 nur teilweise erwerbsgemindert (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) gewesen wäre. Deswegen kann dahinstehen, wie sich der Gesundheitszustand und das rentenrechtlich beachtliche (zeitliche) Leistungsvermögen des Klägers nach dieser Zeit entwickelt haben. Hierauf kommt es nicht an. Vielmehr bleibt es beim Leistungsfall (volle Erwerbsminderung) vom 15.05.2002 und - darauf bezogen - dem Fehlen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente.

Weitere Ermittlungen, etwa weitere Begutachtungen, drängen sich dem Senat angesichts der vorliegenden Gutachten bzw. gutachterlichen Stellungnahmen und Arztberichte nicht auf. Eine Stellungnahme des Prof. Dr. K. zu der von der Beklagten vorgelegten beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. B. vom 04.08.2015 ist nicht einzuholen. Der Senat kann das Gutachten des Prof. Dr. K. im Zusammenhang und gemeinsam mit den übrigen Gutachten bzw. gutachterlichen Stellungnahmen und Arztberichten im Rahmen der Beweiswürdigung (§ 128 SGG) abschließend würdigen. Hierfür bedarf es einer (weiteren) gutachterlichen Äußerung bzw. Stellungnahme des Prof. Dr. K. zu den von der Beklagten - gestützt auf ihren beratungsärztlichen Dienst - erhobenen Einwendungen nicht. Der Umstand für sich allein, dass der Senat das Gutachten des Prof. Dr. K. im Rahmen der Beweiswürdigung nicht für schlüssig und überzeugend hält und er sich nicht der Auffassung dieses Gutachters, sondern der - ihn überzeugenden - Auffassung des Prof. Dr. B. anschließen will, zwingt ihn - entgegen der im Schriftsatz des Klägers vom 31.08.2015 anklingenden Auffassung - nicht dazu, Prof. Dr. K. vor der Urteilsfällung ergänzend zu befragen. Der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung des Senats vom 16.12.2015 gestellte Hilfsbeweisantrag ist daher abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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