S 7 AS 556/13

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 7 AS 556/13
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 132/16
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Auch ein ohne Nennung des Bescheiddatums wegen einer Erstattungsforderung vom Rechtsanwalt gestellter Überprüfungsantrag bedarf im Rahmen der Amtsermittlung der Auslegung, wenn er wegen der Umstände im Einzelfall konkretisierbar ist.

2. Akteneinsicht an einen Rechtsanwalt ist auch im Verwaltungsverfahren nach den Umständen des Einzelfalles durch Versenden der Akten Rechnung zu tragen, wenn die Übersendung in die Kanzleiräume beantragt ist - dies gilt jedenfalls im Widerspruchsverfahren, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen.
1. Der Bescheid des Beklagten vom 14.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2013 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Änderungsbescheid vom 09.09.2010 und den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 13.11.2010 auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen und den Klägern hierüber einen Bescheid zu erteilen.

2. Der Beklagte hat den Klägern ihre Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Überprüfung von Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen des Beklagten.

Die seit geraumer Zeit im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II stehenden Kläger meldeten sich schriftlich mit Schreiben vom 18.12.2012 der Klägerin zu 1. bei dem Beklagten. Hierin teilte die Klägerin zu 1. dem Beklagten mit, bezüglich eines letzten Telefongespräches habe sie noch kein schriftliches Ergebnis zu ihrem Überprüfungsantrag, den sie im März 2010 gestellt habe, erhalten. Bis jetzt sei nicht richtig geprüft, wie viel sie schon abbezahlt habe, obwohl sie jeden Monat 100 Euro abgezogen bekomme; sie werde die 100 Euro nicht mehr bezahlen, solange sie keine endgültige schriftlich Abrechnung bekomme. Nach einem Vermerk des Beklagten vom 18.02.2013 (Blatt 1108 Beklagtenakte) sprach die Klägerin zu 1. am selben Tage bei dem Beklagten persönlich vor. In dem Vermerk heißt es, gemeinsam sei nachgerechnet worden, wie hoch die Rückforderungsschuld aus den Jahren 2005 bis 2006 und 2010 noch sei. Entsprechende Ausdrucke aus den Computerprogrammen seien der Klägerin zu 1. ausgehändigt worden. Es werde festgestellt, dass eine Aufrechnung mit einem Darlehen der C zur Zeit nicht erfolge. Die Klägerin zu 1. wünsche, dass die Rückforderung mit 100 Euro monatlich und auch das Darlehen mit 100 Euro monatlich aufgerechnet würden. Mit Schreiben vom 26.03.2013 meldete sich der Prozessbevollmächtigte der Kläger bei dem Beklagten (Blatt 1129 Beklagtenakte). Hierin findet sich folgende Formulierung:
" ... Namens und im Auftrag meiner Mandanten lege ich gegen alle noch nicht bestandskräftigen Bescheide Widerspruch ein und beantrage gemäß § 44 SGB X eine Überprüfung bezüglich aller Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide. Darüber hinaus soll der von den Mandanten bereits eingelegte (und offenbar noch nicht entschiedene) Überprüfungsantrag bezüglich der Erstattungsforderungen durch den Unterzeichner weiter begründet werden ...". Der Prozessbevollmächtigte bat um Übersendung einer Gesamtaufstellung, aus der die ursprüngliche Gesamtforderung, die geleisteten Zahlungen und der noch offen stehende Individualgeldbetrag hervorgingen. Ferner machte der Prozessbevollmächtigte der Kläger geltend, die Rückforderungen seien insbesondere den minderjährigen Kindern gegenüber rechtswidrig. Der Vollständigkeit halber werde die Einrede der Verjährung erhoben. Ferner werde um Akteneinsicht mittels Zusendung der Akten gebeten. Mit Schreiben vom 27.05.2013 (Blatt 1159 Beklagtenakte) teilte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit, er habe mit Schreiben vom 26.03.2013 für seine Mandantin pauschal für alle bis dato nicht bestandskräftigen Bescheide Widerspruch eingelegt. Die letzten Bescheide (2x Bewilligung von W und T) datierten vom 30.01.2013, so dass der Widerspruch unzulässig sei. Ein Überprüfungsantrag sei jedoch seinerseits mit Schreiben vom 26.03.2013 gestellt worden, so dass um Mitteilung gebeten werde, ob vor diesem Hintergrund der Widerspruch zurückgenommen werde. Im Übrigen werde um Konkretisierung des Überprüfungsantrages gebeten. Der Beklagte bat darum anzugeben, welche Bescheide (mit Datum) tatsächlich und mit welcher Begründung überprüft werden sollten. Der Beklagte wies darauf hin, dass es die Formulierung "im Einzelfall" im § 44 Abs. 1 SGB X erfordere, dass sich ein Anhaltspunkt für eine Aufhebung ergeben müsse. Hierauf antwortete der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 28.05.2013 (Blatt 1166 Beklagtenakte) und teilte dem Beklagten mit, dass ihm von Seiten des Beklagten leider regelmäßig im Überprüfungsverfahren keine Akteneinsicht ermöglicht werde, es wäre daher "prima", wenn der Beklagte ihm die Akten zur Einsicht übersenden würde, sodann könnten die entsprechenden Bescheide wunschgemäß konkretisiert werden.

Mit Bescheid vom 14.06.2013 nahm der Beklagte im Betreff Bezug auf einen "Antrag auf Überprüfung aller Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide gemäß § 44 SGB X", und teilte den Klägern mit, dass sie mit Schreiben vom 26.03.2013 die nochmalige Überprüfung der im Betreff angegebenen Bescheide beantragt hätten. Die Überprüfung habe jedoch ergeben, dass keine Bescheide, wie o. a., erlassen worden seien. Mit Schreiben vom selben Tage (14.06.2013) teilte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit, es entspreche nicht den Tatsachen, dass in Überprüfungsanträgen Akteneinsicht verweigert werde. Der Unterschied zu Widerspruchsverfahren liege allein darin, dass es dem Prozessbevollmächtigten frei stünde, die Akten an den jeweiligen Standorten in den Räumen des Beklagten einzusehen.

Gegen den Bescheid vom 14.06.2013 erhob der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 21.06.2013 Widerspruch und bat um Akteneinsicht mittels Zusendung der Akten. Mit weiterem Schreiben vom 21.06.2013 teilte er dem Beklagten mit, es sei ihm aus organisatorischen und zeitlichen Gründen leider nicht möglich, die Akteneinsicht regelmäßig im Hause des Beklagten zu nehmen. Mit weiterem Schreiben vom 10.07.2013 (Blatt 1201 Beklagtenakte) teilte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Kläger mit, sein Widerspruch beziehe sich auf einen Bescheid vom 14.06.2013. Leider könne der Widerspruch nicht entsprechend zugeordnet werden, da am 14.06.2013 mehrere Bescheide für verschiedene Bewilligungszeiträume erstellt und versandt worden seien. Es sei konkret darzulegen, gegen welchen Bescheid der Widerspruch erhoben sei. Weiterhin habe er um Akteneinsicht gebeten. Hierzu werde auf den bereits in der Sache geführten Schriftwechsel verwiesen. Eine Übersendung der Akten erfolge nicht. Die Möglichkeit zur Akteneinsicht sei im Hause des Beklagten nach terminlicher Vereinbarung jedoch möglich. Mit Schriftsatz vom 11.07.2013 teilte der Prozessbevollmächtigte der Kläger dem Beklagten mit, er könne ohne Akteneinsicht keine weitere Begründung vornehmen. Es werde daher um rechtsmittelfähige Entscheidung gebeten. Im anschließenden Klageverfahren werde Akteneinsicht beantragt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.07.2013 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger gegen einen Bescheid vom 14.06.2013 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, am 14.06.2013 seien vom Beklagten insgesamt drei Bescheide erlassen worden. Mit Schreiben der Kläger vom 21.06.2013 sei Widerspruch gegen den Bescheid vom 14.06.2013 eingelegt worden, welcher nicht begründet worden sei. Dem Prozessbevollmächtigten der Kläger sei Akteneinsicht in den Räumen des Beklagten angeboten worden; § 84a SGG stelle die Übersendung der Akten in das Ermessen der Behörde. Im Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 10.07.2013 sei leider nicht konkretisiert worden, welcher Bescheid vom 14.06.2013 Gegenstand des Widerspruchsverfahrens werden sollte. Die Widerspruchsstelle habe daher alle Entscheidungen vom 14.06.2013 geprüft. Anhaltspunkte für falsche Entscheidungen seien weder genannt, noch aus den Unterlagen ersichtlich. Die Bescheide entsprächen den gesetzlichen Bestimmungen.

Hiergegen richtet sich die am 21.08.2013 bei dem Sozialgericht Kassel erhobene Klage.

Nach Gewährung von Akteneinsicht durch das Gericht und damit einhergehender Übersendung der Akte in seine Kanzleiräume hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger mit Schriftsatz vom 16.12.2013 ausgeführt, die Klage beziehe sich streitgegenständlich auf den Überprüfungsbescheid vom 14.06.2013 und den Widerspruchsbescheid vom 23.07.2013, wobei es sich nach telefonischer Rücksprache mit der Regionaldirektion Hessen bei den zu überprüfenden Bescheiden des Beklagten wohl um Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gehandelt habe, die vom 09.09.2010 und 12.11.2010 datierten. Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat um Übersendung von Kopien gebeten.

Die Kläger sind der Auffassung, der Beklagte sei zur inhaltlichen Überprüfung verpflichtet gewesen. Eine weitere Konkretisierung im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren zu den angegriffenen Bescheiden sei ihm nicht möglich gewesen, da ihm Akteneinsicht nicht gewährt worden sei. Er habe jedoch wegen der ergangenen Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen der Beklagten in ausreichender Form darauf hingewiesen, dass sich das Begehren der Kläger auf die Überprüfung dieser Bescheide richte. Zudem könne der Beklagte jedenfalls ermitteln, welche Aufhebungs- und Erstattungsbescheide gemeint seien, wenn es im Rahmen von § 44 SGB X um alle innerhalb der vergangenen 4 Jahre ergangenen Bescheide ginge. Allerdings sei es den Klägern nicht um alle Bescheide gegangen, die die Bedarfsgemeinschaft erhalten habe. Es sei ausschließlich um alle Aufhebungs-, Erstattungs- und Rücknahmebescheide gegangen.

Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 14.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 13.11.2010 und den Änderungsbescheid vom 09.09.2010 zu überprüfen und dieses zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er hält an seiner Auffassung fest, dass die Kläger ihrer Konkretisierungspflicht zu den überprüfenden Bescheiden weder im Verwaltungs- noch im Widerspruchsverfahren hinreichend nachgekommen seien. § 44 Abs. 1 SGB X sehe eine Überprüfung bereits bestandskräftiger Verwaltungsakte nur für den Fall vor, dass sich im Einzelfall eine Rechtswidrigkeit ergebe. Dies erfordere jedoch eine Konkretisierung der Bescheide, woran es vorliegend mangele, da sich die Kläger gegen sämtliche Bescheide mit ihrem Überprüfungsantrag gewandt hätten. Auch die Aufforderungen zur Konkretisierung der Anträge mit Schreiben vom 10.07.2013 seien erfolglos geblieben. Akteneinsicht sei den Klägern über ihren Prozessbevollmächtigten mehrfach in den Räumen des Beklagten angeboten worden. Hiervon habe der Prozessbevollmächtigte der Kläger jedoch keinen Gebrauch gemacht. Weder der Überprüfungsantrag vom 26.03.2013 noch der Widerspruch gegen die Bescheide vom 14.06.2013 habe erkennen lassen, worauf sich die Anträge der Kläger bezogen hätten. Dies sei nicht zulässig - hierzu nimmt der Beklagte Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 13.02.2014, B 4 AS 22713 R, wonach eine Überprüfung im Sinne von § 44 SGB X nur im Einzelfall erfolgen könne, wenn der Antrag hinreichend konkret gestellt sei. Die mangelnde Zusendung der Akten an den Prozessbevollmächtigten der Kläger im Rahmen der beantragten Akteneinsicht sei dem Umstand geschuldet, dass zwischen der Bereichsleitung des Beklagten und dem Prozessbevollmächtigten der Kläger im Jahre 2013 Streit um die Zuverlässigkeit des Bevollmächtigten hinsichtlich der Rücksendung bereits zugesandter Akten in anderen Verfahren im Rahmen der Akteneinsicht geherrscht habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Streitgegenstand ist allein die Frage, ob der Beklagte zur Überprüfung zurückliegender Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide im Rahmen von § 44 Abs. 1 SGB X (sogenannter Zugunsten- oder Überprüfungsantrag) verpflichtet gewesen ist. Wie sich im Laufe des Klageverfahrens herausgestellt hat, handelt es sich hierbei um den Bescheid des Beklagten vom 09.09.2010 (Blatt 40 Gerichtsakte), gerichtet an die Klägerin zu 1. und den Bescheid vom 13.11.2010 (Blatt 62 Gerichtsakte), damals noch gerichtet an den Ehemann der Klägerin zu 1., der mittlerweile nicht mehr in der Bedarfsgemeinschaft lebt. Der Bescheid vom 09.09.2010 betrifft eine Änderung zum Bescheid des Beklagten vom 22.02.2010 über Leistungen nach dem SGB II an die damaligen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft für die Zeit vom 01.01.2010 bis 30.06.2010. Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 13.11.2010 betrifft die Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2006 sowie eine Gesamtforderung an die Beteiligten der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 3.005,67 Euro. Hintergrund der (teilweisen) Aufhebungsentscheidungen des Beklagten war die Erzielung von Einkommen von Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft. Mit dem Klageantrag begehren die Kläger, dass der Beklagte die benannten Bescheide gemäß § 44 Abs. 1 SGB X auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen möge. Erhoben ist damit lediglich eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1, Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG -). Eine mit der Anfechtungsklage kombinierte Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG ist hingegen nicht im Streit.

Im Rahmen dieses Streitgegenstandes erweist sich die Klage als begründet. Die Kläger haben gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X Anspruch auf Überprüfung der Bescheide vom 09.09.2010 und vom 13.11.2010 auf ihre Rechtmäßigkeit. Der angefochtene Bescheid vom 14.06.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.07.2013 verweigert hingegen die Überprüfung von zurückliegenden Bescheiden und stellt sich daher als rechtswidrig dar. Er verletzt die Kläger damit in ihren Rechten.

Im Bescheid vom 14.06.2013 hatte der Beklagte ausgeführt, die Überprüfung habe ergeben, dass keine Bescheide erlassen worden seien. Auch im Widerspruchsbescheid vom 23.07.2013, der den Widerspruch vom 21.06.2013 als unbegründet zurückweist, hat der Beklagte keine weiteren inhaltlichen Feststellungen getroffen. Die Begründung trägt jedoch nicht, da tatsächlich Bescheide existieren, die überprüft werden können. Der Beklagte hat demnach das begehrte Überprüfungsverfahren für den Änderungsbescheid vom 09.09.2010 und den (Teil-)Rücknahme und Erstattungsbescheid vom 13.11.2010 bis zum heutigen Zeitpunkt nicht vorgenommen. Eine Verwaltungsentscheidung zur Rechtmäßigkeit der zu überprüfenden Verwaltungsakte ist damit noch nicht ergangen. Soweit der Beklagte sich weigert, eine Überprüfung durchzuführen, ist dies jedoch rechtswidrig. Denn der vom Prozessbevollmächtigten der Kläger gestellte Antrag im Schriftsatz vom 26.03.2013 auf Überprüfung aller Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide ist nach entsprechender Auslegung hinreichend bestimmt.

Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Verbindung mit § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes löst der Antrag auf Überprüfung nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zwar grundsätzlich eine Prüfpflicht des Leistungsträgers aus, der Antrag bestimme jedoch zugleich den Umfang des Prüfauftrages der Verwaltung im Hinblick darauf, ob bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Es müsse sich aus Anlass des Antrages der Verwaltung im Einzelfall objektiv erschließen, aus welchem Grund - Rechtsfehler und bzw. oder falsche Sachverhaltsgrundlage - nach Auffassung des Leistungsberechtigten eine Überprüfung erfolgen solle. Dazu müsse der Antrag konkretisierbar sein, d. h. entweder aus dem Antrag selbst - gegebenenfalls nach Auslegung - oder aus einer Antwort des Leistungsberechtigten aufgrund konkreter Nachfrage des Sozialleistungsträgers müsse der Umfang des Prüfauftrages für die Verwaltung bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens erkennbar werden. Sei dies nicht der Fall, sei der Sozialleistungsträger berechtigt, von einer inhaltlichen Prüfung des Antrages abzusehen (BSG, Urteil vom 13.02.2014, B 4 AS 22/13 R, juris, Rn. 13). Hierbei solle nach dem Wortlaut von § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X "im Einzelfall" eine Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes - sei es ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt mit dem Leistungen ganz oder teilweise abgelehnt worden seien, sei es ein Rückforderungsbescheid – erfolgen. Hieraus habe das Bundessozialgericht bereits in zurückliegenden Entscheidungen geschlossen, dass dann, wenn nicht ein einzelner oder mehrere konkrete, ihrer Zahl nach bestimmbare Verfügungssätze von Verwaltungsakten, sondern das Verwaltungshandeln - ohne jede Differenzierung - insgesamt zur Überprüfung durch die Verwaltung gestellt werde, keine Prüfung im Einzelfall begehrt werde. Trotz des Vorliegens eines Antrages löse ein solches Begehren bereits nach dem Wortlaut der Vorschrift keine inhaltliche Prüfpflicht des Sozialleistungsträgers aus (BSG, a.a.O., juris, Rn. 14 m.w.N.).

Bereits nach diesen einleitenden Ausführungen des Bundessozialgerichtes ist zu erkennen, dass das Bundessozialgericht vom Sozialleistungsträger eine Auslegung der Anträge verlangt. Es ist somit nicht nur ein hinreichend konkreter, sondern ein hinreichend konkretisierbarer (so die wörtlichen Ausführungen des Bundessozialgerichtes) Antrag nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu verlangen. Die Kammer stellt ausdrücklich klar, dass sie - die geäußerten Bedenken des Beklagten gegen uferlose Anträge nach § 44 Abs. 1 SGB X grundsätzlich teilend - in entsprechend gelagerten Fällen, insbesondere bei rechtsanwaltlicher Vertretung, einen konkreten Antrag nach § 44 Abs. 1 SGB X verlangt und "ins Blaue hinein" gestellte Überprüfungsanträge, die den von § 44 SGB X gerade verlangten Einzelfall nicht erkennen lassen, in Ansehung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes als nicht statthaft ansieht. Der vorliegende Fall ist jedoch anders gelagert.

Im vorliegenden Fall lautete das Antragsschreiben des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 26.03.2013 für den hier streitgegenständlichen Fall wie folgt: " und beantrage gemäß § 44 SGB X eine Überprüfung bezüglich aller Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide. Darüber hinaus soll der von den Mandanten bereits eingelegte (und offenbar noch nicht entschiedene) Überprüfungsantrag bezüglich der Erstattungsforderungen durch den Unterzeichner weiter begründet werden. Es wird um eine Übersendung einer Gesamtaufstellung gebeten, aus der die ursprüngliche Gesamtforderung, die geleisteten Zahlungen und der noch offen stehende (Individual )Geldbetrag hervorgeht. Die Rückforderungen, insbesondere den minderjährigen Kindern gegenüber, ist rechtswidrig. "

Zutreffend ist, dass die Kläger damit eingangs Ihres Schreibens eine Überprüfung aller Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheide in den Raum gestellt haben – es kann an dieser Stelle jedoch dahingestellt bleiben, ob diese Formulierung hinreichend konkret im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist. Denn in der bereits unmittelbar danach folgenden Passage im nächsten Absatz macht der Prozessbevollmächtigte der Kläger deutlich, dass ein von seinen Mandanten, den Klägern, gestellter (und offenbar noch nicht entschiedene) Überprüfungsantrag bezüglich der Erstattungsforderungen weiter begründet werden solle. Ferner bittet er um eine Gesamtaufstellung der noch offenen Forderungen.

Dem Wortlaut nach ging es Klägern zum einen darum, eine Gesamtaufstellung der (Rest ) Forderungen des Beklagten zu erhalten, zum anderen, die Überprüfung der zugrundeliegenden Aufhebung- und Erstattungsbescheide auf ihre Rechtmäßigkeit zu erreichen. Hieraus ist zu schließen, dass den Klägern eine Übersicht über die Gesamtforderungen zum damaligen Zeitpunkt nicht zur Verfügung stand, oder sie sich des Inhaltes eigener Aufzeichnungen oder Erkenntnisse zumindest nicht sicher waren. Die Überprüfung richtet sich entgegen der Auffassung des Beklagten auf einen konkreten, jedenfalls konkretisierbaren Sachverhalt. Denn aus Wortlaut und Zielrichtung des Schreibens ist mit hinreichender Sicherheit zu schließen, dass dem Prozessbevollmächtigten der Kläger bei Abfassung des Schriftsatzes am 26.03.2013 nicht bekannt gewesen ist, um welchen Aufhebungs-, Rücknahme- und Erstattungsbescheid des Beklagten es sich gehandelt hat, der die von den Klägern gerügte Erstattungsforderung nach sich gezogen hatte. Hier hätte es sich der Verwaltung zur Klärung des Sachverhaltes angeboten, nicht nur den Klägervertreter, der ganz offensichtlich die Bescheiddaten nicht kannte, (untauglich) aufzufordern, seinen Antrag näher zu konkretisieren und ein Bescheiddatum zu nennen, sondern ihm mitzuteilen, welcher konkrete Erstattungsbescheid der seinerzeit noch offenen (Rest-)Forderung zugrunde lag. Denn es ging den Klägern ersichtlich um Prüfung, ob sie weiterhin noch zu Zahlungen aufgrund einer Erstattungsforderung des Beklagten verpflichtet sind, sowie um die Klärung, auf welche Summe sich die restliche Forderung noch belief. Wenn hieran noch Zweifel bestanden haben sollten, so wäre dem Beklagten bei eigenem Bemühen, den Antrag im Sinne des Gesetzes auszulegen, die weitere Konkretisierung bereits bei Prüfung der Aktenlage, gegebenenfalls auch nur seines Computersystems, möglich gewesen. Denn es gab nur die beiden, im Klageverfahren schließlich benannten Bescheide, die zu einer Erstattungsforderung geführt hatten, die bei Antragstellung noch nicht getilgt war. Es ging hingegen nicht um eine Vielzahl von Bescheiden, aus denen der richtige erst nach entsprechender Bezeichnung hätte herausgefiltert werden müssen. Der Antrag des Prozessbevollmächtigten der Kläger ist daher - jedenfalls soweit er die streitgegenständliche Erstattungsforderung betrifft - hinreichend konkretisierbar und nicht, wie vom Beklagten vertreten, allein ins "Blaue hinein" gestellt worden.

Die weiteren Ausführungen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 13.02.2014 stützen diese nach einfacher Auslegung des Antragsbegehrens entstandene Auffassung der Kammer. Das Bundessozialgericht hat weiter ausgeführt, eine Entbindung des Sozialleistungsträgers von der inhaltlichen Prüfung des § 44 Abs.1 SGB X setze voraus, dass der Sozialleistungsträger "den Einzelfall", also die konkreten Inhalte eines bestimmten Bescheides, die zur Überprüfung gestellt werden sollen, bei objektiver Betrachtung nicht ermitteln kann. Ein Prüfanliegen "im Einzelfall" sei zu bejahen, wenn entweder eine bestimmte Fragestellung tatsächlicher oder rechtlicher Natur oder eine konkrete Verwaltungsentscheidung benannt werde. Auch bei einem Antrag nach § 44 SGB X habe die Verwaltung den Untersuchungsgrundsatz des § 20 SGB X zu beachten. Insofern könne es, je nach den konkreten Umständen der Antragstellung, erforderlich sein, dass der Träger auf eine Konkretisierung des Überprüfungsbegehrens durch den Leistungsberechtigten im Sinne von § 21 Abs. 2 Satz 1 SGB X hinwirke. In welchem Umfang der Leistungsträger seiner Amtsermittlungspflicht nachzukommen habe, beurteile sich jedoch nach Lage des Einzelfalles. Als Kriterium für den Umfang der Amtsermittlungspflicht des SGB II-Trägers sei beispielsweise zu berücksichtigen, ob der Leistungsberechtigte (mit juristischem Sachverstand) vertreten oder unvertreten sei, oder ob sich aus vorangegangenen Kontakten zwischen ihm und der Verwaltung Anhaltspunkte für das Begehren des Antragstellers ergeben. Auch könne von Bedeutung sein, in welchem Gesamtkontext ein Überprüfungsantrag gestellt werde. Der Sozialleistungsträger müsse insoweit zumindest in die Lage versetzt werden, bestimmen zu können, welcher Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen sein könnte (vgl. zur vorstehendem Bundessozialgericht, a. a. O., Juris, Rnr. 15).

Diese Ausführungen des Bundessozialgerichtes führen im vorliegenden Fall zur für die Kammer in vollem Umfang eingetretenen Überzeugung, dass dem Beklagten hier die Bestimmung des mit dem Überprüfungsantrag gerügten Ausgangsbescheides ohne weiteres möglich gewesen ist. Denn es existierte lediglich der Bescheid des Beklagten vom 13.11.2010, mit dem eine Erstattungsforderung von 3.005,67 EUR geltend gemacht wurde, sowie der Änderungsbescheid vom 09.09.2010. Dies ist nach Gewährung von Akteneinsicht durch das Gericht an den Prozessbevollmächtigten der Kläger offenbar geworden. Die Bescheide sind unmittelbar darauf mit Schriftsatz vom 21.01.2014 vom Beklagten an das Gericht übersandt worden. Wenn es jedoch im vorliegenden Fall lediglich eine einzige Erstattungsforderung gab und die Kläger bzw. ihr Prozessbevollmächtigter sich gerade gegen diese Erstattungsforderung wenden, wie dem Überprüfungsschriftsatz vom 26.03.2013 wörtlich zu entnehmen, so war es für den Beklagten zur Überzeugung des Gerichtes mit einfachen Mitteln ermittelbar, welcher konkrete Bescheid den Erstattungsforderungen oder der Erstattungsforderung zugrunde gelegen hat. Hierfür bedarf es nicht der Kenntnis des Prozessbevollmächtigten vom Bescheiddatum, da dieses von Seiten des Beklagten ohne besonderen Aufwand hätte zur Verfügung gestellt werden können. Anders mag der Fall liegen, wenn mehrere Aufhebungs-und Erstattungsbescheide einer bestimmten Gesamtforderung zugrunde liegen. Doch dieser Fall ist vorliegend nicht zu entscheiden. Denn es gab nur die beiden benannten Bescheide, die zum damaligen Zeitpunkt eine immer noch eine offene Erstattungsforderung der Kläger begründeten.

Schließlich sind die Umstände des Einzelfalles vom Beklagten nicht ausreichend gewürdigt worden, wie es vom Bundessozialgericht verlangt wird. So hat das Bundessozialgericht (siehe oben) unter anderem als Kriterium für den Umfang der Amtsermittlungspflicht des SGB II–Trägers zu berücksichtigen verlangt, ob der Verwaltung Anhaltspunkte für das Begehren des Antragstellers aus vorangegangenen Kontakten vorlagen. Auch könne von Bedeutung sein, in welchem Gesamtkontext ein Überprüfungsantrag gestellt werde. Der Gesamtkontext des vorliegenden Falles ergibt sich bereits aus dem Schreiben der Klägerin zu 1), das diese handschriftlich am 18.12.2012 an den Beklagten verfasst hat. Aus dem Schreiben ist aufgrund seiner Diktion die rechtliche und sprachliche Ungewandtheit der Klägerin ohne weiteres zu schließen, ohne dass die Kammer hierauf näher einzugehen hat. Aus dem persönlichen Schreiben der Klägerin zu 1) geht hinreichend deutlich hervor, dass sie offensichtlich Schwierigkeiten mit der Verrechnung bzw. Tilgung der Erstattungsforderung mit 100,00 EUR monatlich hatte. Dieses Schreiben findet sich auf Blatt 1092 der Beklagtenakte. Bereits 16 Seiten später, auf Blatt 1108 der Beklagtenakte, findet sich ein Vermerk des Sachbearbeiters über eine persönliche Vorsprache der Klägerin zu 1) am 18.02.2013, somit nur zwei Monate später, in der es erneut um die Rückführung der Erstattungsforderung ging, und in dem sich die Beteiligten über die weitere Tilgung in Höhe von 100,00 EUR monatlich einigten. Etwa 20 Seiten später findet sich sodann der Überprüfungsantrag des Prozessbevollmächtigten der Kläger, in dem wiederum eine Gesamtaufstellung geleisteter Zahlungen und noch offenstehender Forderungen erbeten wird, verbunden mit einem Überprüfungsantrag (Blatt 1129 Beklagtenakte). Innerhalb eines – im Rahmen von SGB II-Leistungsakten – überschaubaren Umfanges von lediglich 37 Blatt Verwaltungsakten finden sich somit Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zu 1) ganz offensichtlich Zweifel an Art und Umfang der Rückführung des Erstattungsbetrages hatte. Dieses wird mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten am 26.03.2013 somit hinreichend für den Beklagten konkretisiert. Beim Lesen der Verwaltungsakte ergeben sich für einen objektiven Betrachter keine Zweifel, in dem Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 26.03.2013 einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Schreiben der Klägerin vom 18.12.2012 und ihrer persönlichen Vorsprache am 18.02.2013 zu erkennen. Denn Gegenstand war ein und derselbe Sachverhalt, die Rückführung der Erstattung, woran die Klägerin offensichtlich Zweifel hegte. Es ist ohne weiteres nachvollziehbar, dass die Klägerin sich nach zweimaligem eigenen Versuch an einen Rechtsanwalt gewendet haben mag, um eine Überprüfung in objektiver Hinsicht zu veranlassen, auch wenn sie am 18.02.2013 in einem persönlichen Gespräch mit ihrem Sachbearbeiter einer weiteren Rückführung des Erstattungsbetrages in Höhe von 100,00 EUR monatlich zugestimmt hatte.

Insgesamt zeigen die Umstände des Einzelfalles im vorliegenden Falle ein Bild, dass mit einem ins Blaue hinein gestellten, nicht konkretisierten und auch nach Auslegung nicht konkretisierbaren Antrag nach § 44 Abs. 1 SGB X nicht vereinbar ist. Der von den Klägern gestellte, vom Prozessbevollmächtigten durchgesetzte Antrag hatte einen konkreten Sachverhalt – nämlich eine zurückliegende Erstattungsforderung – zum Gegenstand, war von der Bescheidlage (zwei Bescheide des Beklagten aus dem Jahr 2010) überschaubar und der Streitstoff ohne weiteres ermittelbar. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, dass die Bescheide letztlich erst im Klageverfahren offenbar geworden sind. Zwar hat das Bundessozialgericht entschieden, es genüge nicht, wenn der Leistungsberechtigte eine Nachbesserung des bis dahin unbestimmten und nicht objektiv konkretisierbaren Antrags erst im Klageverfahren vornehme (BSG, a. a. O., Juris, Rnr. 16). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben, da es sich nicht um einen unbestimmten Antrag im Sinne der benannten Rechtsprechung gehandelt hat.

Liegt bereits unter gebührender Berücksichtigung, gar Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ein hinreichend konkreter Antrag der Kläger zur Überprüfung vor, bedarf es letztlich keiner Entscheidung der Kammer, inwieweit es rechtmäßig gewesen ist, dass der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Kläger die Übersendung der Akten in seine Kanzleiräume im Rahmen der beantragten Akteneinsicht verwehrt hat. Zweifelhaft erscheint dies jedenfalls wegen § 84 a SGG im Widerspruchsverfahren, in welchem eine Übersendung der Akten im Ermessen des Verwaltungsträgers steht, jedoch grundsätzlich die Regel ist, wenn Prozessbevollmächtigter ein Rechtsanwalt ist. Denn § 84 a SGG weist darauf hin, dass für das Vorverfahren § 25 Abs. 4 SGB X (der noch im Verwaltungsverfahren gilt und eine Übersendung der Akten grds. nicht vorsieht) nicht anwendbar ist. Damit gilt für die Frage der Akteneinsicht § 120 Abs. 2 Satz 2 SGG, wonach einem Bevollmächtigten, der zu den in § 73 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 bis Nr. 9 SGG bezeichneten natürlichen Personen gehört (wie hier z.B. ein Rechtsanwalt), die Mitnahme der Akte in die Wohnung oder Geschäftsräume gestattet werden kann. Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung eingewandt, im Jahre 2013 sei die Zuverlässigkeit des Prozessbevollmächtigten der Kläger im Streit gewesen zwischen der Bereichsleitung des Beklagten um dem Prozessbevollmächtigten selbst. Die Unzuverlässigkeit eines Prozessbevollmächtigten kann als Ermessensgesichtspunkt natürlich der Übersendung der Akten in seine Kanzleiräume entgegenstehen. Für Umstände, an der Zuverlässigkeit des Prozessbevollmächtigten der Kläger zu zweifeln, ergeben sich aus der Akte des Beklagten allerdings keine Anhaltspunkte. Im Widerspruchsbescheid vom 23.07.2013 stellt der Beklagte lediglich fest, dass die Übersendung der Akten im Ermessen der Behörde stünde. Gründe, welche im Rahmen des Ermessens dazu geführt haben mögen, die Akten nicht zu übersenden, fehlen. Somit ist nicht erkennbar, ob der Beklagte die Besorgnis trug (wie in der mündlichen Verhandlung erklärt), er könnte die dem Prozessbevollmächtigten der Kläger übersandten Akten womöglich nicht oder nicht rechtzeitig zurückerlangen. Nähere Feststellungen hierzu, etwa dergestalt, ob dem Prozessbevollmächtigten eine hinreichende Konkretisierung seines Überprüfungsbegehrens wegen ggfs. rechtswidrig versagter Akteneinsicht gar nicht möglich war, musste die Kammer zwar letztlich nicht treffen, da der Klageantrag bereits nach den vorangegangenen Ausführungen begründet war, ohne dass es auf die mangelnde Übersendung der Beklagtenakten im Rahmen der Akteneinsicht noch angekommen wäre. Allerdings sei rein ergänzend darauf hingewiesen, dass bei der Ausübung des Ermessens der Behörde, die Akten nicht an einen Rechtsanwalt (als vom Gesetz ausdrücklich für berechtigt erachtete Person, § 120 Abs. 2 Satz 2 SGG) zu übersenden, Umsicht im Rahmen der Beachtung rechtlichen Gehörs zu wahren ist. So hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 14.09.2011 (2 BVR 449/11, Juris) entschieden, dass – in dortigem strafgerichtlichen Verfahren – ein Strafverteidiger Anspruch darauf habe, dass über seinen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht und über seine Durchführung willkürfrei entschieden werde. Zwar handelt es sich hier nicht um ein Strafverfahren, die grundrechtlich im Rahmen des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG und der sog. "Waffengleichheit" gebotene Akteneinsicht im Sozialverwaltungs- und – widerspruchsverfahren, wie sie in § 25 Abs. 4 SGB X und § 120 SGG niedergelegt ist, ist jedoch nicht grundsätzlich verschieden. Es bleibt für die Kammer offen, ob nicht ggfs. im Einzelfall auch einem prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt im Verwaltungsverfahren die Akteneinsichtnahme in den Behördenräumen ausreichend und zumutbar sein sollte. Doch auch im Verwaltungsverfahren ist unter der Geltung von § 25 Abs. 4 SGG, der eine Übersendung von Akten an Rechtsanwälte grundsätzlich nicht vorsieht, das rechtliche Gehör durch Akteneinsicht zu wahren. Zwar sieht § 84 a SGG vor, dass § 25 Abs. 4 SGB X nur für das Widerspruchsverfahren nicht gilt. Der Gesetzgeber ist der Auffassung, dass im Vorverfahren wegen der häufigeren Anwaltsvertretung dieselbe Regelung gelten soll wie im Gerichtsverfahren, also eine Aktenübersendung zur Verbesserung des Rechts auf Aktensicht im Regelfall erfolgen soll, wenn dies nicht im Einzelfall untunlich ist. Von einer Ausnahme sollte deshalb auch im Verwaltungsverfahren bei anwaltlicher Vertretung nur abgesehen werden, wenn durch die Aktenübersendung eine unangemessene Verzögerung des Verfahrens zum Nachteil anderer Beteiligter zu befürchten ist, oder Erfahrungen mit dem Bevollmächtigten in anderen Verfahren berechtigte Zweifel an der fristgerechten Rückgabe und damit einer zügigen Fortführung des Verfahrens geweckt haben (Siefert in von Wulffen / Schütze, Komm. zum SGB X, § 25, Rnr. 41). Im hier durchgeführten Verwaltungsverfahren sind diese Gesichtpunkte jedenfalls nach Aktenlage nicht erkennbar. Jedenfalls für das Widerspruchsverfahren eröffnet sich zudem die Frage, warum die Behörde die Aktenübersendung abgelehnt hat, obwohl dies im Widerspruchsverfahren (ebenso wie im Klageverfahren) die gesetzliche Regel ist. Denn die Übersendung der Akten an Prozessbevollmächtigte kann zur Wahrung des rechtlichen Gehörs notwendig sein, wenn die Einsichtnahme in der Geschäftsstelle wegen des Umfangs oder der Schwierigkeit der Materie nicht zumutbar ist. Auch wenn grundsätzlich die Akten regelmäßig an bevollmächtigte Rechtsanwälte übersandt werden (wovon die Kammer für das Widerspruchsverfahren bei dem Beklagten ausgeht), darf eine Übersendung im Einzelfall nur mit sachlichem Grund abgelehnt werden (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 120, Rnr. 4 a). Ein solcher sachlicher Grund ist aus den Leistungsakten des Beklagten nicht erkennbar. Erforderlich wäre daher zumindest, dass die Behörde ihre Gründe für die im Widerspruchsverfahren – ggf. auch im Verwaltungsverfahren – verweigerte Aktenübersendung an einen Rechtsanwalt aktenkundig macht, um eine objektive Überprüfung zu ermöglichen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht geschehen. Ob der Beklagte rechtlich einwandfrei die Zusendung der Akten sowohl im Verwaltungs- als auch im Widerspruchsverfahren an den prozessbevollmächtigten Rechtsanwalt verweigert hat, ist damit zweifelhaft, bedarf allerdings keiner abschließenden Entscheidung, da die angefochtenen Bescheide sich aus den bereits genannten materiellen Gründen als rechtswidrig erwiesen haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Berufung bedurfte nicht der Zulassung durch das Sozialgericht, da ein Tatbestand des § 144 Abs. 1 SGG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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