S 18 KR 454/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 18 KR 454/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 7/16
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Bescheide vom 12. August 2014 und vom 8. April 2015 werden aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Oberarmstraffung als Sachleistung vom 30. April 2014 als genehmigt gilt.

II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über das Bestehen einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Absatz 3 a Satz 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).

Die 1965 geborene Klägerin ist bei der Beklagten pflichtversichert.

Mit Schreiben vom 28. April 2014 - eingegangen bei der Beklagten am 30. April 2014 - beantragte die Klägerin eine stationär durchzuführende Oberarmstraffung als Sachleistung. Dem Schreiben war eine ärztliche Bescheinigung des Dr. med. R vom X-Krankenhaus V zur Vorlage bei der Krankenkasse beigefügt. Mit Schreiben vom gleichen Tage bestätigte die Beklagte der Klägerin den Eingang des Antrags und bat um Übersendung einer Fotodokumentation, die den aktuellen Befund gut darstelle, damit der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) eine Stellungnahme ohne persönliche Untersuchung abgeben könne. Eine Fristsetzung enthielt das Schreiben nicht. Mit weiterem Schreiben vom 15. Mai 2014 erinnerte die Beklagte die Klägerin an die Übersendung der angeforderten Unterlagen. Eine Frist wurde erneut nicht gesetzt.

Die Beklagte forderte bei dem MDK mit Schreiben vom 21. Mai 2014 eine ärztliche Stellungnahme zu dem Leistungsantrag an. Dies teilte sie der Klägerin mit Schreiben vom gleichen Tage mit. Mit weiterem Schreiben vom 15. Juli 2014 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Erstellung des Gutachtens durch den MDK noch andauere. Eine weitergehende Mitteilung erfolgte nicht.

Das unter dem 1. August 2014 erstellte sozialmedizinische Gutachten des Dr. med. D kommt zu dem Ergebnis, dass die begehrte Oberarmstraffung medizinisch nicht notwendig ist.

Mit Bescheid vom 12. August 2014 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für die beantragte Oberarmstraffung unter Verweis auf die Stellungnahme des MDK ab. Gegen den Bescheid legte die anwaltlich vertretene Klägerin mit Schreiben vom 3. September 2014 Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden wurde.

Die Klägerin hat am 14. August 2014 Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben. Sie begehrt die Feststellung, dass die beantragte Leistung als genehmigt gilt.

Mit Rücknahmebescheid vom 8. April 2015 nahm die Beklagte den nach § 13 Absatz 3 a SGB V ergangenen fiktiven Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) zurück. Über den hiergegen erhobenen Widerspruch hat die Beklagte noch nicht entschieden.

Die Klägerin beantragt,
die Bescheide vom 12. August 2014 und vom 8. April 2015 aufzuheben und festzustellen, dass der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Oberarmstraffung als Sachleistung vom 30. April 2014 gemäß § 13 Absatz 3 a Satz 6 SGB V als genehmigt gilt.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die fingierte Genehmigung des gestellten Antrags durch den Aufhebungsbescheid nicht mehr existiere.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die erhobene kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß §§ 54 Absatz 1, 55 Absatz 1 Nummer 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist hinsichtlich der Anfechtung der Bescheide vom 12. August 2014 und vom 8. April 2015 – entgegen dem anderslautenden Tenor – unzulässig. Denn das notwendige Vorverfahren ist nicht durchgeführt worden. Über den am 3. September 2014 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. August 2014 hat die Beklagte noch nicht entschieden. Gleiches gilt für den Widerspruch gegen den Bescheid vom 8. April 2015. Der Bescheid vom 8. April 2015 ist auch nicht gemäß § 96 Absatz 1 SGG Gegenstand des vorliegenden Klageverfahrens geworden, da noch kein Widerspruchsbescheid zuvor erlassen wurde. Gleichwohl war das Verfahren nicht auszusetzen, da die Feststellungsklage zulässig und begründet ist und der Tenor hinsichtlich der Rechtsfolge – der Feststellung der Genehmigungsfiktion – rechtmäßig ist.

Die Feststellungsklage ist zulässig. Die Klägerin hat insbesondere ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass ihr Antrag vom 30. April 2014 auf Genehmigung einer stationär durchzuführenden Oberarmstraffung als Sachleistung als genehmigt gilt. Ein Interesse ist hierbei berechtigt, wenn es nach der Sachlage vernünftigerweise gerechtfertigt ist; es kann rechtlicher oder als schutzwürdig anzuerkennender tatsächlicher, insbesondere wirtschaftlicher oder ideeller Art sein (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 55 Randnummern 15 f. mit weiteren Nachweisen; Scholz, in: Roos/Wahrendorf, Sozialgerichtsgesetz, 11. Auflage 2014, Randnummer 21 mit weiteren Nachweisen). Die Klägerin hat ein solches Feststellungsinteresse, weil mit der gerichtlichen rechtskräftigen Feststellung des Eintritts der Genehmigungsfiktion die Klägerin sich die begehrten Leistungen ohne Kostenrisiko selbst beschaffen und Kostenerstattung gegenüber der Beklagten geltend machen kann. Ohne rechtskräftige gerichtliche Feststellung der Genehmigungsfiktion trägt sie im Hinblick auf die grundsätzliche Einhaltung des Beschaffungsweges im Sinne von § 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) das Risiko, die Kosten für die Maßnahme selbst tragen zu müssen (so auch Sozialgericht (SG) Heilbronn, Urteil vom 10. März 2015, Az. S 11 KR 2425/14, juris, Randnummer 24; SG Koblenz, Urteil vom 23. März 2015, Az. S 13 KR 977/14, juris, Randnummer 20, SG Marburg, Urteil vom 15. Januar 2015, Az. S 6 KR 160/13, juris, Randnummer 23; SG Detmold, Urteil vom 18. Juni 2015, Az. S 3 KR 493/14, juris, Randnummer 22).

Dem steht auch nicht der – auch im sozialgerichtlichen Verfahren geltende – Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage gegenüber der Gestaltungs- oder Leistungsklage entgegen. Der Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage soll der Vermeidung überflüssiger Klagen dienen. Der Vorrang der Gestaltungs- oder Leistungsklage gilt aber nur dann, wenn im konkreten Fall eine solche Klage zulässig ist bzw. wäre (Keller, aaO, Randnummer 19 a). Dies ist hier nicht der Fall. Der Zulässigkeit einer auf Genehmigung einer stationär durchzuführenden Oberarmstraffung als Sachleistung gerichteten (reinen) Leistungsklage steht entgegen, dass die Beklagte ihre Leistungspflicht durch Verwaltungsakt abgelehnt hat. Der ablehnende Verwaltungsakt müsste im Wege der mit der Leistungsklage kombinierten Anfechtungsklage angefochten werden, um die Aufhebung zu erreichen. Eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage wäre aber derzeit nicht zulässig, weil zunächst das bereits eingeleitete Widerspruchsverfahren durchgeführt werden muss. Daher gilt vorliegend der Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage nicht. Zudem gilt dieser Grundsatz dann nicht, wenn auf Beklagtenseite eine juristische Person des öffentlichen Rechts steht (Keller, aaO, Randnummer 19 c mit weiteren Nachweisen). In solchen Fällen ist davon auszugehen, dass die an Recht und Gesetz gebundene Verwaltung auch ohne den Druck der Vollstreckung aus einem Leistungsurteil den festgestellten Anspruch des Klägers befriedigt (vgl. zum Ganzen, SG Dessau-Roßlau, Urteil vom 18. Dezember 2013, Az. S 21 KR 282/13, juris, Randnummer 15).

Die Klage ist auch begründet. Die von der Klägerin bei der Beklagten am 30. April 2015 beantragte Genehmigung einer stationär durchzuführenden Oberarmstraffung als Sachleistung gilt gemäß § 13 Absatz 3 a Satz 6 SGB als genehmigt.

Die gesetzlichen Voraussetzungen der Genehmigungsfiktion sind vorliegend erfüllt. Gemäß § 13 Absatz 3 a Satz 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Kann die Krankenkasse diese Frist nicht einhalten, teilt sie dies dem Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit, § 13 Absatz 3 a Satz 5 SGB V. Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist gemäß § 13 Absatz 3 a Satz 6 SGB V als genehmigt. Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet, § 13 Absatz 3 a Satz 7 SGB V.

Die Beklagte hat hier eine gutachterliche Stellungnahme des MDK eingeholt, so dass sie gemäß § 13 Absatz 3 a Satz 1 Alternative 2 SGB V binnen fünf Wochen, d.h. bis zum 4. Juni 2015, über den gestellten Antrag zu entscheiden gehabt hätte. Dabei bemessen sich die in § 13 Absatz 3 a Satz 1 SGB V normierten Entscheidungsfristen nach den §§ 26 Absatz 1 und Absatz 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) in Verbindung mit §§ 187, 188 und § 193 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Frist beginnt, da der sie auslösende "Antragseingang" ein Ereignis im Sinne des § 187 Absatz 1 BGB darstellt, am folgenden Tage. Nach § 188 Absatz 2 Satz 1 BGB endet die Wochenfrist grundsätzlich mit dem Ablauf des Tages, der nach seiner Benennung dem Tag des Antragseingang entspricht (vgl. Noftz, in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand 03/14, § 13 Randnummer 50 i). Der von der Klägerin gestellte Antrag war vollständig, hinreichend bestimmt und bei der richtigen Krankenkasse gestellt. Insbesondere steht der ordnungsgemäßen Antragstellung nicht entgegen, dass die Klägerin keine Fotodokumentation eingereicht hat. Denn gesetzlich Krankenversicherte sind nicht gehalten, bereits im Rahmen der Antragstellung alle erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Vielmehr ist die Beklagte gemäß § 20 SGB X zur umfangreichen Ermittlung des Sachverhaltes verpflichtet (SG Detmold, aaO, Randnummer 24). Um den Eintritt der Genehmigungsfiktion zu verhindern, hätte die Beklagte der Klägerin mitteilen müssen, dass sie die gesetzlichen Fristen aufgrund der fehlenden Fotodokumentation nicht einhalten kann. Diesen Hinweis enthielt weder das Schreiben vom 30. April 2014 noch das Schreiben vom 15. Mai 2014. Der pauschale Hinweis, dass der Antrag aufgrund der fehlenden Unterlagen nicht abschließend bearbeitet werden kann, genügt den gesetzlichen Anforderungen des § 13 Absatz 3 a Satz 5 SGB V nicht. Denn die Beklagte hat gegenüber der Klägerin nicht einmal kenntlich gemacht, dass sie binnen einer 5 Wochen-Frist zu entscheiden hat (SG Gießen, Urteil vom 26. Juni 2015, Az. S 7 KR 429/14, juris, Randnummer 23).

Der Leistungsantrag der Klägerin gilt nach § 13 Absatz 3 a Satz 6 SGB V als genehmigt. Nach Überzeugung der Kammer führt der Ablauf der Frist des § 13 Absatz 3 a SGB V zum Eintritt der Genehmigungsfiktion unabhängig davon, ob die begehrte Leistung medizinisch zwingend notwendig oder wirtschaftlich sinnvoll ist. Dies folgt bereits aus dem ausdrücklichen Wortlaut des § 13 Absatz 3 a SGB V, wonach die beantragte Leistung nach Ablauf der gesetzlich festgelegten Frist als genehmigt gilt. Eine Einschränkung dahingehend, dass sich diese Genehmigungsfiktion nur auf solche Leistungen bezieht, die grundsätzlich zum Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) gehören, enthält der Wortlaut nicht. Auch Sinn und Zweck der Norm sprechen für dieses Ergebnis. Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten (Patientenrechtegesetz, Bundesgesetzblatt I 2013, Seite 277) soll eine Genehmigungsfiktion für den Fall begründet werden, dass die Krankenkasse nicht innerhalb der Frist über einen vom Versicherten gestellten Antrag entscheidet. Dem Versicherten soll durch den Eintritt der Genehmigungsfiktion letztlich eine sichere Rechtsposition eingeräumt werden, die er gegenüber der Krankenkasse notfalls auch gerichtlich durchsetzen kann. Würde man eine solche Genehmigungsfiktion unter den Vorbehalt stellen, dass sie sich nur auf diejenigen Leistungen bezieht, die medizinisch notwendig und wirtschaftlich sind und zum Leistungskatalog der GKV gehören, hätte § 13 Absatz 3 a SGB V für den Versicherten letztlich keinen Mehrwert. Nach Fristablauf würde zwar grundsätzlich eine Genehmigungsfiktion eintreten. Der Versicherte könnte sich auf diese Fiktion jedoch nicht verlassen, denn sein Anspruch bestünde nur dann, wenn die Leistung ohnehin von der Krankenkasse geschuldet werden würde. Die Versicherung müsste damit trotz eingetretener Fiktion inhaltlich über die Leistung entscheiden. Der Versicherte müsste diese Entscheidung nach wie vor abwarten. Eine etwaige Selbstbeschaffung der Leistung würde dann letztlich auf eigenes Risiko erfolgen. Auch dogmatische Erwägungen sprechen gegen eine restriktive Auslegung. Denn eine Genehmigungsfiktion unter Vorbehalt ist dem Deutschen Recht fremd. Eine Anwendung des § 13 Absatz 3 a SGB V kann letztlich nur in denjenigen Fällen ausgeschlossen sein, in denen die beantragte Leistung von der Krankenkasse offenkundig nicht erbracht werden muss (beispielsweise Antragstellung durch eine Person, die gar nicht Mitglied der betreffenden Krankenkasse ist). Gleiches kann gelten, wenn die beantragte Leistung offenkundig im Rahmen des krankenversicherungsrechtlichen Leistungsspektrums nicht erforderlich sein kann (bspw. Antrag auf Durchführung eines Erholungsurlaubs auf Mallorca oder Antrag auf Versorgung mit Heroin oder anderen illegalen Drogen) (vgl. zum Ganzen SG Koblenz, Urteil vom 23. März 2015, Az. S 13 KR 977/14, juris, Randnummer 37). Ein solcher "Evidenz-Fall" ist vorliegend jedoch nicht gegeben.

Durch die Genehmigungsfiktion des § 13 Absatz 3 a Satz 6 SGB V gilt die Genehmigung der beantragten Leistung durch einen fingierten Verwaltungsakt als erlassen. Die Leistungsberechtigung des Antragstellers ist wirksam verfügt und die Krankenkasse ist mit allen Einwendungen, insbesondere im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V ausgeschlossen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. Mai 2014, Az. L 5 KR 222/14 B ER, juris, Randnummer 9).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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