S 2 AL 5/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 2 AL 5/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AL 126/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 13/17 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine fiktive Kündigungsfrist greift nach § 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. nur ein, wenn die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ausgeschlossen war. Das setzt voraus, dass jede Form der ordentlichen Kündigung ausgeschlossen war, also nicht nur die betriebsbedingte.
1. Die Bescheide der Beklagten vom 06.04.2010 und 07.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2010 und des Änderungsbescheids vom 26.07.2010 werden aufgehoben, soweit darin das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 festgestellt worden ist.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin auch für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 Arbeitslosengeld in Höhe von 17,79 Euro täglich zu gewähren.

3. Die Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung eines Ruhenszeitraums.

Die Klägerin war seit dem 01.10.2002 bei der A-Behörde beschäftigt. Diese plante im Jahre 2009 eine größere Umstrukturierung ihrer Verwaltung. Dabei beabsichtigte sie, den Standort C-Stadt, an dem die Klägerin tätig war, zu schließen. Nach diesbezüglichen Verhandlungen zwischen der A-Behörde und ihrem Gesamtpersonalrat wurde ein Umstrukturierungskonzept beschlossen, das ein Standortkonzept, einen Sozialplan und eine Dienstvereinbarung zur Expressabfindung enthielt. Danach sollten die Arbeitsplätze der Mitarbeiter, die in C-Stadt tätig waren, ersatzlos entfallen. Für die Betroffenen sollte die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit an einem anderen Standort der A-Behörde zu unveränderten (oder notfalls zu geänderten) Bedingungen geprüft werden. Letztlich sollten betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Dieses Konzept wurde den betroffenen Mitarbeitern von der A-Behörde auf einer Informationsveranstaltung vorgestellt. In der Folgezeit wurde eine Vielzahl von Aufhebungsverträgen geschlossen, so dass die A-Behörde letztlich keine Kündigungen erklären musste.

Die 1957 geborene Klägerin schloss am 05.11.2009 einen Aufhebungsvertrag mit der A Behörde. Darin wurde vereinbart, dass das Arbeitsverhältnis zum 31.03.2010 beendet wird. Zugleich wurde die Klägerin mit sofortiger Wirkung von ihren vertraglichen Verpflichtungen freigestellt. Schließlich wurde Einvernehmen über die der Klägerin bis zur Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zustehenden Zahlungsansprüche erzielt. Danach erhielt die Klägerin eine Sozialplanabfindung in Höhe von 15.234,20 Euro brutto und eine sog. Expressabfindung in Höhe von 4.570,26 Euro brutto. Nach ihrer frühzeitigen Arbeitsuchendmeldung meldete sich die Klägerin am 26.01.2010 bei der Beklagten persönlich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld ab 01.04.2010. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte eine Stellungnahme der A Behörde ein, die angab, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin wäre ohne den Abschluss des Aufhebungsvertrags zum 30.06.2010 gekündigt worden. Zuvor wäre der Klägerin ein anderer Arbeitsplatz angeboten worden, was bis zum Abschluss des Aufhebungsvertrags noch nicht möglich gewesen sei. Mit Bescheid vom 07.04.2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin Arbeitslosengeld in Höhe von 17,65 Euro täglich für die Dauer von 450 Tagen ab dem 01.04.2010. In der Zeit vom 01.04.2010 bis 23.06.2010 ruhe der Anspruch indes wegen des Eintritts einer Sperrzeit, die mit gesondertem Bescheid vom 06.04.2010 festgestellt wurde. In der Zeit vom 01.04.2010 bis 23.09.2010 ruhe der Anspruch zudem wegen der von der A-Behörde an die Klägerin gezahlten Entlassungsentschädigung. Dazu wurde von der Beklagten mit gesondertem Bescheid vom 06.04.2010 darauf verwiesen, die A-Behörde habe der Klägerin nicht kündigen dürfen. Deshalb sei von einer fiktiven Kündigungsfrist von 18 Monaten auszugehen. Da diese Frist nicht eingehalten worden sei, sei die gezahlte Abfindung (zu 40 %) zu berücksichtigen, um den Ruhenszeitraum des Arbeitslosengeldes zu ermitteln. Gegen die genannten Bescheide erhob die Klägerin, vertreten durch ihre Bevollmächtigten, fristgerecht Widerspruch. Diesen stützte sie u. a. darauf, durch den Abschluss des Aufhebungsvertrags sei die andernfalls einzuhaltende Kündigungsfrist nicht verkürzt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.04.2010 wurde der Widerspruch gegen den Ruhensbescheid von der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung hat sie auf den besonderen tariflichen Kündigungsschutz der Klägerin verwiesen. Vor Ausspruch einer Kündigung habe der Klägerin von der A-Behörde zunächst ein anderer Arbeitsplatz angeboten werden müssen. Daran fehle es hier, so dass von einem zeitlich unbegrenzten Ausschluss der ordentlichen Kündigung auszugehen sei.

Dagegen hat die Klägerin, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten, am 02.06.2010 Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben, die zunächst unter dem Aktenzeichen S 8 AL 42/10 geführt worden ist. Dagegen ist der Sperrzeitbescheid der Beklagten vom 06.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2010 bestandskräftig geworden. Mit Änderungsbescheid vom 26.07.2010 hat die Beklagte den täglichen Leistungsbetrag des Arbeitslosengeldanspruchs der Klägerin für den gesamten Bewilligungszeitraum auf 17,79 Euro täglich angehoben. Nach dem geschäftsverteilungsplanmäßigen Zuständigkeitswechsel in die 2. Kammer hat diese mit Beschluss vom 27.02.2013 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Wiederaufruf ist der Rechtsstreit unter dem Aktenzeichen S 2 AL 5/15 fortgeführt worden.

Die Klägerin beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 06.04.2010 und 07.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2010 und des Änderungsbescheids vom 26.07.2010 aufzuheben, soweit darin das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 festgestellt worden ist und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch für diesen Zeitraum Arbeitslosengeld in Höhe von 17,79 Euro täglich zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung schriftlicher Auskünfte von der Geschäftsführung der A-Behörde und von deren Gesamtpersonalrat.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Bescheide der Beklagten vom 06.04.2010 und 07.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.04.2010 und des Änderungsbescheids vom 26.07.2010 waren insoweit aufzuheben, als darin das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 festgestellt worden ist. Insoweit sind die vorgenannten Verwaltungsakte rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von 17,79 Euro täglich auch für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010. Vor diesem Hintergrund bilden die Bescheide der Beklagten vom 06.04.2010 und 07.04.2010 eine rechtliche Einheit und sind beide Streitgegenstand des vorliegenden Klageverfahrens. Es handelt sich um eine einheitliche (ablehnende) Verwaltungsentscheidung über die Gewährung von Arbeitslosengeld in der Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010.

Als Rechtsgrundlage für das von der Beklagten festgestellte Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs der Klägerin kommt allein § 143a Abs. 1 S. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III) in der bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung (künftig: a.F.) in Betracht. Danach ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld vom Tag der Beendigung des Arbeitsverhältnisses an, wenn der Arbeitslose eine Abfindung erhalten hat und das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden ist. Die Klägerin hat von ihrer früheren Arbeitgeberin eine Abfindung erhalten. Beruht das Ende des Arbeitsverhältnisses wie hier auf dem Abschluss eines Aufhebungsvertrages, dann beginnt die vorgenannte Frist gemäß § 143a Abs. 1 S. 2 SGB III a.F. an dem Tag, an dem diese Vereinbarung geschlossen worden ist. Dies war hier der 05.11.2009. Die Kammer ist aufgrund der Angaben der A-Behörde in der (ergänzten) Arbeitsbescheinigung gemäß § 312 SGB III vom 05.07.2010 zu der Überzeugung gelangt, dass für das Arbeitsverhältnis der Klägerin seinerzeit eine arbeitgeberseitige Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende eines Quartals galt. Geht man von einer Arbeitgeberkündigung am 05.11.2009 aus, so hätte der Arbeitsvertrag danach zum 31.03.2010 gekündigt werden können. Dieses Datum entspricht dem im Aufhebungsvertrag vereinbarten Beendigungstag. Das Arbeitsverhältnis ist demnach nicht ohne Einhaltung einer der tatsächlichen ordentlichen Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden.

Etwas anderes ergibt sich entgegen der Rechtsansicht der Beklagten auch nicht daraus, dass im vorliegenden Fall eine fiktive Frist anzusetzen wäre.

Gemäß § 143a Abs. 1 S. 4 SGB III a.F. gilt eine fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr, wenn dem Arbeitnehmer nur bei Zahlung einer Entlassungsentschädigung ordentlich gekündigt werden kann. Dies ist nicht der Fall. Dementsprechend hat die A-Behörde eine diesbezügliche Frage in der Arbeitsbescheinigung vom 05.07.2010 verneint. Darauf stützt die Kammer ihre Überzeugungsbildung. Weder dem Gericht noch den Beteiligten ist eine Rechtsgrundlage bekannt geworden, aus der sich das Gegenteil entnehmen ließe.

Entgegen der Ansicht der Beklagten liegt auch kein Fall einer fiktiven Kündigungsfrist nach § 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. vor. Dieser greift nur ein, wenn die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ausgeschlossen war. Bei zeitlich unbegrenztem Ausschluss gilt dann eine Kündigungsfrist von 18 Monaten, bei zeitlich begrenztem Ausschluss oder bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine fristgebundene Kündigung aus wichtigem Grund gilt die Kündigungsfrist, die ohne den Ausschluss der ordentlichen Kündigung maßgebend gewesen wäre.

Im vorliegenden Fall war jedoch die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die frühere Arbeitgeberin der Klägerin nicht ausgeschlossen. Insofern verweist die Beklagte ohne Erfolg auf die Vorschriften des mit Schriftsatz vom 16.09.2010 vorgelegten Tarifvertrags über den Rationalisierungsschutz für Angestellte (RatSchTV Ang) vom 09.01.1987 in der Fassung vom 02.04.2002. Selbst wenn man davon ausgeht, dass dieser Tarifvertrag aufgrund der Verweisung in § 3 des Arbeitsvertrags der Klägerin, den diese in Kopie mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 02.08.2012 zur Gerichtsakte gereicht hat, Anwendung auf das Arbeitsverhältnis gefunden hat, lässt sich aus diesem Tarifvertrag doch kein Ausschluss der ordentlichen Kündigung im Sinne von § 143a Abs. 1 S. 3 Nr. 1 SGB III a.F. entnehmen. Die Beklagte stützt ihre Verwaltungsentscheidung auf den besonderen Kündigungsschutz nach § 5 Abs. 2 RatSchTV Ang. Danach darf eine Kündigung mit dem Ziel der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nur dann ausgesprochen werden, wenn dem Angestellten ein Arbeitsplatz nach § 3 Abs. 2-5 RatSchTV Ang nicht angeboten werden kann oder der Angestellte einen Arbeitsplatz entgegen § 3 Abs. 6 RatSchTV Ang nicht annimmt. Die damit in Bezug genommene Tarifklausel des § 3 RatSchTV Ang gilt der Arbeitsplatzsicherung. Danach ist der Arbeitgeber in erster Linie verpflichtet, den von einer Rationalisierungsmaßnahme betroffenen Angestellten einen mindestens gleichwertigen Arbeitsplatz anzubieten. Ist dies nicht möglich, ist dem Angestellten ein anderer Arbeitsplatz anzubieten. Gelingt auch dies nicht, ist der Arbeitgeber verpflichtet, sich um einen Arbeitsplatz bei einem anderen Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes an demselben Ort zu bemühen. Notfalls gilt diese Verpflichtung auch im Hinblick auf andere Arbeitgeber. Die Kammer hat den Gesamtpersonalrat und die Geschäftsführung der A Behörde zu diesem Prozedere befragt und ist im Ergebnis zu der Überzeugung gelangt, dass die vorgeschriebenen Schritte zur Arbeitsplatzsicherung (noch) nicht durchgeführt worden waren. Aufgrund der Zustimmung der Klägerin zum Aufhebungsvertrag vom 05.11.2009 sind derartige Bemühungen im Hinblick auf ihre Person auch obsolet geworden. Die Kammer ist jedoch der Ansicht, dass es der früheren Arbeitgeberin der Klägerin freigestanden hätte, diese vorgeschriebenen Schritte zur Arbeitsplatzsicherung noch durchzuführen, wenn die Klägerin dem Aufhebungsvertrag nicht zugestimmt hätte. Damit wäre auch nicht zwingend eine Verschiebung des Beendigungszeitpunkts des Arbeitsverhältnisses verbunden gewesen, da eine ordentliche fristgerechte Kündigung zum 31.03.2010 von der A-Behörde noch bis zum 31.12.2009 hätte ausgesprochen werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich aus den Vorschriften des RatSchTV Ang nach Ansicht der Kammer in keinem Fall ein zeitlich unbegrenzter Ausschluss der ordentlichen Kündigung entnehmen. Vielmehr war die Kündigungsmöglichkeit des § 5 Abs. 2 RatSchTV Ang lediglich an die vorherige Durchführung eines bestimmten Verfahrens gebunden. Demgegenüber zielt die Wendung "zeitlich unbegrenzt" auf einen Kündigungsausschluss bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze ab (dazu Henke, in Eicher/Schlegel, SGB III, § 143a Rn. 110 mit Hinweisen auf die höchstrichterliche Rechtsprechung). Einschlägig könnte demnach im vorliegenden Fall allenfalls § 143a Abs. 1 S. 3 Nr. 2 SGB III a.F. sein, wonach bei zeitlich begrenztem Ausschluss der Kündigung die reguläre Kündigungsfrist gilt. Diese ist indes nach dem oben Gesagten eingehalten worden.

Zumindest führen die Vorschriften des RatSchTV Ang jedoch nicht dazu, dass "die ordentliche Kündigung" des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber ausgeschlossen wird. Denn der besondere Kündigungsschutz des § 5 Abs. 2 RatSchTV Ang betrifft nach seinem Sinn und Zweck lediglich den Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen wegen Rationalisierungsmaßnahmen im Sinne von § 1 RatSchTV Ang. Eine Einschränkung der betriebsbedingten Kündigungsmöglichkeit des Arbeitgebers aus anderen Gründen ist der tariflichen Regelung ebenso wenig zu entnehmen wie eine Beschränkung der verhaltens- oder personenbedingten Kündigung. Wenn § 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. ganz generell voraussetzt, dass "die ordentliche Kündigung" des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen sein muss, dann sind von dieser Regelung nur Fälle erfasst, in denen für den Arbeitgeber jede Möglichkeit der ordentlichen Beendigungskündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen ist (ebenso zur Parallelvorschrift des § 143a Abs. 1 S. 4 SGB III a.F.: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.06.2012 – L 11 AL 30/09). Auch in den Gesetzesmaterialien ist ganz allgemein von Arbeitnehmern die Rede, "deren Kündigung dauernd ausgeschlossen ist"; die Regelung rechtfertige sich durch deren "außergewöhnlich starken Kündigungsschutz" (BT-Drucks. 9/799, S. 43). Daraus wird im Schrifttum geschlossen, es müsse sich um Arbeitnehmer handeln, "denen in keinem Fall ordentlich gekündigt werden kann" (so Henke, in Eicher/Schlegel, SGB III, § 143a Rn. 109).

Dabei handelt es sich um Fälle der sog. tariflichen Unkündbarkeit, wie sie sowohl im öffentlichen Dienst als auch in verschiedenen Branchen der Privatwirtschaft bei Erreichen eines bestimmten Alters und einer bestimmten Mindestbetriebszugehörigkeit tarifvertraglich vereinbart ist. Hintergrund der gesetzlichen Bestimmung einer fiktiven Kündigungsfrist ist in diesen Fällen, dass wegen der ordentlichen Unkündbarkeit des Arbeitnehmers für dessen Arbeitgeber gar keine Frist für die ordentliche Kündigung existiert. Diese Lücke wird sodann durch die Anwendung der fiktiven Frist von 18 Monaten ausgeglichen (vgl. Mutschler, in Kreikebohm/Spellbrink/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Aufl. 2011, § 143a SGB III Rn. 14). Dieser Regelungszweck kann indes im vorliegenden Fall gar nicht erreicht werden. Die Bestimmung einer fiktiven Kündigungsfrist ist hier nicht erforderlich, weil für das Arbeitsverhältnis der Klägerin die reguläre Kündigungsfrist von drei Monaten zum Ende eines Quartals galt. Zudem legt der Wortlaut des § 143a Abs. 1 S. 3 SGB III a.F. ein Verständnis nahe, wonach jede Form der ordentlichen Kündigung ausgeschlossen sein muss, also nicht nur die betriebsbedingte (Das Hess. LSG spricht insoweit in einem Urteil vom 21.08.2013 – L 6 AL 103/10 – juris Rn. 55 sogar von einem "klaren und eindeutigen Wortlaut der Vorschrift", lässt die Frage aber letztlich offen). Zumindest unter Berücksichtigung der Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 4 SGB I lässt sich die Vorschrift aber nur im Sinne der Klägerin verstehen. Einen solchen Status der tariflichen Unkündbarkeit hatte die Klägerin nach erst gut siebenjähriger Betriebszugehörigkeit noch nicht erreicht. Insofern unterscheidet sich der Fall im Tatsächlichen maßgebend von dem Sachverhalt, der dem Urteil des Hess. LSG vom 17.07.2015 – L 7 AL 41/14 – zugrundelag, auf das sich die Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung gestützt hat.

Nach Aufhebung des Ruhensbescheids der Beklagten war auch der Leistungsklage unter entsprechender Abänderung der Bewilligungsbescheide der Beklagten stattzugeben. Der Klägerin steht für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 ein (nach wie vor) durchsetzbarer Anspruch auf Arbeitslosengeld zu.

Die Klägerin erfüllte seinerzeit die anspruchsbegründenden Voraussetzungen. Sie war arbeitslos, hatte sich bereits am 26.01.2010 bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und durch ihre langjährige ununterbrochene versicherungspflichtige Beschäftigung bei der A-Behörde die Anwartschaftszeit erfüllt (§ 118 Abs. 1 SGB III a.F.). Was die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale des Rechtsbegriffs der Arbeitslosigkeit nach § 119 Abs. 1 SGB III a.F. (Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen, Verfügbarkeit) angeht, ergibt sich deren Vorliegen im streitgegenständlichen Zeitraum zumindest mit noch hinreichender Sicherheit aus der in Bezug genommenen Verwaltungsakte der Beklagten. Dort hat die Klägerin bei der Antragstellung entsprechende Angaben gemacht, die zur Überzeugung der Kammer der Realität entsprachen. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass sich hieran auch in der Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 nichts geändert hatte. Dafür spricht aus Sicht der Kammer auch, dass die Beklagte der Klägerin in der Folgezeit bis zur Erschöpfung der Anspruchsdauer Arbeitslosengeld geleistet hat.

Dem Zahlungsanspruch der Klägerin für die Zeit vom 24.06.2010 bis 23.09.2010 steht auch nicht die zwischenzeitliche Ausschöpfung der Gesamtanspruchsdauer des erworbenen Stammrechts (§ 127 SGB III a.F.) von 450 Tagen entgegen. Insofern folgt die Kammer der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach für einen Zeitraum, für den der Arbeitslose einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erworben hat, keine Minderung der Anspruchsdauer dadurch eintreten kann, dass die Bundesagentur für Arbeit später Arbeitslosengeld für andere Zeiträume zahlt (BSG, Urteil vom 17.12.2013 – B 11 AL 13/12 RBSGE 115, 106 ff.). Denn das Arbeitslosengeld ist eine Sozialversicherungsleistung, die in besonderer Weise zeitabhängig ist. Sie wird für bestimmte Kalendertage gewährt und hängt in Höhe und Dauer von den Gegebenheiten in einem bestimmten Zeitabschnitt ab (näher B. Schmidt, SozSich 2014, 414 ff.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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