S 2 SO 162/15 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 162/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die rückständigen, ungedeckten Heimkosten nebst der laufenden, ungedeckten Heimkosten an den Antragsteller zu Händen des Leistungserbringers nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu leisten. 2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Gründe:

I.
Der Antragsteller begehrt die Übernahme der offenen rückständigen und laufenden Heimkosten bei schon ausgesprochener Heimkündigung.

Der Antragsteller lebt in dem Wohnheim Sstraße 1 in I. Betreiber dieser Einrichtung ist die A J gGmbH. Bis Ende Januar 2014 war es dem Antragsteller noch möglich, die monatlichen Heimkosten in Höhe von ca. 4.240 Euro aus dem eigenen Einkommen und Vermögen zu tragen. Mittlerweile sind über 29.000 Euro offen. Die Kündigung des Heimplatzes wurde ausgesprochen.

Für die Einzelheiten wird auf die Antragsschrift vom 13.05.2015 Bezug genommen.

Die Beteiligten streiten darum, ob der Antragsteller aufgrund einer paranoiden Persönlichkeitsstörung der Eingliederungshilfe bedarf oder ob er hauptsächlich unter altersbedingter Demenz leide.

Der Antragsgegner hat sich im Verwaltungsverfahren dahin geäußert, der Antragsteller sei seinerzeit als Selbstzahler ohne fachlich Prüfung durch den örtlichen Sozialhilfeträger in die Wohngruppe eingezogen. Eine Zuordnung der hier bestehenden umfangreichen Hilfebedarfe, die alle Lebensbereiche beträfen, sei aus fachlicher Sicht nicht mehr dem Bereich der teilhabesichernden stationären Wohnhilfen auf der Grundlage der §§ 53 ff. SGB XII zuzuordnen. Wegen der unzweifelhaft bestehenden altersbedingten Demenz sei es kaum möglich, die hier vorliegenden Aufsichts- und Kontrollbedarfe gerade auch unter Berücksichtigung des voranschreitenden Alters des Antragstellers nicht auch der dementiellen Entwicklung zuzuordnen. Die Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionspotentiale usw. seien typische Symptome einer Demenz. Für die Einzelheiten wird auf das verwaltungsinterne Schreiben des Antragsgegners vom 18.07.2014 Bezug genommen.

Der Antragsteller begehrt nun einstweiligen Rechtsschutz, nachdem sein Antrag auf Eingliederungshilfe vom 31.01.2014 noch nicht beschieden wurde.

Der Antragsteller beantragt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes,

die Kosten für die Heimunterbringung des Antragstellers zu übernehmen.

Der Antragsgegner hat sich binnen der gesetzten Frist nicht geäußert und auch nicht die Verwaltungsakten übersandt.

Der Antragsteller hat nun am heutigen Tage auf gerichtliche Aufforderung drei Gutachten, die anlässlich von amtsgerichtlichen Betreuungsverfahren erstellt wurden, vorgelegt, wonach der Antragsteller unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung leidet. Auf den Inhalt der drei Gutachten wird für die Einzelheiten Bezug genommen.

Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Verfahrensakte S 2 SO 162/15 ER Bezug genommen.

II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Hiervon ausgehend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund in Bezug auf die aus dem Tenor angeordnete Leistung gemäß § 53 ff. SGB XII glaubhaft gemacht.

Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten gemäß § 53 Abs.1 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Von einer Behinderung bedroht sind gemäß § 53 Abs. 2 SGB XII Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß § 53 Abs. 3 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Für die Leistungen zur Teilhabe gelten gemäß § 53 Abs. 4 SGB XII die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus diesem Buch und den auf Grund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Voraussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach diesem Buch.

Der Ausgang eines Klageverfahrens ist für das Gericht abschließend ungewiss. Im Rahmen der Interessen und Rechtsfolgenabwägung ist der bisherige status quo zu erhalten. Der Antragsteller leidet zur Überzeugung des Gerichts bereits langjährig unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Dies ergibt sich aus den nervenfachärztlichen Gutachten von Dr. O vom 19.11.2009, Dr. S vom 05.07.2010 und von Dr. S vom 15.08.2011.

Angesichts dieser ganz erheblichen nervenfachärztlichen Erkrankung ist dem Antragsteller ein Auszug aus der Wohngemeinschaft erst dann zumutbar, wenn er zweifelsfrei dort nicht zutreffend untergebracht worden ist. Solange der Antragsteller hingegen dort sein möchte, sprechen die bisherigen Diagnosen der paranoiden Persönlichkeitsstörung, welche eine schwere nervenfachärztliche Erkrankung darstellt, dafür, dass die bei dem Antragssteller beobachteten Verhaltensauffälligkeiten vor allem auf dieser Grunderkrankung beruhen. Die paranoide Persönlichkeitsstörung führt zu einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber jedem und jeder Veränderung. Folge ist vielfach aggressives Verhalten. Insofern ist es jedenfalls bei summarischer Prüfung vom Schreibtisch aus ohne dass eine Beweisaufnahme durchgeführt werden kann, nicht überzeugend, dass diese Auffälligkeiten nun auf einer Altersdemenz und nicht mehr auf der paranoiden Persönlichkeitsstörung beruhen sollen. Offenbar hat der Antragsteller in der dortigen Wohngruppe seinen Platz dergestalt gefunden, dass alle mit der Grunderkrankung dort umgehen können. Dieser status quo darf im Sinne einer Rechtsfolgenabwägung nicht gefährdet werden, da bei einer schweren nervenfachärztlichen Erkrankung wie der paranoiden Persönlichkeitsstörung Ansprüche auf Eingliederungshilfe nach § 53 ff. SGB XII jedenfalls nicht unwahrscheinlich sind. Gerade ein Mensch mit paranoider Erkrankung würde nicht verstehen können, warum er aus dem Heim, wo es ihm doch offenbar gut geht, nun jedenfalls vorläufig ausziehen müsse. Das soziale Umfeld und das Wohnumfeld sind hier nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten. Die Kündigung des Heimplatzes kann nach § 12 Abs. 3 S. 3 des Gesetzes zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- und Betreuungsleistungen (WBVG) nur noch durch Befriedigung des Leistungserbringers hinsichtlich der fälligen Entgelte abgewendet werden.
Rechtskraft
Aus
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