S 2 SO 273/15 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 273/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für den Besuch der J-Schule in T ganztägig einen pädagogisch geschulten Integrationshelfer über die bewilligten Stunden des Schwimmunterrichts hinaus bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 21.07.2015 sowie eines sich ggfs. anschließenden Klageverfahrens zu bewilligen. Jede Seite trägt die eigenen Kosten des gerichtlichen Eilverfahrens.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Bewilligung eines Integrationshelfers für den Besuch der Grundschule.

Die am 00.00.2008 geborene Antragstellerin besucht ab dem 05.09.2015 die Grundschule. Sie geht auf die J-Schule in T, eine staatlich anerkannte Ersatzschule in freier Trägerschaft.

Die Antragstellerin leidet unter gelegentlichen epileptischen Anfällen, die unregelmäßig auftreten. Ein Förderbedarf besteht nicht. Die Antragstellerin trägt durch ihre Eltern vor, sie könne sich wegen ihrer Erkrankung nur für einen kurzen Zeitraum konzentrieren. Sie müsse zu den ihr gestellten und für sie lösbaren Aufgaben regelmäßig angehalten werden. Sie benötige dringend eine schulische Hilfskraft bzw. Begleitung, die ihr auch bei einem plötzlich auftretenden Krampfanfall die notwendige Medikation verabreichen könne.

Die beantragte Leistung sei mit Bescheid vom 21.07.2015 abgelehnt worden. Die Antragstellerin rechne nicht mehr mit einem Erfolg des von ihr am 03.08.2015 erhobenen Widerspruchs.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner zu verpflichten, ihr vorläufig für den Besuch der J-Schule in T ganztägig einen pädagogisch geschulten Integrationshelfer über die bewilligten Stunden des Schwimmunterrichts hinaus zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Antragstellerin leide an einer Form der Epilepsie mit Anfällen, die sich in vorübergehender Abwesenheit, einer "träumenden Phase" von ca. 30-90 Sekunden Dauer, zeigten. Die Antragstellerin verkrampfe sich bei den Anfällen nicht und habe auch keine Tendenz zum Fallen. Die Anfälle träten durchschnittlich etwa alle zwei Monate auf. Daneben habe die Antragstellerin keine kognitiven oder sensitiven Einschränkungen, neige aber zu motorischer Unruhe und Konzentrationsschwäche. Nach Begutachtung durch das Gesundheitsamt sei die Begleitung der Antragstellerin während der regelmäßigen Unterrichtsstunden nicht erforderlich, da das seltene Auftreten eines Krampfanfalls keine Lebensbedrohung auslöse und von dem Lehrpersonal ebenso gehandhabt werden könne wie plötzliche Erkrankungen anderer Schüler. Für den Schwimmunterricht werde ein Integrationshelfer vom Antragsgegner gestellt. Eine Begleitung für die nicht in der Körperbehinderung begründeten Bedarfe - etwa zur Motivation und Ansprache der Antragstellerin - fielen hingegen in den Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule. Hier müsse die Schule für das notwendige Personal sorgen und die individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler abdecken.

Die Antragstellerin wendet dagegen ein, es handele sich um einen progressiven Verlauf der Krankheit. Sie leide unter der Rasmussen-Encephalitis. Ein Anfall könne sich in einer reinen Absence erschöpfen, es sei aber auch möglich und bereits geschehen, dass es zu starkem Krampfen bis hin zur Bewusstlosigkeit komme, es also zu fokalen oder generalisierenden Anfällen bis zum status epilepticus komme. Dass Krampfanfälle grundsätzlich keine Lebensbedrohung auslösten, sei so nicht korrekt, bei einem ungünstigen Verlauf sei dies durchaus möglich.

Im Übrigen wird für die Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Akte des Verwaltungsverfahrens, die bei der Entscheidung vorgelegen haben.

II.

Der zulässige Antrag ist begründet. Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 86b Abs. 1 SGG auf Antrag ( ...) 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Bestimmung kommt auch zur Anwendung, wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung nicht beachtet, also die aufschiebende Wirkung festgestellt werden muss (Meyer-Ladewig-Keller, Kommentar zum SGG § 86b Rdnr. 5 und 15). Gemäß § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines bestehenden Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind gemäß §§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens bedarf es einer Interessenabwägung, ob dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

Im vorliegenden Fall geht die Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus. Denn Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten gemäß § 53 Abs. 1 SGB XII Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung können Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten. Von einer Behinderung bedroht sind gemäß § 53 Abs. 2 SGB XII Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Dies gilt für Personen, für die vorbeugende Gesundheitshilfe und Hilfe bei Krankheit nach den §§ 47 und 48 erforderlich ist, nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß § 53 Abs. 3 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen. Für die Leistungen zur Teilhabe gelten gemäß § 53 Abs. 4 SGB XII die Vorschriften des Neunten Buches, soweit sich aus diesem Buch und den auf Grund dieses Buches erlassenen Rechtsverordnungen nichts Abweichendes ergibt. Die Zuständigkeit und die Vo-raussetzungen für die Leistungen zur Teilhabe richten sich nach diesem Buch.

Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des Neunten Buches gemäß § 54 Abs. 1 SGB XII insbesondere 1. Hilfen zu einer an-gemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt, 2. Hilfe zur schulischen Ausbildung für einen angemessenen Beruf einschließlich des Besuchs einer Hochschule, 3. Hilfe zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit, 4. Hilfe in vergleichbaren sonstigen Beschäftigungsstätten nach § 56, 5. nachgehende Hilfe zur Sicherung der Wirksamkeit der ärztlichen und ärztlich verordneten Leistungen und zur Sicherung der Teilhabe der behinderten Menschen am Arbeitsleben. Die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entsprechen jeweils den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Bundesagentur für Arbeit.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe zu einer angemessenen Schulbildung könnten hier erfüllt sind. Dies bedarf letztlich jedoch einer Beweisaufnahme, die einem Klageverfahren vorbehalten ist. Die Interessenabwägung nach Aktenlage fällt angesichts der Ungewissheit des Ausgangs der Beweisaufnahme hier zugunsten der Antragstellerin aus. Denn die Kosten der erbrachten Leistung können gegebenenfalls zurückgefordert werden, die Leistung selbst kann hingegen nicht nachgeholt werden. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist offen. Jedenfalls spricht nicht mehr gegen einen Klageerfolg als für einen Klageerfolg.

Gegen die Erforderlichkeit eines Integrationshelfers und damit gegen einen Klageerfolg könnte hier zunächst sprechen, dass sich vielleicht auch andere Kinder schlecht konzentrieren können und dies der gewöhnlichen Bandbreite unterschiedlich aufmerksamer Schüler entsprechen könnte. Ferner treten die Anfälle aufgrund der Epilepsieerkrankung nur gelegentlich, nämlich bisher ungefähr alle zwei Monate, auf und es ist nicht einmal gewiss, ob dies während der Schulzeit oder in der Freizeit zuhause oder sonst wo geschieht. Ferner könnte dagegen sprechen, dass die Anfälle jedenfalls bisher glimpflich im Sinne reiner Absencen ohne lebensbedrohliche Situation verlaufen sind. Ferner könnte im Rahmen der Abwägung auch zu überlegen sein, inwieweit das Dazwischenschalten eines Integrationshelfers den sozialen Kontakt zu anderen Mitschülern vielleicht sogar erschwert und ob dies hier im Rahmen einer Abwägung zwischen Mut zur Normalität (im Sinne iden-tischen Verhaltens zu vollkommen gesunden Kindern) und dem Beschützen vor den besonderen Gefahren sinnvoll ist.

Für die Erforderlichkeit des Integrationshelfers und damit für einen Klageerfolg spricht andererseits, dass die Abwägung, wie viel Mut zur Normalität im oben genannten Sinne richtig ist, letztlich den Eltern als Erziehungsberechtigten zusteht. Es handelt sich dabei beinahe um eine weltanschaulich, philosophische Frage, auf die der Zeitgeist der Inklusion und die gesetzlichen Regelungen bisher weder eine präzise Antwort noch eine echte Hilfestellung geben. Bisher ist die Inklusion vielfach eher ein Programmsatz als eine ausgefeilte gesellschaftliche, pädagogische Methode mit darauf zugeschnittenen rechtlichen Strukturen. Es gibt hierzu bisher auch keine langen Erfahrungen als Orientierungshilfe, da die Inklusion noch neu ist. Diese Ungewissheit in den Abwägungsprozessen trifft Eltern, Lehrer, Mitarbeiter in den Behörden und Richter gleichermaßen.

Für die Erforderlichkeit spricht ferner, dass man letztlich auch der Person des Klassenlehrers keine zusätzliche Pflicht, nun über den medizinischen Zustand eines Kindes über das allgemeine Lebensrisiko hinaus zu wachen, mangels entsprechender medizinischer Ausbildung auferlegen kann. Wenn Lehrer diese Verantwortung im Einzelfall freiwillig übernehmen, ist dies das Eine und verdient Bewunderung, ihnen dies als Pflicht aufzuerlegen, ist hingegen nicht möglich. Diese Verantwortung kann nur auf freiwilliger Basis und nach Aufbau von Vertrauen im Alltag freiwillig übernommen werden. Der Träger der Versorgung der behinderten Menschen kann sich auf diese Möglichkeit, der Klassenlehrer könne ja über die besondere gesundheitliche Situation wachen, jedenfalls bei Behinderungen, die sich plötzlich und unerwartet zu einer akuten lebensbedrohlichen Situation verschärfen können, nicht im Sinne der Subsidiarität berufen. Und letztlich darf die Ungewissheit auf dem Neuland der Inklusion bei gleichzeitigem Zurückfahren der Förderschulen nicht zu Lasten der behinderten Kinder gehen, deren Weichen für das gesamte spätere Leben durch das Versagen oder Gewähren von Leistungen hier gestellt werden.

Deshalb ist hier angesichts der möglichen auch schweren Epilepsieanfälle und der dargelegten Konzentrationsschwäche, bei der jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass sie auf der Behinderung der Antragstellerin beruht, vorläufig ein Integrationshelfer zu stellen. Es wird sich dann zukünftig vielleicht auch aus den gewonnenen Erfahrungen im Einzelfall zeigen, ob dieser in weiteren Schuljahren erforderlich sein wird oder nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist und die hiesige Entscheidung lediglich auf einer Rechtsfolgenabwägung beruht. Einen Rechtsanwalt hat die Antragstellerin ohnehin nicht bemüht. Gerichtskosten sind für die Beteiligten nicht angefallen.
Rechtskraft
Aus
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