L 2 R 73/16 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 3226/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 73/16 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Dezember 2015 wird aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, einstweilen die Kosten für die Aufnahme des Antragstellers im Berufsbildungsbereich der M. Werkstätten ab dem 9. Dezember 2015 und längstens bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu tragen.

Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Antrags- und im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten der Sache nach über die einstweilige Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben im Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) bei den M. W.

Der 1963 geborene Antragsteller besuchte die Förderschule und war nach seinen Angaben von 1985 bis 2013 als Gärtnergehilfe beschäftigt. Am 24. Juni 2015 beantragte er die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Kostenübernahme für die Teilnahme im Berufsbildungsbereich (dreimonatiges Eingangsverfahren, bei positivem Verlauf anschließend zweijährige Berufsbildungsmaßnahme) in den M. W. Seit 9. Juni 2015 nimmt der Antragsteller an der Maßnahme teil. Im Antrag, den die M. W. für den Antragsteller stellten, wurde ausgeführt, dass die Beantragung bei der Antragsgegnerin erst "jetzt" möglich sei, nachdem ein diesbezüglich abschlägiger Bescheid der Agentur für Arbeit ergangen sei. Der Antragsteller bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Antragsgegnerin.

Mit der Antragstellung lagen der Antragsgegnerin der Arztbrief der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kreiskrankenhauses S. vom 7. November 2013 vor, wonach der Antragsteller an einer organischen wahnhaften (schizophrenieformen) Störung, einer leichten Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung und sonstigen alkoholbedingten psychiatrischen und Verhaltensstörungen leidet. Weiterhin lag der Antragsgegnerin die Praktikumsbeurteilung der M. W. vom 22. April 2015 über ein Praktikum des Antragstellers in den Werkstätten vom 14. bis 17. April 2015 vor. Darin wird die Auffassung vertreten, das Durchlaufen des Berufsbildungsbereichs stelle für den Antragsteller eine geeignete Maßnahme dar, um eine zielgerichtete arbeitsbezogene Förderung erhalten zu können und mit dieser auch zu einer positiven Gesamtentwicklung beizutragen. Er sei voraussichtlich nach Abschluss des Berufsbildungsbereichs in der Lage, mehr als ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Die Antragsgegnerin veranlasste die beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. R. vom 6. Juli 2015. Darin wird die Auffassung vertreten, der Antragsteller bedürfe keines Berufsbildungsbereichs.

Mit Bescheid vom 15. Juli 2015 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag mit der Begründung ab, es bedürfe bei den in den ärztlichen Unterlagen geschilderten Verhältnissen keines Berufsbildungsbereichs. Die früher ausgeübte Erwerbstätigkeit sei als eine unter den Bedingungen eines geschützten Arbeitsplatzes anzunehmen. Eine wesentliche Besserung des Leistungsvermögens sei durch eine entsprechende Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht zu erwarten, da der Antragsteller bereits eine unbefristete Erwerbsminderungsrente beziehe.

Am 30. Juli 2015 legten die M. W. im Namen des Antragstellers Widerspruch ein. Es bedürfe der beantragten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit dem Ziel eines späteren dauerhaft beschützten Arbeitsverhältnisses in einer W. Vorgelegt wurde u.a. die ärztliche Bescheinigung der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kreiskrankenhauses S. vom 5. Februar 2015, in der dieselben Diagnosen wie im Arztbrief vom 7. November 2013 genannt wurden und in der ausgeführt wurde, der Antragsteller sei seit langem alkoholabstinent. Weiter wurde das Schreiben der Betreuerin des Antragstellers M. vom 27. Juli 2015 vorgelegt, wonach der Antragsteller in einem ganz normalen Arbeitsverhältnis bei der Firma G. S. als Gärtnergehilfe von 1985 bis 2013 beschäftigt gewesen sei. Der Widerspruch wurde nach Einholung einer weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 7. September 2015 mit Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 2015 zurückgewiesen. Ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung könne vom Antragsteller momentan nicht erbracht werden.

Am 19. November 2015 hat der Antragsteller Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben.

Am 9. Dezember 2015 hat er einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG gestellt. Er hat vorgetragen, er habe vom 14. bis 17. April 2015 ein Praktikum in den M. Werkstätten absolviert; dies sei durchweg positiv beurteilt worden. Seit 9. Juni 2015 werde er in den M. Werkstätten betreut, was zeige, dass er werkstattfähig sei. Er sei in der Lage, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen bei den diesbezüglich anzunehmenden niedrigen Anforderungen. Der Antragsteller hat noch ein Schreiben der M. Werkstätten vom 30. November 2015 vorgelegt, wonach der Antragsteller seit 9. Juni 2015 professionell ohne Kostenbewilligung in den Werkstätten betreut werde; bis heute liege keine Kostenbewilligung für den Berufsbildungsbereich vor. Der Antragsteller könne deshalb nur noch bis 31. Dezember 2015 betreut werden.

Die Antragsgegnerin hat die Auffassung vertreten, es sei nicht zu erkennen, warum hier eine dringliche Notlage vorliegen sollte, die eine sofortige Entscheidung erforderlich mache. Soweit als möglich sollte es vermieden werden, vollendete Tatsachen zu schaffen, die dann, wenn sich dies bei richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweise, nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Seit 1. Dezember 2014 beziehe der Antragsteller eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer.

Mit Beschluss vom 18. Dezember 2015 hat das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Frage, ob der Antragsteller Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Übernahme der Kosten für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich der W. habe, sei offen. Hierzu sei voraussichtlich Sachaufklärung im Hauptsacheverfahren erforderlich. Zwar werde in der Praktikumsbeurteilung der M. Werkstätten grundsätzlich eine positive Beurteilung vorgenommen. Andererseits werde in den von der Antragsgegnerin veranlassten beratungsärztlichen Stellungnahmen eine Teilnahme am Berufsbildungsbereich der Werkstatt für behinderte Menschen nicht befürwortet. Angesichts dieser Sachlage sei im Hauptsacheverfahren voraussichtlich die Durchführung weiterer Ermittlungen erforderlich. Die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren seien als offen zu bezeichnen. Die notwendige Interessenabwägung ergäbe, dass dem Antragsteller ein Zuwarten bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren zuzumuten sei. Der Umstand, dass ohne Kostenzusage bereits eine Teilnahme begonnen worden sei, könne unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles angesichts des grundsätzlichen Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache nicht dazu führen, dass eine vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung der Maßnahme im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu erfolgen habe.

Gegen den dem Bevollmächtigten des Antragstellers gegen Empfangsbekenntnis am 18. Dezember 2015 zugestellten Beschluss hat er am 11. Januar 2016 schriftlich beim Landessozialgericht Beschwerde eingelegt und sein Vorbringen wiederholt und vertieft.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 18. Dezember 2015 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, einstweilen die Kosten des Besuchs des Antragstellers des Eingangsverfahrens und des Berufsbildungsbereichs der W. der M. Werkstätten bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Der Senat hat bei den M. Werkstätten noch die Stellungnahme vom 25. Januar 2016 eingeholt. Danach sei der Antragsteller am 9. Juni 2015 in das Eingangsverfahren der M. Werkstätten aufgenommen worden; seit 24. August 2015 befinde er sich im Berufsbildungsbereich, in dem er an der Qualifizierung und den Praktikumseinheiten in der Landwirtschaft teilnehme. Er habe sich in dieser Zeit persönlich gefestigt und gut in die Gruppe eingefügt. Der Antragsteller sei nicht wie ursprünglich angekündigt am 31. Dezember 2015 entlassen worden, nachdem Beschwerde gegen den Beschluss des SG eingelegt worden sei; es werde der Ausgang des Beschwerdeverfahrens abgewartet. Ein Abbruch der Maßnahme würde die aktuelle Entwicklung des Antragstellers stark beeinträchtigen und zudem auch den Auszug aus dem Wohnbereich mit sich bringen, da der Antragsteller dort in den Zeiten der Tagesstruktur nicht betreut werden könne. Deshalb sei eine "Wiederaufnahme" bei zunächst erfolgender Entlassung aus der Maßnahme als sehr schwierig einzustufen und es sei nicht abzusehen, wie der Antragsteller mit diesen einschneidenden Erfahrungen umgehen werde. Eine weitere Betreuung jedoch über einen längeren Zeitraum ohne Kostenzusage sei nicht möglich.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin (ein Band) und die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Die zulässige, insbesondere statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers (§§ 172 Abs. 1 und 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist begründet.

Das SG hat zu Unrecht den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt; sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund sind gegeben.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).

Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustandes geht (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG), nur eine Regelungsanordnung nach 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B -). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG - NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz unter Umständen nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach-und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen. Maßgeblich für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl. Beschlüsse des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. August 2005 a.a.O. und vom 17. August 2005 a.a.O.).

Aufgrund der vorliegend gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage und der anzustellenden Interessenabwägung ist zunächst von einem glaubhaft gemachten Anordnungsanspruch des Antragstellers auf Übernahme der Kosten des Besuchs des Berufsbildungsbereichs der M. Werkstätten auszugehen.

Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden (1.) und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern (2.).

Nach § 9 Abs. 2 SGB VI können die Leistungen nach Abs. 1 erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

Gemäß § 39 des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) werden Leistungen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (§ 136) erbracht, um die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der behinderten Menschen zu erhalten, zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern.

Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache hängen davon ab, ob der Antragsteller nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich dazu in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen oder ob ihm die "Werkstattfähigkeit" abzusprechen ist. Diese Frage ist aufgrund der derzeit vorhandenen Unterlagen zugunsten des Antragstellers eher zu bejahen.

Gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX erhalten behinderte Menschen Leistungen im Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen, wenn die Leistungen erforderlich sind, um die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit des behinderten Menschen soweit wie möglich zu entwickeln, zu verbessern oder wiederherzustellen und erwartet werden kann, dass der behinderte Mensch nach Teilnahme an diesen Leistungen in der Lage ist, wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Sinne des § 136 SGB IX zu erbringen.

Nach § 136 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ist der Zugang zu einer Werkstatt für behinderte Menschen eröffnet, sofern erwartet werden kann, dass sie spätestens nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen werden. Dies ist nicht der Fall bei behinderten Menschen, bei denen trotz einer der Behinderung angemessenen Betreuung eine erhebliche Selbst- oder Fremdgefährdung zu erwarten ist oder das Ausmaß der erforderlichen Betreuung und Pflege die Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich oder sonstige Umstände ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung im Arbeitsbereich dauerhaft nicht zulassen.

Auch das SGB IX - wie schon die Vorgängerregelung des Schwerbehindertengesetzes in § 54 Abs. 2 SchwbG - hält damit an dem Ansatz fest, dass nur solche behinderten Menschen in W. aufgenommen werden, bei denen eine entsprechende positive Prognose gestellt werden kann. Die Prognose ist an den Zielen der beruflichen Integrationsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder im Bereich der beschützten Werkstatt orientiert. Behinderte Menschen, die in diesem Sinne nicht "werkstattfähig" sind, werden von den Werkstätten gezielt ferngehalten. Die Feststellung dieser "Werkstattfähigkeit" obliegt dabei nach allgemeinen Grundsätzen dem Rehabilitationsträger im Rahmen seiner Verpflichtung zur umfassenden - und neutralen - Sachaufklärung (§ 20 Abs. 1, 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -). Nach der Praktikumsbeurteilung der M. Werkstätten vom 22. April 2015 des vom Antragsteller vom 14. bis 17. April 2015 dort absolvierten Praktikums ist die "Werkstattfähigkeit" des Antragstellers zu bejahen. Im Rahmen der im Praktikum vom Antragsteller durchgeführten Tätigkeiten wird dort wiedergegeben, dass bei all diesen verschiedenen Tätigkeiten der Antragsteller durchweg eine gute Motivation und Bereitschaft zeigte, mitzuarbeiten, und sich auch anleiten zu lassen; sein handwerklich-motorisches Geschick konnte er unter Beweis stellen. Der Antragsteller äußerte insgesamt eine positive Arbeitshaltung und Einstellung, auch gegenüber der Maßnahme des Berufsbildungsbereichs. Er führte qualitativ meist ordentliche Arbeiten aus. Gemessen an der Klientel im Berufsbildungsbereich liegen nach diesem Bericht die arbeitsbezogenen Fähigkeiten des Antragstellers im mittleren Segment und können bei ausdauerndem Training möglicherweise weiter ausgebaut und optimiert werden. Das Arbeitstempo des Antragstellers bewegt sich im unteren Durchschnitt; die geforderte Qualität wurde vom Antragsteller bei den ihm aufgetragenen Arbeiten zumeist erfüllt. In der Zusammenfassung und Empfehlung in der Praktikumsbeurteilung wird ausgeführt, dass der Antragsteller in der Lage wäre, den Berufsbildungsbereich zu absolvieren und dem Unterrichtsgeschehen zu folgen; er sei voraussichtlich nach Abschluss des Berufsbildungsbereichs in der Lage, mehr als ein "Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" zu erbringen. Umstände, die der danach vorliegenden "Werkstattfähigkeit" des Antragstellers widersprechen, ergeben sich im Übrigen weder aus der ärztlichen Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B. vom 30. Juli 2015 oder den beiden ärztlichen Berichten der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kreiskrankenhauses S. vom 7. November 2013 bzw. 5. Februar 2015.

Die gegenteilige Auffassung der Antragsgegnerin zum Nichtvorliegen der "Werkstattfähigkeit" des Antragstellers ist im Rahmen der gegebenen summarischen Prüfung nicht geeignet, die diesbezüglich positive Prognose nach der Praktikumsbeurteilung der M. Werkstätten in Zweifel zu ziehen. Sie begründet ihre diesbezügliche Auffassung im Bescheid vom 15. Juli 2015 damit, dass eine wesentliche Besserung des Leistungsvermögens des Antragstellers durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben schon deshalb nicht zu erwarten sei, da er bereits eine unbefristete Rente wegen Erwerbsminderung beziehe. In diesem Sinne verneint sie auch im Widerspruchsbescheid vom 21. Oktober 2015 die "Werkstattfähigkeit" des Antragstellers unter Heranziehung des § 12 SGB VI, wonach Personen, die dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschieden seien und entsprechende Leistungen bezögen, die Zielvoraussetzungen für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach dem SGB VI nicht mehr erfüllten. Damit dürfte die Antragsgegnerin auf § 12 Abs. 1 Nr. 4a SGB VI abheben, wonach ältere Versicherte, die bereits dauerhaft aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und durch Lohnersatzleistungen auf die Altersrente hingeführt werden, von Reha-Leistungen ausgeschlossen sind. Die gesetzliche Rentenversicherung soll - so der Zweck dieser gesetzlichen Regelung - keine Reha-Leistungen an Versicherte erbringen, die eine Leistung beziehen, die regelmäßig bis zum Beginn des Bezugs einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt wird. Bei diesem Personenkreis kann nämlich die Aufgabe der Reha - durch Einwirken auf die Erwerbsfähigkeit das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern - nicht mehr erfüllt werden. Gerade nicht ausgeschlossen bzw. erfasst von dieser Vorschrift sind jedoch Bezieher von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, da es gerade der Zweck von Rehaleistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung ist, die Zahlung solcher Renten zu vermeiden oder jedenfalls einzuschränken (vgl. Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 12 SGB VI Rdnr. 15c). Im Übrigen ist den beiden beratungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. R. vom 6. Juli 2015 und 7. September 2015 gerade nicht zu entnehmen, dass er von "Werkstattunfähigkeit" des Antragstellers insoweit ausgeht, als von ihm ein "Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" nicht mehr erbracht werden kann. Dr. R. hebt nämlich in seinen Stellungnahmen darauf ab, dass der Antragsteller trotz seiner Erkrankungen ca. drei Jahrzehnte lang einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt - eventuell in einem beschützten Rahmen - habe nachkommen können, weshalb Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in einer W. ungeeignet seien für eine Besserung des Leistungsvermögens. Der Eingangsbereich und der Berufsbildungsbereich einer W. lägen "unter dem Niveau", über das der Antragsteller aufgrund seiner früheren Erwerbstätigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt bereits verfüge; er könne ohne eine Maßnahme in den Arbeitsbereich einer W. aufgenommen werden. Diesen Ausführungen zufolge geht also Dr. R. sehr wohl davon aus, dass der Antragsteller in der Lage ist, ein "Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung" zu erbringen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Prognose der "Werkstattfähigkeit" ausgerichtet ist an den Zielen der beruflichen Integrationsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt oder im Bereich der beschützten Werkstatt; die "Werkstattfähigkeit" des Antragstellers ist somit nicht ausschließlich mit Blick auf den ersten Arbeitsmarkt zu beurteilen.

Anhaltspunkte für eine Selbst- oder Fremdgefährdung des Antragstellers sind nicht ersichtlich. Aus den vorliegenden Unterlagen - Praktikumsbeurteilung der M. Werkstätten und deren Stellungnahme vom 25. Januar 2016 - folgt, dass der Antragsteller gut innerhalb der Gruppe mitarbeitet, sich insgesamt während der Arbeitszeit ruhig verhält und sich insgesamt seit Aufnahme in den Berufsbildungsbereich persönlich gefestigt und gut in die Gruppe eingefügt hat.

Die vom Senat auf der Grundlage der im Verwaltungsverfahren und im einstweiligen Rechtsschutzverfahren angefallenen Unterlagen gewonnene Auffassung wäre allenfalls nach Durchführung weiterer umfangreicher Ermittlungen theoretisch zu verändern. An der Durchführung solcher Ermittlungen fehlt es bislang allerdings. Das vorliegende Eilverfahren ist nicht der geeignete Ort zur Durchführung umfangreicher tatsächlicher Ermittlungen, da andernfalls keine schnelle Entscheidung möglich wäre.

Der Senat geht weiterhin auch von der glaubhaft gemachten Eilbedürftigkeit des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens aus. Seit 24. August 2015 befindet sich der Antragsteller im Berufsbildungsbereich, in dem er an der Qualifizierung und den Praktikumseinheiten in der Landwirtschaft der M. Werkstätten teilnimmt. Diese haben mitgeteilt, dass sich der Antragsteller seit dieser Zeit persönlich gefestigt und gut in die Gruppe eingefügt hat. Nach Einschätzung der M. Werkstätten, die sich der Senat zu eigen macht, würde ein Abbruch der Maßnahme die aktuelle Entwicklung des Antragstellers stark beeinträchtigen und auch den Auszug aus dem Wohnbereich mit sich bringen, da der Antragsteller dort in den Zeiten der Tagesstruktur nicht betreut werden kann. Eine "Wiederaufnahme" nach - vorübergehender - Unterbrechung der Maßnahme würde sich nach Auffassung der M. Werkstätten als sehr schwierig erweisen und es ist nicht absehbar, wie der Antragsteller mit dieser "einschneidenden Erfahrung" umgehen würde. Weiterhin haben die M. Werkstätten klargestellt, dass eine weitere Betreuung des Antragstellers ohne Kostenzusage nicht fortgesetzt werden wird.

Der Senat verkennt nicht, dass bei der Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wie vorliegend - einstweilige Kostenübernahme der Reha-Maßnahme Besuch des Berufsbildungsbereichs einer W. - an den Anordnungsgrund besonders hohe Anforderungen zu stellen sind, weil die begehrte Anordnung praktisch eine Vorwegnahme der Hauptsache bedeutet. Allerdings sieht der Senat vorliegend diese hohen Anforderungen an das Vorliegen des Anordnungsgrundes deswegen als erfüllt an, weil der Antragsteller zum einen schon seit längerer Zeit (24. August 2015) in den Berufsbildungsbereich der M. Werkstätten aufgenommen ist, nach den dem Senat zur Verfügung stehenden Unterlagen insoweit - bislang jedenfalls - von einer erfolgreichen Teilnahme im Berufsbildungsbereich auszugehen ist und insgesamt nach summarischer Prüfung der dem Senat zur Verfügung stehenden Unterlagen im Eilrechtsschutzverfahren ein Erfolg des Hauptsacheverfahrens deutlich wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg.

Ob der Antragsteller vor dem Antrag bei der Antragsgegnerin die begehrte Reha-Leistung auch bei der Bundesagentur für Arbeit beantragt hat - der Antrag der M. Werkstätten vom 23. Juni 2015 gibt Anlass, dies in Erwägung zu ziehen -, ist in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren mit den seitens des Senats gebotenen und ausreichenden Maßnahmen nicht zu klären gewesen. Sowohl der Bevollmächtigte des Antragstellers als auch die M. Werkstätten konnten auf Nachfrage des Senats Unterlagen zu einem eventuellen Verfahren bei der Bundesagentur für Arbeit nicht vorlegen. Der Bevollmächtigte des Antragstellers wußte seiner Erinnerung nach nur von einem Mitarbeiter der M. Werkstätten davon, dass es "vorher" einen Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit gegeben haben könnte. Eine Klärung dieses Sachverhalts muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Wenn es sich dort herausstellen sollte, dass ein früherer Antrag bei der Bundesagentur für Arbeit auf Kostenübernahme der streitgegenständlichen Reha-Maßnahme gestellt und verbeschieden worden wäre, würde sich nach § 14 Abs. 1 Satz1, 3 und Abs. 2 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) die Frage nach der sachlichen Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit als Rehaträger nach allen einschlägigen Rechtsgrundlagen für die Bedarfssituation des Antragstellers stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved