S 19 SO 47/15

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 47/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird verurteilt, die vom Kläger für die Hilfebedürftige K. Q. ab 01.07.2013 bis 31.12.2015 erbrachten Aufwendungen in der Pflegefamilie Q. in Höhe von 38.977, 29 Euro zu erstatten. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird endgültig auf 38.977,29 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt vom Beklagten als Sozialhilfeträger Erstattung von Leistungen der Jugendhilfe, die er der Hilfebedürftigen K. Q. (im Folgenden: Hilfebedürftige) erbracht hat.

Die am 00.00.2000 geborene Hilfebedürftige leidet an Folgen eines Fetalen Alkoholsyndroms. Bei ihr sind mittlerweile ein Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen "G", "B" und "H" anerkannt. Sie erhält von ihrer Pflegekasse Leistungen der Pflegestufe II. Nachdem ihren leiblichen Eltern mit Beschluss des Amtsgerichts Viersen vom 12.08.2004 die elterliche Sorge entzogen worden war, weil erhebliche Zweifel an der Erziehungsfähigkeit bestanden, wurde sie ab dem 16.08.2004 in einer Bereitschaftspflegestelle des Kreisjugendamtes des Beklagten untergebracht. Seit dem 15.05.2005 wird sie in der Pflegefamilie Q. Tag und Nacht betreut. Mit weiterem Beschluss des AG Viersen vom 18.06.2008 wurde die Vormundschaft für die Hilfebedürftige vom Jugendamt der Stadt Viersen auf die Eheleute Q. als Pflegeeltern übertragen. Seit 2010 besucht die Hilfebedürftige die S.-Schule in I., eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. In der Folgezeit bezog die Hilfebedürftige zunächst Jugendhilfeleistungen in Form von Hilfe zur Erziehung (Vollzeitpflege) von dem Beklagten. Seit dem 01.11.2008 bezieht sie Jugendhilfeleistungen in Form von Hilfe zur Erziehung (Vollzeitpflege) von dem Kläger. Nachdem der Kläger Berichte der städtischen Kliniken N. – Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin – vom 20.06., 14.08. und 11.12.2007, vom 04.04.2009 und vom 21.11.2011 ausgewertet und ferner einen Bericht des Universitätsklinikums N2. – Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin – vom 09.02.2009 beigezogen hatte, nahm das Jugendamt des Klägers Kontakt zum Sozialamt des Klägers auf und meldete unter dem 21.01.2014 einen Erstattungsanspruch für der Hilfebedürftigen erbrachte Leistungen an. Zur Begründung führte das Jugendamt aus, die Hilfebedürftige leide auch an einer geistigen Behinderung, weshalb eine Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers gegeben sei. Das Sozialamt des Klägers übersandte diesen Antrag unter dem 29.01.2014 an den Beklagten (Eingang dort: 03.02.2014) und führte zur Begründung aus, die Hilfebedürftige habe vor Aufnahme in der Pflegefamilie Q. bei ihren leiblichen Eltern in Viersen gewohnt. Der Beklagte lehnte eine Kostenerstattung mit Schreiben vom 16.04.2014 ab und führte zur Begründung aus, ein Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe setze einen eingliederungstypischen Betreuungsbedarf voraus, der etwa durch ein berufliches Fachwissen der Pflegeeltern abgedeckt werde. Im vorliegenden Fall indessen fehle es an einem solchen Fachwissen, allein die häusliche Versorgung der Hilfebedürftigen in der Pflegefamilie Q. reiche hierfür nicht aus.

Hiergegen richtet sich die am 22.04.2015 erhobene Klage, mit der vom Kläger zunächst Erstattung der im Zeitraum vom 01.07.2013 bis 28.02.2015 erbrachten Leistungen begehrt wurde. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger die Klage auf Erstattung der bis zum 31.12.2015 verauslagten Leistungen erweitert.

Der Kläger beantragt zuletzt, den Beklagten zu verurteilen, die von ihm für die Hilfebedürftige K. Q. ab dem 01.07.2013 erbrachten Aufwendungen in der Pflegefamilie Q. in Höhe von aktuell 38.977,29 Euro zu erstatten.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Pflegemutter der Hilfebedürftigen, Frau T. Q.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die als allgemeine Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz – SGG) zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung der von ihr der Hilfebedürftigen in der Zeit vom 01.07.2013 bis 31.12.2015 erbrachten Leistungen der Jugendhilfe in Höhe von insgesamt 38.977,29 Euro.

Grundlage für den Erstattungsanspruch des Klägers ist § 104 Abs. 1 Satz 1 Sozial-gesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Ein spezialgesetzlicher Erstattungsanspruch nach § 14 Abs. 4 Sozialge-setzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) kommt nicht in Betracht, da der Kläger nicht kraft aufgedrängter Zuständigkeit für die Erbringung von Sozialleistungen an die Hilfebedürftige zuständig geworden ist (allgemein etwa BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R = juris, Rdnr. 22 ff.).

Die materiellen Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage liegen vor.

Der Kläger hat der Hilfebedürftigen im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen der Hilfe zur Erziehung und damit Sozialleistungen (§§ 11 Satz 1, 27 Abs.1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil [SGB I]) erbracht.

Der Kläger hat diese Leistungen ferner als nachrangig verpflichteter Leistungsträger erbracht. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Im vorliegenden Fall bestand im Hinblick auf die Hilfebedürftige eine solche vorrangige Leistungsverpflichtung des Beklagten als Träger der Sozialhilfe, weil die Voraussetzungen des § 10 Abs. 4 Satz 2 Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Jugendhilfe (SGB VIII) vorlagen. Nach dieser Vorschrift gehen abweichend von § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII Leistungen nach § 27a Absatz 1 in Verbindung mit § 34 Absatz 6 des Zwölften Buches und Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Der Vorrang von Sozialhilfeleistungen in Form von Eingliederungshilfe gegenüber Leistungen der Jugendhilfe setzt voraus, dass eine wesentliche körperliche oder geistige Behinderung vorliegt, sowohl ein Anspruch auf Jugendhilfe als auch ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII gegeben ist und beide Leistungen gleich, gleichartig, einander entsprechend, kongruent, einander überschneidend oder deckungsgleich sind (BVerwG, Urteil vom 19.10.2011 – 5 C 6/11 = juris; BSG, Urteil vom 24.03.2009 – B 8 SO 29/07 R = juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.01.2013 – L 20 SO 170/11 = juris, Rdnr. 59). Hierbei kommt es weder auf eine Differenzierung danach an, ob der Schwerpunkt des Hilfebedarfs im Bereich der (sozialhilferechtlichen) Eingliederungshilfe liegt (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.02.2011 – L 20 SO 110/08 = juris, Rdnr. 59; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10.10.2012 – L 12 SO 621/10 = juris, Rdnr. 36), noch ist entscheidend, ob der Hilfebedarf ausschließlich durch die geistige bzw. seelische Behinderung bedingt ist, oder ob andere Umstände – wie erzieherische Defizite im Elternhaus – für den Umfang des Hilfebedarfs mitursächlich sind. Der Bedarfsdeckungsgrundsatz lässt es nicht zu, den konkreten Hilfebedarf in einzelne Komponenten aufzuspalten und die bei isolierter Betrachtung hierfür hypothetisch erforderlichen Hilfeleistungen (im Sinne eines erzieherischen oder behinderungsbedingten Bedarfs) voneinander abzugrenzen LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.01.2013 – L 20 SO 170/11 = juris, Rdnr. 56).

Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vor. Die Hilfebedürftige hatte einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege nach § 27 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 33 Satz 1 SGB VIII, was von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen wird. Die Hilfebedürftige hatte indessen auch einen Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII). Danach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Bei der Hilfeempfängerin lag eine wesentliche geistige Behinderung und eine wesentliche Einschränkung ihrer Teilhabefähigkeit vor. Nach dem Bericht der städti-schen Kliniken N. – Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin – vom 04.04.2009 litt sie an einem Alkoholembryopathie-Syndrom mit geistiger Behinderung (ICD- 10: F89.0, Q86.0). In einem weiteren Bericht des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin der städtischen Kliniken N. vom 21.11.2011 wurde bei der Hilfebedürftigen eine deutliche Intelligenzminderung festgestellt. Bestätigt wird dies durch den von den Pflegeeltern im Rahmen der mündlichen Verhandlung überreichten Bericht des Rehabilitationszentrums R. – neurologisches Rehabilitationszentrum – vom 05.03.2015. Im Rahmen der dort durchgeführten Diagnostik hatten sich "erhebliche Einschränkungen in ihrem kognitiven Leistungsvermögen" ergeben. In allen untersuchten Bereichen sei die Hilfebedürftige weit unter den entsprechenden Alterswerten zurückgeblieben, es wurde auf Vorbefunde verwiesen, die von einer mittelgradigen Intelligenzminderung mit einem Gesamt-IQ von unter 50 ausgehen.

Aus dieser wesentlichen geistigen Behinderung der Hilfebedürftigen folgt auch eine wesentliche Einschränkung ihrer Teilhabefähigkeit. Die Kammer entnimmt dies insbesondere den Ausführungen der als Zeugin vernommenen Pflegemutter T. Q. Die Zeugin hat im Rahmen ihrer Vernehmung erklärt, die Hilfebedürftige sei auf dem Stand eines zwei- bis dreijährigen Kindes. Sie sei zwar in der Lage, Anweisungen verbal zu verstehen, könne diese aber geistig nicht umsetzen. Es sei so, dass die Hilfebedürftige im Alltag "überall ´dran geh[e]" und alles ausräume. Sie bedürfe praktisch einer 24-stündigen Betreuung und sei relativ hilflos. Sie benötige Hilfe beim Anziehen und beim Waschen, auch könne sie nicht alleine spielen, sondern benötige eine sehr engmaschige Betreuung. Bestätigt werden die Ausführungen der Zeugin Q. durch den Bericht des Rehabilitationszentrums R. – neurologisches Rehabilitationszentrum – vom 05.03.2015. Darin wird ausgeführt, die Hilfebedürftige bedürfe einer "ständigen externen Aktivierung und Lenkung" im Alltag. In größeren Gruppen und neuen Situationen wirke sie teilweise völlig handlungsunfähig. Angesichts dieser Schwierigkeiten schon bei alltäglichen Handlungen besteht eine wesentliche Einschränkung der Fähigkeit der Hilfebedürftigen, an der Gesellschaft teilzuhaben.

Die Hilfebedürftige hatte weiterhin auch einen Anspruch auf Betreuung in einer Pflegefamilie nach § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII. Sie war im streitgegenständlichen Zeitraum "Kind" im Sinne jener Vorschrift und die Eheleute Q.haben sie über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt. Zur Überzeugung der Kammer steht weiter fest, dass durch die Betreuung in der Pflegefamilie Q. der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden werden konnte. Die Zeugin Q. hat im Rahmen ihrer Vernehmung eindrucksvoll zu schildern vermocht, dass die Hilfebedürftige im Grunde einer 24-stündigen Betreuung bedarf. Dies schließt nach Auffassung der Kammer ambulante oder teilstationäre Leistungen aus. Die Zeugin Q. hat weiter ausdrücklich ausgeführt, sie sehe – abgesehen von der derzeitigen Betreuung in der Pflegefamilie – keine Alternative zu einer vollstationären Betreuung. Schließlich waren die Eheleute Q. auch geeignete Pflegpersonen im Sinne des § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII. Zwar verfügen sie – abgesehen von einer mehrjährigen beruflichen Erfahrung der Zeugin T. Q. im Umgang mit Kindern und Jugendlichen und dem Wissen, das sich die Eheleute Q. im Rahmen von zwei Fortbildungsveranstaltungen angeeignet haben – über keinerlei Fachkenntnisse im Sinne einer Ausbildung zur/m Erzieher(in) oder Heilerziehungspfleger(in), wie es der Beklagte für notwendig hält. Entgegen der Auffassung des Beklagten setzt § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ein derartiges Fachwissen jedoch auch nicht voraus. Bereits der Wortlaut jener Vorschrift verdeutlicht, dass ein besonderes Fachwissen der Pflegeperson nicht Voraussetzung ist. Denn das Gesetzt spricht lediglich von einer "geeigneten" Pflegeperson und nicht von einer (wie auch immer gearteten) fachlichen Qualifikation. Systematische Überlegungen untermauern diese Ausle-gung. In der die Qualifikationen für Fachkräfte grob umschreibenden Norm des § 6 Abs. 1 SGB XII wird zwischen einer persönlichen "Eignung" und einer fachlichen Ausbildung unterschieden. Dies zeigt, dass das SGB XII durchaus zwischen "Geeignetheit" und fachlicher Qualifikation differenziert. Dies wiederum legt nahe, dass dann, wenn der Begriff der "Geeignetheit" isoliert Verwendung findet – wie in § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII – eine fachliche Qualifikation nicht gemeint ist. Dass sich in der Begründung zur Neuregelung die Formulierung findet, als Pflege-personen kämen insbesondere "solche Personen in Betracht, die im Hinblick auf ihre persönliche Eignung und ihre fachlichen Kenntnisse, aber auch die räumlichen Verhältnisse den spezifischen Bedürfnissen körperlich beziehungsweise geistig behinderter Kinder oder Jugendlicher gerecht werden können", steht der hier vertretenen Auslegung nicht entgegen. Denn ein zusätzliches tatbestandliches Merkmal von "fachlichen Kenntnissen" hat keinen Eingang in den Wortlaut der Vorschrift des § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII gefunden. Überdies verdeutlicht der Zusatz "insbesondere", dass fachlich qualifizierte Personen zwar als Pflegepersonen in Betracht kommen, eine solche Qualifikation indessen nicht zwingende gesetzliche Voraussetzung ist. Weiter spricht auch der Sinn und Zweck der Vorschrift des § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dafür, das Merkmal der "geeigneten Pflegeperson" nicht in dem Sinne auszulegen, dass eine fachliche Qualifikation zu fordern ist. Zweck des § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ist die Gleichstellung von seelisch behinderten und geistig behinderten Kindern oder Jugendlichen durch die Möglichkeit, geistig behinderte Kinder oder Jugendliche ebenfalls in Pflegefamilien aufnehmen zu können, um eine vollstationäre Betreuung in Einrichtungen zu verhindern, siehe insoweit die Begründung im Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus, BT-Drs. 16/13417, Seite 6. In der jugendhilferechtlichen Parallelvorschrift des § 44 SGB VIII jedoch (auf die § 54 Abs. 3 Satz 2 SGB VII im Übrigen ausdrücklich Bezug nimmt), werden an eine Pflegeperson, welche Kinder oder Jugendliche in Vollzeit betreut, ebenfalls keine fachlichen Anforderungen gestellt (dazu auch Busse, in: jurisPK-SGB VIII, 1. Auflage 2014, § 44 SGB VIII Rdnr. 20). Wollte man indessen § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII so interpretieren, dass eine fachliche Qualifikation hier Voraussetzung ist, würde dies dem erklärten Telos der Vorschrift (Gleichstellung von seelisch behinderten und geistig behinderten Kindern oder Jugendlichen durch die Möglichkeit, geistig behinderte Kinder oder Jugendliche ebenfalls in Pflegefamilien aufnehmen zu können, um eine vollstationäre Betreuung in Einrichtungen zu verhindern, s.o.) widersprechen, weil im Rahmen der sozialrechtlichen Vollzeitpflege durch eine oder mehrere Pflegepersonen wegen einer (auch) geistigen Behinderung strengere Anforderungen gelten würden, als im Rahmen der jugendhilferechtlichen Vollzeitpflege wegen einer seelischen Behinderung.

Die Kammer weist abschließend darauf hin, dass die von dem Beklagten zu Grunde gelegte Auslegung des § 54 Abs. 3 Satz 1 SGB XII der Gleichstellung geistig behin-derter Kinder oder Jugendlicher mit seelisch behinderten Kindern oder Jugendlichen nicht gerecht wird. Denn im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe stehen nicht erzieherische Defizite im Vordergrund, sondern geistige Einschränkungen. Es leuchtet daher nicht ein, das Merkmal der geeigneten Pflegeperson etwa dann als erfüllt anzusehen, wenn eine Qualifikation als Erzieher(in) oder Heilerziehungspfleger(in) vorliegt.

Weiterhin erfüllen die Pflegeeltern der Hilfebedürftigen auch die Voraussetzungen des § 54 Abs. 3 Satz 2 SGB XII. Zwar wurde ihnen keine formelle Erlaubnis zur Voll-zeitpflege von Kindern oder Jugendlichen nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erteilt. Jedoch erfolgte eine Vermittlung der Hilfebedürftigen in die Familie der Pflegeeltern Patzsch auf Grund einer Vermittlung des Jugendamtes des Beklagten, so dass es keiner Erlaubnis bedarf, § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB VIII. Wie die Zeugin Q. im Rahmen der mündlichen Verhandlung erklärt hat, ist die Hilfebedürftige durch den Sozialdienst Katholischer Frauen, der mit dem Jugendamt des Beklagten zusam-menarbeitet, in die Pflegefamilie Q. vermittelt worden. Der Beklagte war schließlich auch für Leistungen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe in Form der Vollzeitpflege im streitgegenständlichen Zeitraum sachlich und örtlich zuständig. Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus § 97 Abs. 1 und 2 SGB XII i.V.m. 1 Abs. 1 des Landesausführungsgesetzes zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16.12.2004 (GV. NRW. Seiten 816 ff.). Eine Übertragung auf Kreisangehörige Gemeinden per Delegation ist im Kreis Viersen nicht vorgesehen. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten folgt aus § 107 SGB XII i.V.m. § 98 Abs. 2 SGB XII. Nach § 107 SGB XII gilt die Vorschrift des § 98 Abs. 2 SGB XII entspre-chend, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in einer anderen Familie oder bei anderen Personen als seinen Eltern oder einem Elternteil untergebracht ist. Nach § 98 Abs. 2 SGB XII ist für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zu-ständig, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte den gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung hat oder in zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatte. Im vorliegenden Fall ist daher für die örtliche Zuständigkeit maßgeblich, wo die Hilfebedürftige ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor Aufnahme in der Pflegefamilie Q. hatte. Zwar waren nach Entziehung der elterlichen Sorge durch das Amtsgericht Viersen an die Hilfebedürftige vorübergehend Leistungen in einer Bereitschaftspflegestelle des Kreisjugendamtes des Beklagten erbracht worden. Hierdurch ist aber kein abweichender gewöhnlicher Aufenthalt der Hilfebedürftigen (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) begründet worden. Zum Zeitpunkt der Aufnahme bei den Pflegeeltern bzw. in den zwei Monaten zuvor hatte die Hilfebedürftige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Viersen.

Schließlich liegen auch die übrigen Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor. Ein Fall des § 103 SGB X ist nicht gegeben und die Hilfebedürftige hatte gegen den Beklagten – wie dargelegt – einen Anspruch auf sozialhilferechtliche Eingliederungshilfe.

Was den Umfang der Erstattung anbelangt, so verweist die Kammer auf die im Rahmen der mündlichen Verhandlung überreichte Berechnung des Klägers, gegen die der Beklagte Einwendungen nicht erhoben hat. Auch soweit diese Berechnung Kosten für Urlaubsbeihilfe und Weihnachtsbeihilfe enthält, handelt es um erstattungsfähige Aufwendungen. Denn es fehlt im Rahmen der Vorschrift des § 54 Abs. 3 SGB XII an Regelungen, welche konkreten Leistungen erbracht werden. Zur Schließung dieser planwidrigen Regelungslücke ist auf die Vorschrift des § 39 SGB VIII zurück zu greifen (BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 – 5 C 30/12 = juris, Rdnr. 42; ähnlich BSG, Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R = juris, Rdnr. 34), so dass das Leistungsspektrum dem in § 39 SGB VIII genannten umfangreichen Leistungsspektrum entspricht. Deshalb sind etwa auch die vom Kläger verauslagten Aufwendungen für eine private Haftpflichtversicherung der Hilfebedürftigen erstattungsfähig (dazu, dass diese vom Leistungsspektrum des § 39 SGB VIII erfasst werden, etwa v. Koppenfels-Spies, in: jurisPK-SGB VIII, 1. Auflage 2014, § 39 SGB VIII Rdnr. 16.1.). Die Kammer hat weiter keine Bedenken, die im Rahmen der mündlichen Verhand-lung vom Kläger erläuterte Hochrechnung jener einzelnen Leistungsposten für die Zeit bis 31.12.2015 zu Grunde zu legen, zumal der Beklagte auch insoweit keine Einwendungen erhoben hat. Insgesamt sind damit die gesamten geltend gemachten Aufwendungen in Höhe von 38.977,29 Euro erstattungsfähig, welche vom Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits verauslagt worden sind.

Schließlich ist die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs des Klägers auch nicht ausgeschlossen. Das konkrete Erstattungsbegehren ist bei dem Beklagten erstmals am 03.02.2014 eingegangen, so dass die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X gewahrt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und folgt der Entscheidung in der Sache.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG). Die Kammer hat den Streitwert nach der vom Kläger eingeklagten Erstattungssumme in Höhe von insgesamt 38.977,29 Euro festgesetzt.
Rechtskraft
Aus
Saved