S 6 U 27/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 U 27/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 169/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten

Tatbestand:

Der Kläger begehrt zuletzt noch die Zahlung von Verletztenrente wegen eines anerkannten Wegeunfalls.

Der am 00.00.000 geborene Kläger war bei der Firma E, in E2, als Lokführer beschäftigt. Am 00.00.0000 wurde er auf dem Weg von der Arbeit nach Hause auf der BAB 00 in Höhe der Anschlussstelle F in seinem PKW in einen Verkehrsunfall verwickelt, als er umherfliegenden Teilen der Leitplanke auswich, die sich lösten, weil auf der Gegenfahrbahn ein Fahrer in suizidaler Absicht sein Fahrzeug gegen die Leitplanke gesteuert hatte. Im Verlauf jenes Verkehrsunfalls schlug der Kläger gegen die Kopfstütze und gegen das Lenkrad. Der Bericht des Durchgangsarztes Dr. H vom 22.08.2011 spricht von einer Distorsion der Halswirbelsäule sowie einer Bauchkontusion. Nachdem die Beklagte von der Unfallanzeige der Firma E vom 29.08.2011 erfahren hatte, zog sie einen Bericht des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. U vom 30.08.2011 bei, der dem Kläger eine posttraumatische Belastungsreaktion und eine Anpassungsstörung attestierte. Die Beklagte wertete weiter Berichte des Medizinischen Zentrums in B – Klinik für Unfallchirurgie – vom 09.09.2011 sowie Klinik für Radiologie vom 01.09.2011 aus und zog einen weiteren Bericht des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. U vom 20.09.2011 bei. Anschließend bewilligte sie dem Kläger zunächst fünf probatorische Sitzungen bei der Diplom-Psychologin I in B. Nach Auswertung von Unterlagen des Polizeipräsidiums E2 – Autobahnpolizei N – zum Unfallhergang holte sie unter dem 09.11.2011 ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse des Klägers ein, das 2002 und 2004 Arbeitsunfähigkeiten wegen psychischer Störungen sowie 2010/2011 eine Angststörung auswies. Nach weiterer Behandlung des Klägers durch die Diplom-Psychologin I zog die Be-klagte von dieser Berichte vom 17.11.2011 und vom 01.02.2012 bei und wertete ei-nen Zwischenbericht der J-Klinik vom 14.03.2012 aus, wo der Kläger ab 07.03.2012 stationäre Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch genommen hatte. Nach Verlängerung der stationären Rehabilitation zog die Beklagte den Entlassungsbericht der J-Klinik vom 11.05.2012 sowie einen weiteren Bericht des Facharztes für Nervenheilkunde Dr. U vom 04.06.2012 bei und wertete Berichte der Diplom-Psychologin I vom 27.06., 22.08. und 17.10.2012 aus. Nach Stellungnahme des beratenden Psychiaters und Neurologen Dr. C in E2 vom 27.11.2012, der dem Kläger eine generalisierte Angststörung und unfallbedingte Autofahrphobie bescheinigte, bewilligte die Beklagte ihm fünf Fahrstunden und wertete einen weiteren Bericht der Diplom-Psychologin I vom 16.03.2013 aus. Weiter zog sie einen Bericht der Klinik Q vom 06.06.2013 bei, wo der Kläger im Mai 2013 eine Blocktherapie zur Behandlung seiner Autofahrphobie absolviert hatte. Anschließend veranlasste sie eine Begutachtung des Klägers durch den Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin Dr. M. Dr. M gelangte im Rahmen seines unter dem 14.07.2013 erstellten Gutachtens zu dem Ergebnis, an Unfallfolgen bestünden bei dem Kläger eine wesentliche Verschlimmerung der vorbestehenden Angsterkrankung, jedoch keine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Die aus den Unfallfolgen resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätzte er auf 40 vom Hundert (vH) ein. Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme von Dr. C vom 26.08.2013 ein, der ausführte, mittlerweile liege eine Verschiebung der Wesensgrundlage vor, so dass zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. M von keiner messbaren MdE mehr auszugehen sei. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10.09.2013 mit, Anspruch auf Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestehe lediglich bis 09.07.2013. Ein Anspruch auf Verletztenrente bestehe nicht. Der Kläger legte am 04.10.2013 Widerspruch ein, den die Beklagte mit Wider-spruchsbescheid vom 27.01.2014 unter Vertiefung ihrer bisherigen Ausführungen zurückwies.

Hiergegen richtet sich die am 10.02.2014 erhobene Klage.

Der Kläger sieht sich in seinem Begehren durch ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. I2 vom 01.03.2015 bestätigt, das im zivilgerichtlichen Verfahren vor dem Landgericht B gegen den Versicherer des Unfallverursachers eingeholt worden ist. Er sieht sich ferner bestätigt durch ein für das Jobcenter B unter dem 16.04.2015 erstelltes Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie L.

Der Kläger beantragt zuletzt noch, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 10.09.2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2014 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 20.08.2011 Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 vH der Vollrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer bisherigen Auffassung fest.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts Befundberichte vom 14.05.2014 sowie vom 03.07.2014 und weitere medizinische Unterlagen der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. G eingeholt. Es hat sodann von Amts wegen eine Begutachtung des Klägers durch die Fachärztin für Nervenheilkunde Dr. T veranlasst. Dr. T ist im Rahmen ihres unter dem 09.03.2015 erstellten Gutachtens zu dem Ergebnis gelangt, der Kläger leide an einer phobischen Störung sowie an erhöhter psychosomatischer Reagibilität. Diese Erkrankungen seien jedoch nicht auf den Arbeitsunfall vom 20.08.2011 zurück zu führen.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat wegen der Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls vom 20.08.2011 keinen Anspruch auf Verletztenrente.

Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um we-nigstens 20 vom Hundert gemindert ist, § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern, § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII. Bei Verlust der Erwerbsfähigkeit wird die Vollrente geleistet, bei einer MdE wird eine Teilrente geleistet, die in der Höhe des Vomhundertsatzes der Vollrente festgesetzt wird, der der MdE entspricht (§ 56 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB VII).

Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, § 7 Abs. 1 SGB VII. Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen, § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII.

Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (sog. Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheits(erst)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität). Das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. statt vieler BSG, Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Alle rechtserheblichen Tatsachen bedürfen des vollen Beweises mit Ausnahme derjenigen, die einen Ursachenzusammenhang (Unfallkausalität, haftungsbegründende und haftungsausfüllende Kausalität) ergeben; für diese genügt angesichts der hier typischen Beweisschwierigkeiten die hinreichende Wahrscheinlichkeit (zum Ganzen etwa BSG, Urteil vom 02.04.2009 - B 2 U 29/07 R = juris, Rdnr. 16 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 26.01.2012 - L 3 U 329/09 = juris, Rdnr. 19 ff.; Bayerisches LSG, Urteil vom 14.12.2011 - L 2 U 504/10 = juris, Rdnr. 41 ff.). Vollbeweis in jenem Sinne bedeutet, dass die entsprechenden Tatsachen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest stehen müssen (statt vieler Bayerisches LSG, a.a.O., Rdnr. 41). Dies ist der Fall, wenn ihr Vorliegen in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass sämtliche Umstände des Einzelfalles unter Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.08.2010 - L 3 U 138/07 = juris, Rdnr. 31; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.03.2011 - L 15 U 263/03 = juris, Rdnr. 33). Für die Bereiche der Kausalität (Unfallkausalität und haftungsbegründende sowie haftungsausfüllende Kausalität) gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung sowie der Beweismaßstab der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 12). Eine Verursachung liegt danach nur dann vor, wenn bei wertender Betrachtung der Versicherungsfall den Gesundheitsschaden wesentlich verursacht hat. Hierfür bedarf es nicht lediglich einer Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, sondern auch im Sinne der Zurechnung des eingetretenen Erfolges zum Schutzbereich der unfallversicherungsrechtlichen Norm als eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhangs (siehe nur BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R = juris, Rdnr. 13 ff.). Angesichts der bestehenden Beweisschwierigkeiten genügt für den Ursachenzusammenhang, dass das Unfallereignis selbst und nicht eine andere, unfallunabhängige Ursache die wesentliche Bedingung bildet (st. Rspr. des Bundessozialgerichts, vgl. nur BSG, Urteil vom 28.06.1988 - 2/9b RU 28/87 = BSGE 63, 277, 278, mit weiteren Nachweisen). Welcher Umstand als wesentlich angesehen werden muss, ist durch eine wertende Betrachtung aller in Betracht kommenden Umstände zu ermitteln. Die einzelnen Bedingungen müssen gegeneinander abgewogen werden; ob eine von ihnen wesentlich den Erfolg mit bewirkt hat, ist anhand ihrer Qualität zu entscheiden. Auf eine zeitliche Reihenfolge oder die Quantität kommt es nicht an. Die bloße Möglichkeit reicht demnach nicht aus (vgl. hierzu nur BSG, Urteil vom 12.11.1986 - 9 B RU 76/86 = juris). Eine Möglichkeit verdichtet sich dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (st. Rspr. des BSG, siehe nur Urteil vom 02.02.1978 - 8 RU 66/77 = BSGE 45, 285, 286).

Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben steht zur Überzeugung der Kammer nicht fest, dass bei dem Kläger Unfallfolgen vorliegen, welche eine MdE von wenigstens 20 vH bedingen. Das Vorliegen der vom Kläger geltend gemachten PTBS steht schon nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit und damit nicht im Vollbeweis fest, ohne dass es insoweit auf die Frage einer Verursachung ankäme.

Nach dem medizinischen Diagnoseklassifikationssystem "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Revision (ICD-10)" ent-steht die mit dem Diagnoseschlüssel F43.1 verschlüsselte Posttraumatische Belas-tungsstörung (PTBS)

"als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung her-vorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann ( )"

Demgegenüber beschrieb das Diagnoseklassifikationssystem für psychische Erkrankungen "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Auflage" (DSM IV), Ziff. 309.81, eine posttraumatische Belastungsstörung als

"( ) die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat oder die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem Tod, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person zu tun hat oder das Miterleben eines unerwarteten oder gewaltsamen Todes, schweren Leids, oder Androhung des Todes oder einer Verletzung eines Familienmitglieds oder einer nahestehenden Person (Kriterium A1). Die Reaktion der Person auf das Ereignis muss intensive Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen umfassen (Kriterium A2) " (Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen - Textrevision 2000 - DSM IV-TR, bearbeitet von Saß/Wittchen/Zaudig/Houben, Hogreve Verlag für Psychologie, 2003, 515 [zitiert nach Burghardt, Med. Sach 108 (2012), 186 (190) in Fn. 14]).

Nach DSM IV war weiter Voraussetzung, dass ein traumatisches Wiedererleben durch Intrusionen, Träume oder Flashbacks erfolgt (sog. Kriterium B). Außerdem kommt es bei den Betroffenen zu Vermeidungsreaktionen (Kriterium C), die sich in Erinnerungsverlusten, verminderter Teilnahme bzw. Interesse an wichtigen Aktivitäten oder ähnlichem äußern können, sowie zu einer Übererregbarkeit (Kriterium D) in Form von Ein- und Durchschlafproblemen, Konzentrationsstörungen, erhöhter Reizbarkeit oder ähnlichem äußern können (zum Ganzen etwa Sachse, Störungsorientierte Psychotherapie der Traumasynthese durch Traumaexposition bei PTBS, abrufbar unter http://www.lptw.de/archiv/vortrag/2010/sachsse u.pdf sowie Nolting, An Erinnerungen fast zerbrochen - Idealfall Traumatherapie - Resümee einer erfolgreichen Therapie, abrufbar unter http://www.hss.de/fileadmin/migration/downloads/VortragNolting 01.pdf, beide mit weiteren Nachweisen).

Mittlerweile liegt die 5. Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) in englischer Sprache vor und seit 2015 existiert auch eine autorisierte deutsche Übersetzung (siehe Falkai/Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, 2015). Kennzeichnend für das Diagnoseklassifikationssystem DSM-5 ist u.a., dass auf das sog. A2-Kriterium und die dort genannte Qualität der Reaktion auf das Ereignis ver-zichtet wird (Hessisches LSG, Urteil vom 25.08.2015 – L 3 U 239/10 = juris Rdnr. 43 f.; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.10.2014 – L 17 U 709/11 = juris, Rdnr. 34), sowie, dass zwischen negativen Veränderungen der Kognitionen und der Stimmung mit Beginn der Verschlechterung nach dem Trauma (Kriterium D) und deutlichen Veränderungen im Arousal und in der Reaktion im Hinblick auf das Trauma (Kriterium E) unterschieden wird (siehe die Übersicht bei Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 6. Aufl. 2015, S. 564).

Zur Überzeugung der Kammer steht nicht fest, dass der Kläger die in den soeben genannten Diagnoseklassifikationssystemen genannten Voraussetzungen einer PTBS erfüllt. Entscheidend hierfür ist indessen nicht allein das Fehlen des sog. A2-Kriteriums, zumal auf dieses Kriterium im Rahmen des DSM-5 verzichtet wird. Jedoch ist ein Vermeidungsverhalten im Sinne des C-Kriteriums nicht dokumentiert und auch negative Veränderungen der Kognition und Stimmung im Sinne des D-Kriteriums bzw. deutliche Veränderungen im Arousal und in der Reaktion auf das Trauma im Sinne des E-Kriteriums (nach DSM-5) waren nicht zu beobachten. Sowohl die Sachverständige Dr. T im Rahmen ihres Gutachtens vom 09.03.2015, als auch die Klinik Q im Rahmen des Berichtes vom 06.06.2013 über die durchgeführte Blocktherapie haben darauf hingewiesen, dass das Verhalten des Klägers weniger durch Angst, als vielmehr durch Wut, Aggressivität und Enttäuschung über die Reaktion der Mutter des Unfallgegners am Unfallort geprägt war. Demgegenüber war eine ausgeprägte Angstreaktion des Klägers am Unfallort (und später) nicht zu beobachten, im Gegenteil: er reagierte äußerst besonnen und engagierte sich als Ersthelfer. Überdies hat der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. M im Rahmen seines Gutachtens vom 14.07.2013 darauf hingewiesen, dass echte flashbacks des Klägers im Sinne sich selbständig aufdrängender bildhafter Erinnerungen nicht gezeigt haben.

Soweit demgegenüber der behandelnde Facharzt für Nervenheilkunde Dr. U sowie die behandelnde Diplom-Psychologin I von einer PTBS ausgehen, vermag sich die Kammer dem nicht anzuschließen. Dr. U hat im Rahmen seines Berichtes vom 04.06.2012 zwar ausgeführt, der Kläger leide an Ein- und Durchschlafstörungen und an Ängsten. Andauernde negative Emotionen oder andere Items des D-Kriteriums der PTBS nach DSM-5 hat er indessen nicht zu beschreiben vermocht. Was die von Dr. U für (auch) maßgeblich gehaltenen Ein- und Durchschlafstörungen anbelangt, so sind diese schon weit vor dem Unfallereignis dokumentiert. So wird im Bericht des Medizinischen Zentrums in B – Neurologie – vom 18.03.2009 auf seit Ende Oktober 2008 bestehende Konzentrations- und Schlafstörungen hingewiesen. Auch im Vorerkrankungsverzeichnis der C2-Krankenkasse vom 09.11.2011 ist Ende des Jahres 2010 bzw. Anfang 2011 eine Schlafstörung aufgeführt. Die Diplom-Psychologin I hat im Rahmen ihres Berichtes vom 17.11.2011 das Vorliegen einer PTBS bejaht, sich indessen nicht mit dem Fehlen der Kriterien C, D und E nach DSM-5 auseinandergesetzt, obwohl sie selbst ausgeführt hat, der Kläger neige – außer beim Autofahren – nicht zu Vermeidungsverhalten.

Auch das im zivilrechtlichen Verfahren eingeholte Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. I2 vom 01.03.2015 überzeugt die Kammer nicht. Dr. I2 hat die beruflichen und privaten Stressoren lange vor dem Arbeitsunfall und die hieraus entstandenen Erkrankungen des Klägers nicht ausreichend thematisiert und die Stellungnahme der behandelnden Allgemeinmedizinerin Dr. G, vor dem Unfall habe keine Angststörung des Klägers vorgelegen, unkritisch übernommen. Auch sie hat ferner keine Items des C-Kriteriums nach DSM-5 zu beschreiben vermocht, zumal der Kläger unter der Rubrik "Ängste" auf Existenzängste hingewiesen hatte, die aus Sicht der Kammer insbesondere vor dem Hintergrund der von Dr. T herausgearbeiteten finanziellen Sorgen plausibel sind, die nicht im Zusammenhang mit dem Unfall stehen. Was das unter dem 16.04.2015 für das Jobcenter erstellte Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie L angeht, so hat sich diese wesentlich auf das von Dr. I2 eingeholte Gutachten gestützt. Überdies hat Frau L das Vorliegen der einzelnen PTBS-Kriterien nicht anhand der vom Kläger gezeigten Reaktionen und Ver-haltensweisen überprüft, so dass nicht nachvollziehbar ist, wie sie zu der von ihr aufgestellten These einer PTBS gelangt.

Zur Überzeugung der Kammer steht schließlich nicht fest, dass die von der Sachverständigen Dr. T bei dem Kläger gestellten Diagnosen einer phobischen Störung (ICD-10: F41.0 G) und einer verstärkten psychosomatischen Reagibilität (ICD-10: F45.0 G) im Sinne einer wesentlichen Verursachung auf den anerkannten Arbeitsunfall vom 20.08.2011 zurückzuführen sind. Dr. T hat in sehr ausführlicher Weise herausgearbeitet, dass sich in der Biographie des Klägers einschneidende Erlebnisse ereignet haben, welche als Ursache der bestehenden Erkrankungen anzusehen sind. So hat der Kläger selbst den Tod seiner Mutter nach schwerer Krankheit als schlimmstes Erlebnis in seinem Leben bewertet. Hinzu kam, dass ihn seine Ehefrau mit den gemeinsamen Kindern 1995 verlassen hatte und nach ihrer Rückkehr durch den Bau eines neuen Hauses zusätzlich hohe finanzielle Belastungen entstanden. Parallel zu einer im Jahre 2000 erfolgten beruflichen Versetzung entwickelte die Ehefrau des Klägers eine Magersucht, welche noch andauert. Dr. T hat ferner darauf hingewiesen, dass der Kläger in den Befundberichten und Gutachten mehrfach den Eindruck erweckt habe, in jeglicher Beziehung chronisch überfordert zu sein. In diesem Zusammenhang hatte die behandelnde Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. G bereits im Bericht vom 17.05.2011 und damit weit vor dem Arbeitsunfall einen psychovegetativen Erschöpfungszustand des Klägers beschrieben. Die von der Sachverständigen Dr. T herausgearbeiteten Auswirkungen dieser priva-ten und beruflichen Stressoren auf die Psyche des Klägers sind in den Verwaltungsvorgängen und in den im gerichtlichen Verfahren eingeholten Berichten dokumentiert. So war der Kläger im Jahre 2002 insgesamt 71 Tage arbeitsunfähig wegen einer psychischen Störung und im Jahre 2004 insgesamt 17 Tage arbeitsunfähig wegen einer psychischen Störung. Zudem lässt sich dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Vorerkrankungsverzeichnis der C2-Krankenkasse vom 09.11.2011 eine Schlaf- bzw. Angststörung Ende des Jahres 2010 bzw. Anfang 2011 entnehmen, die zu einer dreizehntätigen Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Schließlich wird im Bericht des Medizinischen Zentrums in B – Neurologie – vom 18.03.2009 auf seit Ende Oktober 2008 bestehende Konzentrations- und Schlafstörungen hingewiesen.

Zusammenfassend misst die Kammer überwiegende Bedeutung für die bei dem Kläger vorliegenden Erkrankungen einer phobischen Störung bzw. einer verstärkten psychosomatischen Reagibilität nicht dem Unfallereignis vom 20.08.2011 zu, sondern der Vorschädigung durch die privaten und beruflichen Stressoren. Es fehlt damit an Unfallfolgen, welche eine MdE von wenigstens 20 vH begründen könnten.

Den im schriftlichen Verfahren gestellten Antrag, den Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in B, Herrn Prof. Dr. Dr. T2, als Sachverständigen zu hören, hat der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung zurück genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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