L 9 KR 124/11 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 81 KR 1478/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 124/11 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und der Gleichbehandlungsgrundsatz können es erfordern, eine Krankenkasse im Wege der einstweiligen Anordnung zur Erbringung von podologischen Leistungen auch dann zu verpflichten, wenn diese Leistungen nach den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses bei bestimmten Krankheiten zwar ausgeschlossen sind, aber gewichtige Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit dieses Ausschlusses (hier: „Wunsch“ der Aufsichtsbehörde, die Versorgung Versicherter mit podologischen Leistungen auf eine bestimmte Krankheit zu begrenzen) vorliegen.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin bis zum 31. Dezember 2011, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in ihrem Berufungsverfahren L 9 KR 54/11, alle 3 Wochen mit Maßnahmen der Podologischen Therapie in Gestalt von Hornhautabtragung und Nagelbearbeitung zu versorgen. Im Übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zur Hälfte zu tragen.

Gründe:

I. Die 1966 geborene Antragstellerin bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sowie ergänzend Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) i.H.v. derzeit 376,07 EUR. Sie leidet infolge einer Multiplen Sklerose unter fortschreitenden neurologischen Ausfallerscheinungen wie spastischer Tetraparese, Störungen der Feinmotorik, Sensibilitätsstörungen in Händen und Füßen sowie Ataxie. Daneben bestehen bei ihr eine Adipositas per magna, eine dauerhafte Sehminderung mit schubweise verlaufenden Entzündungen des Sehnervs und eine Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ.

Nachdem die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit Schreiben vom 25. November 2008 erstmals schriftlich mitgeteilt hatte, dass die podologische Behandlung krankhafter Veränderungen am Fuß nur beim sog. diabetischen Fußsyndrom zu Lasten der Krankenkasse verordnungsfähig sei, beantragte die Antragstellerin unter Vorlage einer Heilmittelverordnung der Fachärztin für Neurologie K vom 24. Februar 2009 die Versorgung mit podologischen Leistungen. Dies lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18. März 2009 und Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2009 ab. Die von der Antragstellerin erhobene Klage wies das Sozialgericht Berlin mit Gerichtsbescheid vom 18. Januar 2011 ab und führte zur Begründung u.a. aus, dass Maßnahmen der Fußpflege in erster Linie der Körperpflege zuzuordnen seien und die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) gemäß § 92 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erlassenen verbindlichen Heilmittel-Richtlinien (HeilmRL) podologische Leistungen in nicht zu beanstandender Weise nur beim diabetischen Fußsyndrom ¬&61485; an dem die Antragstellerin nicht leide &61485; vorsähen. Über die hiergegen gerichtete Berufung (Az.: L 9 KR 54/11) hat der Senat noch nicht entschieden.

Mit Bescheid vom 6. Februar 2009 und &61485; von der Antragstellerin nicht angegriffenem &61485; Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2009 lehnte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin, Abteilung Soziales, Gesundheit, Umwelt und Verkehr, die Erbringung von Fußpflegeleistungen an die Antragstellerin ab, da diese entweder aus der Regelleistung oder von der Krankenversicherung zu finanzieren seien. Die von dieser Behörde der Antragstellerin bewilligte Haushaltshilfe umfasst keine Leistungen der Körperpflege.

Am 18. April 2011 hat die Antragstellerin einstweiligen Rechtsschutz begehrt, den sie wie folgt begründet: Derzeit nehme sie die Fußpflege (Nägel kürzen, Hornhaut entfernen) selbst vor, füge sich hierbei aber wegen der durch ihr Übergewicht eingeschränkten Beweglichkeit und wegen der reduzierten Feinmotorik in den Händen regelmäßig schwere Verletzungen zu, die sie wegen der Sensibilitätsstörungen und wegen der begrenzten Sehfähigkeit oftmals nicht wahrnehme. Für die dann erforderliche Wundbehandlung verwende sie Alkohol. Sie habe weder Freunde noch Familie, die die Fußpflege übernehmen könnten.

Am 3. Juni 2011 verordnete der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. B der Antragstellerin dauerhaft podologische Fußpflege alle 3 Wochen wegen "Verhornungs- und Nagelwachstumsstörung".

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, sie bis zur rechtskräftigen Entscheidung in ihrem Berufungsverfahren L 9 KR 54/11, alle 3 Wochen mit Maßnahmen der Podologischen Therapie in Gestalt von Hornhautabtragung und Nagelbearbeitung zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Sie ist der Auffassung, die von den HeilMRL geforderten Voraussetzungen lägen ebenso wenig vor wie Anhaltspunkte, dass der Antragstellerin ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten sei. Bei Vorwegnahme der Hauptsache liefe sie &61485; die Antragsgegnerin &61485; Gefahr, die von ihr aufgrund einer einstweiligen Anordnung aufgewandten Kosten auch im Fall eines eigenen Obsiegens in der Hauptsache nicht von der Versicherten wiedererlangen zu können. Es könne nicht sein, dass alle Personen, die in irgendeiner Weise in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt seien, zu Lasten eines Sozialleistungsempfängers kosmetische Fußpflege erhielten.

Der Senat hat im Berufungsverfahren L 9 KR 54/11 die Stellungnahme des GBA vom 14. April 2011 veranlasst und die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten am 18. April 2011 erörtert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die dem Senat vorgelegen hat, Bezug genommen.

II. Der Antrag ist zulässig und begründet. Die aus dem Tenor ersichtliche Regelungsanordnung ist zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin geboten.

1. Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen, wenn &61485; wie hier &61485; Eilrechtsschutz nicht schon durch die Anordnung/Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach Abs. 1 gewährt werden kann, u.a. zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung setzt nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO) grundsätzlich die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes voraus. Sie sind glaubhaft gemacht, wenn das Vorliegen der insoweit beweisbedürftigen Tatsachen überwiegend wahrscheinlich ist (Senat, Beschluss vom 30. Januar 2008, Az.: L 9 B 639/07 KR ER, veröffentlicht in Juris).

Dass der Antragstellerin der geltend gemachte Anspruch auf podologische Leistungen zusteht, lässt sich im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes mit überwiegender Wahrscheinlichkeit weder bejahen noch verneinen. Zu Recht haben zwar die Antragsgegnerin und das Sozialgericht zunächst darauf abgestellt, dass die nach § 91 Abs. 6 SGB V für die Krankenkassen und die Versicherten verbindlichen HeilmRL des GBA den Fall der Antragstellerin nicht erfassen, da sie podologische Therapie nur bei diabetischem Fußsyndrom vorsehen. Der Senat hegt jedoch nicht gewichtige Zweifel, ob die HeilmRL insoweit mit höherrangigem Recht, insbesondere mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz (GG), vereinbar sind. Es spricht derzeit zum einen manches dafür, dass krankhafte Veränderungen am Fuß infolge Diabetes mellitus medizinisch und rechtlich ebenso zu behandeln sind wie andere Fälle, in denen die gleichen Beschwerdebilder auf andere schwerwiegende Erkrankungen mit neurologischen Folgeerscheinungen (z.B. Multiple Sklerose) zurückzuführen sind. Zum anderen liegt es nahe, dass die vom GBA in seiner o.g. Stellungnahme bestätigte Differenzierung zwischen den o.g. Krankheitsursachen ("Eine Ausdehnung auf andere Indikationen wurde von Seiten des BMG nicht gewünscht.") entgegen der in der Rechtsprechung entwickelten Dogmatik zu Art. 3 GG nicht auf einem sachlichen Grund beruht.

2. Die einstweilige Anordnung ist jedoch auf Grund einer Folgenabwägung zu erlassen. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. der Rechtschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet es, eine Abwägung vorzunehmen, die die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Antragstellerin im gebotenen Maße zur Geltung bringt. Dabei greift der Senat nur auf die Grundsätze zurück, die das Bundesverfassungsgericht für die Fälle entwickelt hat, in denen eine bestehende Lebensgefahr für den Einzelnen durch eine gerichtliche Entscheidung beseitigt oder zumindest verringert werden kann. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen; behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der grundlegenden objektiven Wertentscheidung zugunsten des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gerecht werden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. November 2002, Az.: 1 BvR 1586/02, veröffentlicht in Juris; Senat, Beschluss vom 10. Juni 2009, Az.: L 9 KR 482/08 KR ER, veröffentlicht in Juris).

Dabei sind in Gestalt einer Doppelhypothese die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand.

Sollte die erstgenannte Alternative erfüllt sein, d.h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden der Antragstellerin fortlaufend schwerwiegende, gegebenenfalls nicht rückgängig zu machende Nachteile. Die Antragstellerin hat hierzu &61485; insbesondere im Erörterungstermin &61485; anschaulich und nachvollziehbar geschildert, dass die von ihr selbst vorgenommene Fußpflege durch das Zusammentreffen von verschiedene Körperfunktionen betreffende Einschränkungen (Rumpfbeweglichkeit, Feinmotorik der Hände, Sehvermögen, Sensibilität in den Füßen) regelmäßig zu blutigen Verletzungen führt, die als solche von ihr oftmals wegen der Schädigungen des Sehvermögens und der Sensibilität nicht wahrgenommen und aus den gleichen Gründen nur unzureichend versorgt werden können. Die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt. GG) der Antragstellerin wird somit andauernd beeinträchtigt. Aus welchen Gründen die Antragsgegnerin demgegenüber davon ausgeht, trotz der kontinuierlichen Verletzungen, die im Falle unzulänglicher Wundheilung zu weiteren gravierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen können, sei der Antragstellerin ein Zuwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache zuzumuten, bleibt unerfindlich. Die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung zum Nachteil der Antragsgegnerin einträten, wiegen demgegenüber weniger schwer. Zwar entstünde der Antragsgegnerin in diesem Falle ein erheblicher finanzieller Schaden, den sie grundsätzlich nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 ZPO von der Antragstellerin ersetzt verlangen könnte, wenn diese im Verfahren der Hauptsache unterläge. Bei lebensnaher Betrachtung muss allerdings angenommen werden, dass angesichts der derzeit schwachen finanziellen Situation der Antragstellerin ein solcher Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar wäre. Weiterhin muss jedoch beachtet werden, dass die Antragsgegnerin auch dann erhebliche Geldmittel aufzubringen hätte, wenn eine stationäre Behandlung der Antragstellerin (z.B. wegen von ihr nicht wahrgenommener Komplikationen bei der Wundheilung) auf ihre Kosten notwendig würde. Möglicherweise wären diese Kosten sogar höher als die mit der streitgegenständlichen podologischen Therapie verbundenen Kosten. Letztlich führt damit die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens der Antragsgegnerin auf der einen Seite und des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit der Antragstellerin auf der anderen Seite zu der aus dem Tenor ersichtlichen Entscheidung.

3. Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, dass die streitgegenständliche Fußpflege nach Auffassung der Antragsgegnerin dem Bereich der Körperpflege zuzuordnen ist, für den kein Sozialleistungsträger zuständig sein soll. Die Antragsgegnerin verkennt insoweit, dass Hilfe zur Pflege nach § 61ff SGB XII auch bei nicht vom Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI) erfassten Pflegebedarfen, z.B. bei einfacher (nicht medizinisch bedingter) Nagel- und Fußpflege, im Rahmen einer sog. Pflegestufe 0 zu gewähren sein kann (VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 15. Januar 2010, Az.: S 5 K 747/07; Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3.A., § 61 Rd. 24, 27, 28). Ob die Antragstellerin aufgrund ihres Beschwerdebildes der einfachen oder der medizinischen Fußpflege bedarf, wird der Senat im Verfahren der Hauptsache zu klären haben. Dass die Antragsgegnerin aufgrund dieser einstweiligen Anordnung ggf. für Leistungen der einfachen Fußpflege unzuständigerweise vorläufig aufzukommen hat, ergibt sich aus § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch/Erstes Buch (SGB I) und dem Umstand, dass die Antragstellerin sich wegen Fußpflegeleistungen im Herbst 2008 zunächst an die Antragsgegnerin wandte.

4. Die erlassene einstweilige Anordnung war jedoch zeitlich zu begrenzen, sodass der Eilantrag teilweise abgelehnt werden musste. Die Antragstellerin hat, wie der Senat aus der Vorlage einer Dauerverordnung folgert, einen zeitlich nur durch den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens limitierten Anspruch geltend gemacht. Demgegenüber hat der Senat berücksichtigt, dass sich der Gesundheitszustand jedes Versicherten verändern kann. Sowohl eine – bei der Antragstellerin eher unwahrscheinlichen –Verbesserung als auch eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes kann dazu führen, dass die Voraussetzungen für den durch die einstweilige Anordnung gewährten Anspruch nicht mehr vorliegen und stattdessen keine, geringere oder – im Falle einer Verschlimmerung – weiterreichende Leistungen erforderlich sind. Träten bei der Antragstellerin z.B. die in Ziffer 17.B 3 der HeilmRL genannten Erkrankungen – Hautdefekte und Entzündungen (Wagner-Stadium 1 bis Wagner-Stadium 5) sowie eingewachsene Zehennägel – hinzu, dürfte keine podologische Therapie mehr erbracht werden, da die Antragstellerin dann Anspruch auf ärztliche Leistungen hätte (HeilmRL a.a.O.).

Der Antragstellerin steht es selbstverständlich frei, rechtzeitig vor Ablauf der Leistungsbefristung bei der Antragsgegnerin eine Verlängerung der podologischen Therapie zu beantragen, die bei unverändertem Gesundheitszustand – vorläufig – bewilligt werden müsste.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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