S 1 SB 139/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 1 SB 139/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
1. Wird die Feststellung eines GdB begehrt, kommt als statthafte Klageart grundsätzlich nur eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage in Betracht.

2. An der dafür erforderlichen Klagebefugnis fehlt es, wenn der Beklagte bereits den höchstmöglichen GdB (100) festgestellt hat.

3. Der sog. Einzel-GdB stellt keinen Verwaltungsakt dar; seine Feststellung kann grundsätzlich auch nicht im Wege der Leistungs- oder Feststellungsklage erstritten werden.
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB).

Bei der 1940 geborenen Klägerin wurde durch den Beklagten bereits 1981 erstmals ein GdB festgestellt; 1983 wurde ihre Schwerbehinderteneigenschaft anerkannt. Nach mehreren Neufeststellungsverfahren stellte der Beklagte mit Bescheid vom 11.01.2011 einen GdB von 100 fest. In der Folgezeit begehrte die Klägerin noch die Feststellung verschiedener Merkzeichen. Zuletzt wurde mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 05.09.2012 das Merkzeichen "RF" abgelehnt; der GdB betrage nach wie vor 100, das Merkzeichen "G" bleibe festgestellt.

Mit Anwaltsschreiben vom 18.02.2015 stellte die Klägerin erneut einen Änderungsantrag nach dem Schwerbehindertenrecht – gerichtet auf die "Feststellung eines höheren GdB" und die Feststellung "weiterer gesundheitlicher Merkmale". Der Adressat, das Land Sachsen-Anhalt, reichte diesen an das beklagte Land weiter. Die bereits festgestellten Behinderungen hätten sich verschlechtert. Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht des die Klägerin behandelnden Hausarztes ein. Nach dessen Auswertung lehnte er mit Bescheid vom 10.06.2015 den Neufeststellungsantrag ab. Der GdB betrage weiterhin 100; es fehle an einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin – anwaltlich vertreten – fristgerecht Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 11.08.2015 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Die eventuelle Anhebung eines Einzel-GdB sei im vorliegenden Fall irrelevant, da der Gesamt-GdB bereits 100 betrage.

Am 14.09.2015 (Eingangsdatum) hat die Klägerin dagegen Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben. Sie hat die Feststellung eines Einzel-GdB von 50 für ihre psychischen Störungen geltend gemacht.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Beklagten vom 10.06.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.08.2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, bei der Klägerin einen Einzel-GdB von 50 für ihre psychischen Störungen festzustellen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte den Rechtsstreit gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Der vorliegende Fall geht nicht über den durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad eines sozialgerichtlichen Verfahrens hinaus und es ist nicht zu erwarten, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung neue tatsächliche Gesichtspunkte ergeben könnte. Die Beteiligten wurden mit richterlicher Verfügung vom 29.09.2015 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Daraufhin hat der Beklagte sein Einverständnis erklärt. Die Klägerin hat einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid widersprochen. Dies steht einer Vorgehensweise nach § 105 SGG jedoch nicht entgegen, da dort nur die Anhörung der Beteiligten und nicht deren Einverständnis vorausgesetzt wird.

Die Klage ist unzulässig.

Da die Klägerin die Feststellung eines GdB begehrt, kommt als statthafte Klageart grundsätzlich nur eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 S. 1 SGG in Betracht. Denn das Klagebegehren beschränkt sich auf den Erlass einer feststellenden Verwaltungsentscheidung (siehe für den GdB: BSG, Urteil vom 07.11.2001 – B 9 SB 1/01 R, juris Rn. 33). Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines GdB ist § 69 Abs. 1 und 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.06.2001 (BGBl. I, S. 1046), zuletzt i.d.F. des Gesetzes vom 07.01.2015 (BGBl. II, S. 15). Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB in einem besonderen Verfahren fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 S. 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Eine solche kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist gemäß § 54 Abs. 1 S. 2 SGG nur zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein. An dieser sogenannten Klagebefugnis fehlt es hier. Die Klägerin kann nicht behaupten, durch die Ablehnung oder Unterlassung der Feststellung eines GdB beschwert zu sein. Denn der Beklagte hat für sie bereits den höchstmöglichen GdB (100) festgestellt.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin ausdrücklich die Feststellung eines Einzel-GdB von 50 (für ihre psychischen Störungen) beantragt. Denn dabei handelt es sich nicht um einen Verwaltungsakt. Das Versorgungsamt hat im Verfügungssatz eines Feststellungsbescheids gemäß § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX das Vorliegen einer (unbenannten) Behinderung und den GdB festzustellen; die dieser Feststellung im Einzelfall zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen sind lediglich in der Begründung des Verwaltungsakts anzugeben (Oppermann, in: Hauck/Noftz, SGB, 12/13, § 69 SGB IX Rn. 19 unter Hinweis auf BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 24, LS. 1). Der Einzel-GdB hat nicht im Verfügungssatz des Bescheids zu erscheinen und ist (selbst wenn) nicht isoliert anfechtbar (Oppermann, in: Hauck/Noftz, SGB, 12/13, § 69 SGB IX Rn. 19 unter Hinweis auf BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 5 S. 26).

Wollte man vor diesem Hintergrund davon ausgehen, das Klagebegehren sei doch nicht auf den Erlass eines Verwaltungsakts, sondern auf einen Realakt (Versorgungsärztliche Prüfung des Ausmaßes der psychischen Störungen und Bewertung derselbigen anhand der Maßstäbe für die Feststellung eines GdB durch den Beklagten) gerichtet, käme eine Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG oder eine Feststellungsklage gemäß § 55 Abs. 1 SGG als statthafte Klageart in Betracht. Ungeachtet der Bedenken gegen die speziellen Sachurteilsvoraussetzungen dieser Klagearten steht der Zulässigkeit einer solchen Klage zumindest das Fehlen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses der Klägerin entgegen. Denn die Klägerin begehrt die Feststellung eines Einzel-GdB von 50 für ihre psychischen Störungen im Hinblick auf ein parallel vor der erkennenden Kammer geführtes Klageverfahren gegen das das Land Sachsen-Anhalt. Dort macht sie Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) geltend. Selbst wenn es dafür gemäß § 10a Abs. 1 OEG darauf ankommen sollte, ob die Klägerin allein wegen der eventuellen Schädigungsfolgen schwerbeschädigt ist, könnte dies der vorliegenden Klage nicht zur Zulässigkeit verhelfen. Denn die genannte Tatbestandsvoraussetzung des § 10a Abs. 1 OEG ist lediglich eine Vorfrage für einen Versorgungsanspruch nach § 1 OEG. Sie ist von der nach § 6 OEG zuständigen Behörde in eigener Verantwortung zu prüfen. Eine Bindungswirkung jedweder Art im Hinblick auf einen festgestellten GdB besteht dabei nicht. Das gilt umso mehr, wenn – wie hier – unterschiedliche Bundesländer passivlegitimiert sind. Der nach dem oben Gesagten als Klageziel in Betracht kommende Realakt hätte vor diesem Hintergrund keinerlei Bedeutung für die Klägerin.

Nach alledem würde eine Prüfung des Klageantrags in der Sache der Erstellung eines kostenfreien Rechtsgutachtens durch das Gericht gleichkommen. Hierauf hat die Klägerin keinen Anspruch, weil eine solche abstrakte Beurteilung der Sach- und Rechtslage nicht Aufgabe der Judikative ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus §§ 105, 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved