S 5 R 591/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 591/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Bewilligungsbescheid kann nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X nur dann zurückgenommen werden, wenn die Verletzung der Mitteilungspflicht ursächlich für die fehlerhafte Bewilligung geworden sein; denn nur dann „beruht“ der Verwaltungsakt darauf. Kausal können nur solche Vorgänge sein, die vor Erlass des rechtswidrigen Bescheids liegen; eine etwaige Verletzung der Mitteilungspflicht nach dessen Erlass ist unerheblich. Ebenso fehlt es an der erforderlichen Kausalität, wenn die der Behörde vorliegenden Informationen offenkundig unvollständig sind, die Behörde aber nicht gemäß § 16 Abs. 3 SGB I auf eine Ergänzung der unvollständigen Angaben hinwirkt, sondern ohne weiteres den begünstigenden Verwaltungsakt erlässt.

Für eine Rücknahme nach § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X genügt es nicht, dass der Begünstigte wusste oder wissen musste, dass die Behörde bei Erlass des Bewilligungsbescheids von falschen Tatsachen ausgegangen ist. Hinzukommen muss die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Begünstigten, dass die darauf fußende Regelung mit der Rechtslage unvereinbar ist und ihm die bewilligte Leistung (so) nicht zusteht.
1. Der Bescheid vom 7.4.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.1.2015 wird aufgehoben. 2. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Rücknahme einer Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 sowie die Erstattung erbrachter Leistungen.

Mit Bescheid vom 16.11.2010 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 1.6.2010 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze.

Auf Antrag der Klägerin vom 18.7.2011 bewilligte ihr die Beklagte darüber hinaus mit Bescheid vom 6.9.2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung, allerdings nur befristet für die Zeit vom 1.12.2010 – 31.8.2012.

Für die Zeit ab dem 1.9.2012 bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 16.11.2012 der Klägerin anstelle der bisherigen Rente erneut Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wiederum bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze. Den monatlichen Zahlbetrag ab dem 1.1.2013 setzte sie auf 470,08 EUR fest. Für die Zeit vom 1.9. – 31.12.2012 bezifferte sie die Nachzahlung mit 1.882,44 EUR. Allerdings werde die Nachzahlung vorläufig nicht überwiesen, so die Beklagte. Zunächst seien Ansprüche anderer Stellen zu klären, z.B. der Krankenkasse und der Agentur für Arbeit. Sie bitte die Klägerin daher um Mitteilung, ob und ggf. von welchem Leistungsträger sie ab dem 1.9.2012 Leistungen bezogen hat. Unter der Überschrift "Mitteilungspflichten und Mitwirkungspflichten" führte die Beklagte weiterhin aus, die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung werde nicht oder in verminderter Höhe gezahlt, sofern Einkommen die für diese Rente maßgebenden Hinzuverdienstgrenzen überschreitet; die Hinzuverdienstgrenzen fänden sich in der Anlage 19. Zu den Sozialleistungen, die die Klägerin mitteilen müsse, gehörten alle Entgeltersatzleistungen, z.B. Krankengeld oder Arbeitslosengeld. Maßgebend für die Höhe des Hinzuverdienstes sei nicht die Höhe der Sozialleistung; vielmehr komme es darauf an, wie hoch das Arbeitsentgelt ist, das der Sozialleistung zugrunde liegt.

Nach vorangegangener Anhörung vom 12.3.2014 nahm die Beklagte mit Bescheid vom 7.4.2014 den Bescheid über die Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 zurück; zugleich forderte sie von der Klägerin Erstattung eines Betrags in Höhe von 4.233,59 EUR. Zur Begründung gab sie an, der Klägerin habe im streitigen Zeitraum keine Rente zugestanden. Gemäß § 96a SGB VI werde eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nur geleistet, wenn die Hinzuverdienstgrenze nicht überschritten wird. Bestehe der Hinzuverdienst in einer Sozialleistung, sei das der Sozialleistung zugrunde liegende monatliche Arbeitsentgelt zu berücksichtigen. Im Laufe eines jeden Kalenderjahrs bleibe ein zweimaliges Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze außer Betracht. Im Falle der Klägerin hätten die Hinzuverdienstgrenzen im Jahr 2012 bei 1.795,25 EUR (in voller Höhe) / 2.185,52 EUR (in Höhe der Hälfte) und im Jahr 2013 bei 1.843,12 EUR (in voller Höhe) / 2.243,80 EUR (in Höhe der Hälfte) gelegen. Diese Grenzen habe die Klägerin ab Oktober 2012 überschritten: Vom 27.9.2012 – 28.3.2013 habe die Klägerin Arbeitslosengeld bezogen. Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes sei die Agentur für Arbeit von einem Bemessungsentgelt in Höhe von täglich 85,54 EUR ausgegangen. Daraus folge ein monatlicher Hinzuverdienst in Höhe von 2.566,20 EUR. Daran anschließend, vom 29.3. – 31.8.2013, habe die AOK der Klägerin Krankengeld gezahlt; die Höhe der Leistung habe die AOK "aus dem Arbeitslosengeld berechnet". Angesichts dessen habe auch in dieser Zeit der monatliche Hinzuverdienst 2.566,20 EUR betragen. Nur das zweimalige Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze im Oktober und November 2012 sei unschädlich. Für die Zeit danach habe die Klägerin hingegen keine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beanspruchen können. Auch die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X für eine rückwirkende Aufhebung der Bewilligung seien erfüllt. Nach dieser Vorschrift könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, wer die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. So verhalte es sich hier. Aufgrund der Hinweise im Rentenbescheid vom 16.11.2012 hätte der Klägerin klar sein müssen, dass die bezogenen Entgeltersatzleistungen die bewilligte Rente mindern oder gar entfallen lassen. Die zu Unrecht gezahlte Rente in Höhe von 4.233,59 EUR müsse die Klägerin gemäß § 50 SGB X erstatten. Sofern die Klägerin damit einverstanden sei, könne die Erstattungsforderung mit dem Anspruch der Klägerin auf Nachzahlung in Höhe von 1.882,44 EUR – der noch offen sei – verrechnet werden; die Erstattungsforderung würde sich dadurch auf 2.351,15 EUR reduzieren.

Hiergegen legte die Klägerin am 2.5.2014 Widerspruch ein. Sie machte geltend, gemäß § 45 Abs. 2 SGB X dürfe ein begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen sei in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht hat. Dies sei bei ihr der Fall. Entgegen der Auffassung der Beklagten lägen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X nicht vor: Sie, die Klägerin, habe bereits ab dem 27.9.2012 Arbeitslosengeld bezogen. Die Beklagte habe diese Leistung gekannt und dennoch, mit Bescheid vom 16.11.2012, Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bewilligt. Angesichts dieses zeitlichen Ablaufs habe sie, die Klägerin, davon ausgehen dürfen, der Bezug des Arbeitslosengeldes sei für die Rente unschädlich. Keinesfalls habe sie grob fahrlässig gehandelt. Gleiches gelte im Ergebnis für den anschließenden Bezug von Krankengeld; denn das ausgezahlte Krankengeld sei noch niedriger gewesen als das Arbeitslosengeld.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19.1.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie ergänzend aus, bei Erlass des Bewilligungsbescheids vom 16.11.2012 sei ihr nicht bekannt gewesen, dass die Klägerin Arbeitslosengeld erhält. Aus diesem Grund habe sie die Klägerin im Bescheid um Mitteilung gebeten, ob und ggf. von welchem Leistungsträger sie ab dem 1.9.2012 Leistungen bezogen hat. Zu dieser Mitteilung sei die Klägerin nach § 60 SGB I verpflichtet gewesen. Dennoch habe die Klägerin ihr den Bezug von Arbeitslosengeld in der Folgezeit nicht angezeigt – trotz des unmissverständlichen Hinweises auf die Relevanz dieser Leistung für die bewilligte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Es bestehe bei Ausübung des gebotenen Ermessens auch kein Anlass, von der Rücknahme der Bewilligung abzusehen. Denn der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Versicherten und das Gebot einer sachgerechten Mittelverwendung hätten höheres Gewicht als die persönlichen Interessen der Klägerin.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 20.2.2015 erhobenen Klage. Sie trägt ergänzend vor, der angefochtene Bescheid sei bereits formell rechtswidrig: Die Begründung des Bescheids entspreche nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 35 SGB X. Denn die Beklagte habe nicht angegeben, wie sie die Hinzuverdienstgrenzen errechnet hat; deren Überprüfung sei daher nicht möglich. Doch auch bei materieller Betrachtung erweise sich der Bescheid als falsch: Ihre Rente wegen voller Erwerbsminderung habe mit dem 31.8.2012 geendet. Erst über zwei Monate später, mit Bescheid vom 6.11.2012, habe die Beklagte dann Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bewilligt – und zwar rückwirkend. Angesichts dieser Lücke hätte sich der Beklagten aufdrängen müssen, dass sie zwischenzeitlich andere Sozialleistungen bezieht; denn anders hätte sie ihren Lebensunterhalt gar nicht bestreiten können. Ihr, der Klägerin, sei daher nicht vorzuwerfen, dass sie geglaubt habe, der Beklagten sei der Bezug von Arbeitslosengeld bereits bekannt und dessen Mitteilung also entbehrlich. Außerdem sei ihr der Bewilligungsbescheid vom 16.11.2012 erst am 19.11.2012 zugegangen. Der Hinweis auf die Mitteilungspflicht in diesem Bescheid könne Wirkung nur für die Zukunft entfalten, nicht hingegen rückwirkend. Fraglich erscheine schließlich, ob die Beklagte die Frist nach § 45 Abs. 4 SGB X gewahrt habe. Nach dieser Vorschrift müsse die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen, welche die Rücknahme rechtfertigen. Hier habe die Jahresfrist bereits am 16.11.2012 begonnen. Denn wie ausgeführt habe sich die Beklagte spätestens seit diesem Zeitpunkt grob fahrlässig der Erkenntnis verschlossen, dass sie, die Klägerin, Arbeitslosengeld bezieht.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 7.4.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.1.2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie trägt ergänzend vor, zu Recht habe sie auch das Krankengeld als Hinzuverdienst berücksichtigt. Denn die Arbeitsunfähigkeit sei erst am 15.2.2013 eingetreten, also nach Beginn der Rente.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Prozessakte S 12 R 1155/13 sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Klage ist zulässig und begründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 7.4.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.1.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Dies gilt sowohl für die Rücknahme der Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (dazu a) als auch für die Erstattungsforderung (dazu b).

a) Es besteht keine Rechtsgrundlage, die eine Rücknahme der Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 gestattet. Zwar hatte die Klägerin im streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (dazu aa); die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Rücknahme des Bewilligungsbescheids sind aber nicht erfüllt (dazu bb).

aa) In der streitigen Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 stand der Klägerin keine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu, ebenso wenig davor in der Zeit vom 1.10. – 30.11.2012.

Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit wird nicht geleistet, wenn der Hinzuverdienst des Versicherten die maßgebliche Hinzuverdienstgrenze überschreitet (§ 96a Abs. 1 S. 1 SGB VI). Als Hinzuverdienst zu berücksichtigen sind u.a. Arbeitslosengeld und Krankengeld (§ 96a Abs. 3 S. 1 Nr. 4 SGB VI i.V.m. § 18a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB IV), Krankengeld allerdings nur, wenn es aufgrund von Arbeitsunfähigkeit geleistet wird, die nach dem Beginn der Rente eingetreten ist (§ 96a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 a) SGB VI). Für die Höhe des Hinzuverdienstes kommt es auf das der Sozialleistung zugrunde liegende monatliche Arbeitsentgelt an (§ 96a Abs. 3 S. 3 SGB VI). Ein zweimaliges Überschreiten um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines jeden Kalenderjahres bleibt außer Betracht (§ 96a Abs. 1 S. 2 SGB VI) – es sei denn, der gleichbleibende Hinzuverdienst liegt durchgehend und länger als zwei Kalendermonate über der maßgeblichen Grenze; dann gilt diese Vergünstigung nicht (BSG, Urteil vom 6.2.2007, B 8 KN 3/06 R, Rdnr. 24 ff. – nach Juris; Quinten in: LPK-SGB VI, 3. Aufl., § 96a Rdnr. 29; andere Ansicht Kamprad in: Hauck/Noftz, SGB VI, § 96a Rdnr. 37 und 40).

Mit Bescheid vom 17.10.2012 hatte die Agentur für Arbeit der Klägerin Arbeitslosengeld ab dem 27.9.2012 in Höhe von 1.128,90 EUR pro Monat bewilligt. Dem lag ein Bemessungsentgelt in Höhe von 2.566,20 EUR zugrunde. Ab dem 15.2.2013 – also nach Beginn der Rente – war die Klägerin arbeitsunfähig. Die Agentur für Arbeit hob daraufhin mit Bescheid vom 22.3.2013 die Bewilligung von Arbeitslosengeld zum Ablauf der sechswöchigen Leistungsfortzahlung am 29.3.2013 auf. Nahtlos anschließend, ab dem 29.3.2013, erhielt die Klägerin von der AOK Krankengeld, wiederum in Höhe von 1.128,90 EUR pro Monat; denn Krankengeld wird für pflichtversicherte Arbeitslose in Höhe des Betrages des Arbeitslosengeldes gewährt, den der Versicherte zuletzt bezogen hat (§ 47b Abs. 1 S. 1 SGB V). Die Bemessungsgrundlage blieb also während des Bezugs von Krankengeld gleich. Somit betrug der maßgebliche Hinzuverdienst der Klägerin vom 1.10.2012 – 31.8.2013 unverändert und durchgehend 2.566,20 EUR pro Monat. Er lag also über sämtlichen maßgeblichen Hinzuverdienstgrenzen, nämlich im Jahr 2012: 1.795,25 EUR (in voller Höhe) / 2.185,52 EUR (in Höhe der Hälfte) und im Jahr 2013: 1.843,12 EUR (in voller Höhe) / 2.243,80 EUR (in Höhe der Hälfte). Vor diesem Hintergrund hatte die Klägerin in der Zeit vom 1.10.2012 – 31.8.2013 keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

bb) Dennoch durfte die Beklagte den Bescheid vom 16.11.2012 über die Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nicht rückwirkend für die Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 zurücknehmen.

Soweit – wie hier – ein begünstigender Verwaltungsakt bereits bei seinem Erlass rechtswidrig ist, darf er mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den Fällen des § 45 Abs. 2 S. 3 und Abs. 3 S. 2 SGB X zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 1 und 4 S. 1 SGB X). Allenfalls zu erwägen, im Ergebnis aber nicht einschlägig sind hier die Fälle des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X (dazu (1)) und § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X (dazu (2)).

(1) Gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Eine unrichtige "Angabe" kann auch im Verschweigen eines relevanten Umstandes liegen, wenn der Begünstigte zu dessen Mitteilung verpflichtet war (Schütze in: von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl., § 45 Rdnr. 49). Allerdings muss die Verletzung der Mitteilungspflicht ursächlich für die fehlerhafte Bewilligung geworden sein; denn nur dann "beruht" der Verwaltungsakt darauf (Schütze, a.a.O., Rdnr. 50). Kausal können nur solche Vorgänge sein, die vor Erlass des rechtswidrigen Bescheids liegen; eine etwaige Verletzung der Mitteilungspflicht nach dessen Erlass ist unerheblich. Ebenso fehlt es an der erforderlichen Kausalität, wenn die der Behörde vorliegenden Informationen offenkundig unvollständig sind, die Behörde aber nicht gemäß § 16 Abs. 3 SGB I auf eine Ergänzung der unvollständigen Angaben hinwirkt, sondern ohne weiteres den begünstigenden Verwaltungsakt erlässt (Schütze, a.a.O.; Padé in: jurisPK-SGB X, § 45 Rdnr. 82; Waschull in: LPK-SGB X, 3. Aufl., § 45 Rdnr. 39).

Gemessen hieran ist eine etwaige Verletzung der Mitteilungspflicht durch die Klägerin jedenfalls nicht ursächlich für die Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheids vom 16.11.2012: Mit dem Wegfall der befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung am 31.8.2012 stellte die Beklagte zunächst jegliche Rentenzahlung ein – obwohl sie verpflichtet gewesen wäre, der Klägerin ab dem 1.9.2012 wieder Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu leisten. Denn mit Bescheid vom 16.11.2010 hatte sie diese Rente bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze bewilligt. Erst am 17.10.2012 (Seite 561 der Verwaltungsakte) realisierte die Beklagte, dass sie noch die bereits bewilligte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung mit Wirkung zum 1.9.2012 anpassen und auszahlen muss. Ohne sich vorher an die Klägerin zu wenden und sie zu ihren aktuellen Verhältnissen zu befragen (etwa durch ein neues Antragsformular), erließ die Beklagte sodann den Bewilligungsbescheid vom 16.11.2012. Dabei war ihr offenkundig bewusst, dass sie nicht über alle erforderlichen Daten verfügte, insbesondere nicht vollständig über etwaige andere Sozialleistungen informiert war. Gerade aus diesem Grund bat sie die Klägerin im Bescheid (aber eben nicht vorher) um Mitteilung, ob und ggf. von welchem Leistungsträger diese ab dem 1.9.2012 Leistungen bezogen hat. War demnach der Beklagten die Unvollständigkeit der Daten bewusst, so "beruhte" der Bewilligungsbescheid vom 16.11.2012 nicht auf falschen Angaben der Klägerin, sondern auf der Entscheidung der Beklagten, trotz der lückenhaften Informationen sehenden Auges Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu bewilligen,

(2) Ebenso wenig erfüllt sind nach Auffassung der Kammer die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X.

Nach dieser Vorschrift kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Bezugspunkt des subjektiven Tatbestandes ist die begünstigende Regelung, nicht hingegen der Sachverhalt, den die Behörde dem Bescheid zugrunde gelegt hat. Es genügt also nicht, dass der Begünstigte wusste oder wissen musste, dass die Behörde bei Erlass des Bescheids von falschen Tatsachen ausgegangen ist. Hinzukommen muss die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Begünstigten, dass die darauf fußende Regelung mit der Rechtslage unvereinbar ist und ihm die bewilligte Leistung (so) nicht zusteht (Schütze, a.a.O., Rdnr. 55; Padé, a.a.O., Rdnr. 91). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 Hs. 2 SGB X). Dabei ist ein subjektiver Maßstab zugrunde zu legen: Ob der Begünstigte die Rechtswidrigkeit einer Regelung erkennen musste, bemisst sich nach seinem individuellen Einsichtsvermögen – und zwar auch dann, wenn die Behörde im Bescheid Hinweise zur Rechtslage gegeben hat (Schütze, a.a.O., Rdnr. 58; Padé, a.a.O., Rdnr. 88). Eine besonders schwere Verletzung der Sorgfaltspflicht ist nur anzunehmen, wenn der Begünstigte mit seinen individuellen Möglichkeiten die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung schon aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen ohne weitere Nachforschungen hätte erkennen können, wenn der Fehler also gleichsam ins Auge springt (Schütze, a.a.O., Rdnr. 56; Padé, a.a.O.; Waschull, a.a.O., Rdnr. 43 f.). Maßgeblicher Zeitpunkt für den subjektiven Tatbestand ist die Bekanntgabe des begünstigenden Verwaltungsaktes (Schütze, a.a.O., Rdnr. 60; Padé, a.a.O., Rdnr. 93).

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, die Klägerin habe schon bei Bekanntgabe des Bescheids vom 16.11.2012 gewusst, dass ihr die bewilligte Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ab dem 1.10.2012 aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld nicht mehr zusteht.

Die Unkenntnis der Klägerin beruhte nach Auffassung der Kammer auch nicht auf grober Fahrlässigkeit:

Allerdings musste die Klägerin wohl – entgegen ihrem Vortrag – erkennen, dass die Beklagte nichts von dem am 17.10.2012 bewilligten Arbeitslosengeld wusste. Denn die Beklagte hatte sie im Bescheid vom 16.11.2012 ausdrücklich um Mitteilung gebeten, ob und ggf. von welchem Leistungsträger sie ab dem 1.9.2012 Leistungen bezogen hat. Diese Bitte wäre unverständlich, hätte die Beklagte bereits die Bewilligung des Arbeitslosengeldes gekannt.

Angesichts dessen war für die Klägerin zwar leicht ersichtlich, dass die Beklagte die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung ohne Berücksichtigung des Arbeitslosengeldes berechnet hatte, also von einem falschen Sachverhalt ausgegangen ist. Hieraus musste die Klägerin aber nicht ohne weiteres ableiten, bei (zutreffender) Berücksichtigung des Arbeitslosengeldes hätte die Beklagte keine Rente bewilligen dürfen:

Wie erwähnt, bleibt gemäß § 96a Abs. 1 S. 2 SGB VI ein zweimaliges Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze um jeweils einen Betrag bis zur Höhe der Hinzuverdienstgrenze im Laufe eines jeden Kalenderjahres außer Betracht – es sei denn, der gleichbleibende Hinzuverdienst liegt durchgehend und länger als zwei Kalendermonate über der maßgeblichen Grenze. Im vorliegenden Fall dauerte der schädliche Hinzuverdienst bei Bekanntgabe des Bescheids vom 16.11.2012 noch nicht länger als zwei Monate an; denn die Hinzuverdienstgrenze hatte die Klägerin erstmals im Oktober 2012 überschritten. Wäre das Arbeitslosengeld im Dezember 2012 entfallen, hätte die Klägerin ab dem 1.10.2012 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beanspruchen können – das zweimalige Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze im Oktober und November 2012 wäre dann unschädlich gewesen. Stand also bei Bekanntgabe des Bescheids vom 16.11.2012 noch gar nicht abschließend fest, ob die Rente zu leisten sein wird, musste die Klägerin zu diesem Zeitpunkt die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung noch nicht erkennen.

Gegen die Annahme grober Fahrlässigkeit spricht zudem, dass die Klägerin das Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze nicht "auf einen Blick" erfassen konnte; vielmehr musste sie dafür erst Berechnungen anstellen: Zwar hatte die Beklagte die maßgeblichen Hinzuverdienstgrenzen in der Anlage 19 zum Bescheid vom 16.11.2012 recht übersichtlich dargestellt (im Jahr 2012: 1.795,25 EUR (in voller Höhe) / 2.185,52 EUR (in Höhe der Hälfte) und im Jahr 2013: 1.843,12 EUR (in voller Höhe) / 2.243,80 EUR (in Höhe der Hälfte)). Allerdings konnte die Klägerin hieraus nicht ohne weiteres schließen, ihr Arbeitslosengeld überschreite die Hinzuverdienstgrenze. Denn das Arbeitslosengeld der Klägerin betrug nur 1.129,90 EUR pro Monat, lag also rein tatsächlich deutlich unter den mitgeteilten Hinzuverdienstgrenzen. Um die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung zu erkennen, musste die Klägerin daher weiter wissen, (1.) dass es nicht auf den Zahlbetrag des Arbeitslosengeldes ankommt, sondern auf das Bemessungsentgelt, und (2.) wie hoch dieses Bemessungsentgelt in ihrem Fall ist. Zum ersten Punkt findet sich auf Seite 2 der Anlage 19 zum Bescheid vom 16.11.2012 immerhin der – etwas versteckte – Hinweis der Beklagten, maßgebend für die Höhe des Hinzuverdienstes sei nicht die Höhe der Sozialleistung; vielmehr komme es darauf an, wie hoch das Arbeitsentgelt ist, das der Sozialleistung zugrunde liegt. Keinen Hinweis gibt es hingegen dazu, dass beim Arbeitslosengeld daher auf das Bemessungsentgelt abzustellen sei (und zum Beispiel nicht auf das Leistungsentgelt oder den Leistungssatz). Auch im Bewilligungsbescheid der Agentur für Arbeit vom 17.10.2012 findet sich dazu keine Erklärung. Zudem ist das maßgebliche Bemessungsentgelt dort nur auf täglicher Basis angegeben (85,54 EUR). Um den maßgeblichen Hinzuverdienst zu errechnen, muss dieser Betrag erst mit dem Faktor 30 multipliziert werden. Sofern die Klägerin diese Zusammenhänge nicht erkannt hat, stellt dies jedenfalls keine besonders schwere Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten dar.

Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass die Klägerin bei Bekanntgabe des Bescheids vom 16.11.2012 psychisch beeinträchtigt war: Der behandelnde Facharzt für Neurologie Dr. S. hatte am 15.10.2012 – also ca. einen Monat vor dem maßgeblichen Zeitpunkt – bei der Klägerin eine Depression festgestellt, verbunden mit Tagesmüdigkeit, einer Antriebsstörung und verminderter Stresstoleranz (Arztbrief vom 20.10.2012). Der psychische Befund verschlechterte sich nach der ärztlichen Untersuchung vom 15.10.2012 offenbar weiter. Aufgrund dessen musste die Klägerin vom 15.2. – 28.3.2013 u.a. wegen einer schweren depressiven Episode in der Klinik Dr. R. stationär behandelt werden (Entlassbericht vom 3.4.2013). Auch der Sachverständige Dr. W. diagnostizierte mit Gutachten vom 21.10.2013 (im Verfahren S 12 R 1155/13) eine chronifizierte depressive Störung. Dies deutet darauf hin, dass die Fähigkeit der Klägerin, einen komplexen Rentenbescheid inhaltlich zu prüfen, im November 2012 limitiert war.

Unter Berücksichtigung all dessen gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, die Klägerin habe weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt.

b) Hat die Beklagte somit die Bewilligung von Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.12.2012 – 31.8.2013 nicht wirksam zurückgenommen, scheidet auch eine Verpflichtung zur Erstattung der Rente aus. Denn gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X sind erbrachte Leistungen nur zu erstatten, soweit der zugrunde liegende Verwaltungsakt aufgehoben worden ist.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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