L 5 R 292/15

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 206/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 292/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 12. August 2015 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Sozialgericht Gießen zurückverwiesen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit streitig.

Der 1965 geborene Kläger stellte am 19. September 2014 Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Beklagte holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei dem Arzt für Neurologie Dr. C. vom 24. November 2014 ein, wonach der Kläger bei den Diagnosen einer cervicalen Wurzelkompression C5/6/7, einer Lumboischialgie beidseits sowie einer Wurzelkompression S1 zwar die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Kommissionierer nicht mehr ausüben könne, er jedoch noch in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Arbeiten mit Einschränkungen 6 Stunden und mehr täglich zu verrichten.

Darüber hinaus holte die Beklagte ein Gutachten des sozialmedizinischen Dienstes (D., Fachärztin für Chirurgie) vom 6. Januar 2015 ein. Die Gutachterin stellte als Hauptdiagnosen eine hochgradige Minderbelastbarkeit der HWS nach Versteifungsoperation und ein LWS-Syndrom fest und gelangte zu der sozialmedizinischen Beurteilung, der Kläger werde noch für fähig erachtet, leichte körperliche Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Die letzte berufliche Tätigkeit als Arbeiter in der Wareneingangskontrolle sei dauerhaft nicht mehr als geeignet anzusehen.

Hierauf gestützt und unter weiterer Berücksichtigung des im vorangegangenen Rentenverfahren eingeholten Gutachtens des sozialmedizinischen Dienstes vom 27. Mai 2013 (Dr. E., Fachärztin für Chirurgie/Sozialmedizin) lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Januar 2015 den Rentenantrag ab. Den dagegen am 9. Februar 2015 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17. April 2015 zurück.

Mit der am 8. Mai 2015 zum Sozialgericht Gießen erhobenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren weiter und machte geltend, entgegen der Auffassung der Beklagten sei er nicht mehr in der Lage, vollschichtig zu arbeiten. Der Kläger verwies insoweit auf ein Gutachten der Praxisklinik Mittelhessen in Wetzlar (Dr. F.), wonach er Arbeiten von wirtschaftlichem Wert überhaupt nicht mehr verrichten könne. Zugleich beantragte der Kläger zur weiteren Begründung der Klage Akteneinsicht.

Im Rahmen der Eingangsbestätigung verfügte das Sozialgericht am 13. Mai 2015 (gefertigt und abgesandt am 22. Mai 2015) die Übersendung des Vordrucks "S 17c" (Entbindung von der Geheimhaltungs- und ärztlichen Schweigepflicht) an die Prozessbevollmächtigten des Klägers.

Im weiteren Verlauf übersandte das Sozialgericht mit Schreiben vom 17. Juni 2015 die zwischenzeitlich eingegangene Verwaltungsakte an die Prozessbevollmächtigten des Klägers (Eingang dort am 26. Juni 2015) und bat erneut um Vorlage der Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht.

Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2015 teilte das Büro der Prozessbevollmächtigten des Klägers mit, der alleinige Sachbearbeiter, Rechtsanwalt B., befinde sich noch bis zum 13. Juli 2015 in seinem Jahresurlaub. Eine weitere Bearbeitung sei daher erst im Anschluss möglich.

Mit Schreiben vom 23. Juli 2015 erinnerte das Sozialgericht an die Rückgabe der Verwaltungsakte, worauf diese mit Schreiben der Prozessbevollmächtigten vom 30. Juli 2015 (Eingang bei dem Sozialgericht am 31. Juli 2015) zurückgegeben wurde. In dem Schreiben erfolgte der Hinweis, es sei bereits mit Schreiben vom 1. Juli 2015 die auftretende Verzögerung mitgeteilt worden.

Das Sozialgericht hörte die Beteiligten mit Schreiben vom 30. Juli 2015 im Hinblick auf eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid unter Fristsetzung von einer Woche an und wies darauf hin, die Schweigepflichtentbindungserklärung sei noch nicht zur Akte gelangt. Sofern diese nicht innerhalb der Wochenfrist nachgereicht werde, erfolge die Entscheidung durch Gerichtsbescheid.

Durch Gerichtsbescheid vom 12. August 2015 wies das Sozialgericht die Klage mit der Begründung ab, mangels Vortrag sei nicht ersichtlich, weshalb sich der Kläger gegen den angegriffenen Bescheid wende. Mangels Vorliegen einer Schweigepflichtentbindung seien Ermittlungen des Gerichts ebenfalls nicht möglich. Im Übrigen nahm das Sozialgericht Bezug auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid.

Mit Beschluss vom selben Tag lehnte das Sozialgericht den gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit identischer Begründung ab, es fehle an hinreichender Erfolgsaussicht.

Am 18. August 2015 ging bei dem Sozialgericht ein Schriftsatz der Beklagten vom selben Tag ein, wonach Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid bestehe.

Gegen den dem Kläger am 12. August 2015 mittels Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich seine am 14. September 2015 (Montag) bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegte Berufung. Er trägt im Wesentlichen vor, das Sozialgericht habe seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Gericht sei über den Jahresurlaub des Prozessbevollmächtigten und die sich daraus ergebende Verzögerung informiert gewesen und habe gleichwohl überraschenderweise durch Gerichtsbescheid entschieden, ohne auf die angekündigte weitere Stellungnahme zu warten. Im Übrigen sei die mit Schreiben des Gerichts vom 30. Juli 2015 gesetzte Frist zur Stellungnahme von einer Woche viel zu kurz gewesen. Insoweit sei weiterer Schriftverkehr zwischen ihm und seinem Prozessbevollmächtigten erforderlich geworden mit entsprechenden Postlaufzeiten. Die zu kurz angesetzte Frist sei deshalb unwirksam. Ergänzend legt der Kläger eine Erklärung über die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht vor.

Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 12. August 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2014 unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht Gießen zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die angefochtenen Bescheide und die klageabweisende Entscheidung und weist ergänzend darauf hin, das von dem Kläger genannte Gutachten von Dr. F. sei von der Agentur für Arbeit in Auftrag gegeben worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 SGG eingelegt worden.

Die Berufung des Klägers ist auch im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Gießen vom 12. August 2015 und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht gemäß dem Hilfsantrag begründet. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und aufgrund dieses Mangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.

Es liegt zunächst ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, denn das Sozialgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wesentlich ist ein Mangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts auf ihm beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 11. Auflage, § 159 Rn. 3a). Gemäß § 62 SGG ist vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren. Nach § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 128 Abs. 2 SGG darf ein Gerichtsbescheid nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs hat Grundrechtsqualität (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) und garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, 2 BvR 153/02 m. w. N.), wobei der Anspruch aus den Elementen des Rechts auf Information, des Rechts auf Äußerung und des Rechts auf Berücksichtigung besteht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. September 2006, 1 BvR 2026/06; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O., § 62 Rdnr. 6 m.w.N.). Das Recht auf Äußerung gebietet, dass dem Beteiligten hierfür ausreichend Zeit eingeräumt wird. Soweit das Gericht Fristen setzt, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes folgende Grundsätze zu beachten: Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn die vor Erlass der Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um sich innerhalb der Frist sachlich fundiert zu äußern. Richterlich gesetzte Fristen müssen so bemessen sein, dass das rechtliche Gehör nicht in unzumutbarer Weise erschwert wird. Ob eine Frist objektiv ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Bei eilbedürftigen Verfahren oder einfach gelagerten Sachverhalten ist eine kürzere Frist ausreichend. Stets müssen aber richterliche Fristen im Gegensatz zu gesetzlichen Fristbestimmungen, die typisieren dürfen, den genannten Maßstäben in stärkerem Maße individualisierend gerecht werden (vgl. zu allem: BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 a.a.O.).

An diesen Maßstäben gemessen ist vorliegend davon auszugehen, dass das Sozialgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt hat. Entscheidend ist zu berücksichtigen, dass die Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Erhebung der Klage eine ergänzende Klagebegründung angekündigt und hierfür vorherige Akteneinsicht beantragt haben. Die von dem Sozialgericht bei der Beklagten angeforderte Verwaltungsakte ging am 15. Juni 2015 ein und wurde mit Schreiben vom 17. Juni 2015 der Klägerseite übersandt. Es kann unter Zugrundelegung einer dreitägigen Postlaufzeit davon ausgegangen werden, dass die Akte am 20. Juni 2015 (Samstag) im Büro der Bevollmächtigten vorlag. Mit Schreiben vom 1. Juli 2015 und damit am 8. Arbeitstag danach teilten die Prozessbevollmächtigten die Urlaubsabwesenheit des sachbearbeitenden Rechtsanwalts B. bis zum 13. Juli 2015 mit und wiesen darauf hin, dass eine weitere Bearbeitung erst im Anschluss möglich sei. Die Rückgabe der Akte erfolgte - nach Erinnerung durch das Sozialgericht mit Schreiben vom 23. Juli 2015 - am 31. Juli 2015 (Schreiben vom 30. Juli 2015) verbunden mit einem Hinweis auf den Grund der aufgetretenen Verzögerung. Soweit angesichts dieses Ablaufes das Sozialgericht mit Fax-Schreiben vom 30. Juli 2015 und damit noch einen Tag vor Rücklauf der Verwaltungsakte hinsichtlich einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und eine Äußerungsfrist von lediglich einer Woche gesetzt hat, wird dies den aufgezeigten Grundsätzen aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Bereits die regelhaft anzunehmenden Laufzeiten von Verfahren, die die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente zum Gegenstand haben, von einem Jahr und darüber hinaus sprechen gegen die Angemessenheit der hier gesetzten einwöchigen Frist. Insoweit handelt es sich gerade nicht um ein Eilverfahren, in dem es auf zügige Äußerungen der Beteiligten ankommt. Darüber hinaus haben es die Einzelfallumstände geboten, den Prozessbevollmächtigten des Klägers eine weitergehende Frist einzuräumen. Zwar währte die Urlaubsabwesenheit des sachbearbeitenden Bevollmächtigten lediglich bis zum 13. Juli 2015. Es liegt jedoch auf der Hand, dass nach Urlaubsrückkehr üblicherweise eine Vielzahl von Verfahren aufgelaufen ist, die nicht gleichzeitig innerhalb kurzer Frist abgearbeitet werden können. Wird weiter berücksichtigt, dass die Akteneinsicht mit der Rückgabe am 31. Juli 2015 beendet war, führte eine - ausgehend von dem 30. Juli 2015 - gestellte Frist bis lediglich zum 6. August 2015 zu einer unzumutbaren Erschwerung der Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Vorliegend hätte eine deutlich längere Frist angesetzt werden müssen, um dem Anspruch des Klägers gerecht zu werden. Es kann dahingestellt bleiben, welche genaue Frist angemessen gewesen wäre, jedenfalls stellt sich eine Entscheidung noch am 12. August 2015 und damit am 9. Arbeitstag nach Fristsetzung als Gehörsverletzung und damit als Verfahrensmangel dar. Dieser ist auch wesentlich, denn es ist offensichtlich, dass im Falle des Abwartens der Äußerung des Klägers und der ausstehenden Schweigepflichtentbindungserklärung die anschließenden Ermittlungen möglicherweise zu einem anderen Ergebnis geführt hätten.

Ist mithin dem Sozialgericht ein wesentlicher Verfahrensfehler unterlaufen, ist die weitere Voraussetzung des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ebenfalls erfüllt, wonach aufgrund des Verfahrensmangels eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig sein muss (vgl. hierzu Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O., § 159 Rn. 4). Dies trifft hier zu. Der Kläger hat den Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2015 zur Überprüfung gestellt, mit dem sein Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente abgelehnt worden ist. Die Überprüfung gebietet, zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte und darüber hinaus ggf. medizinische Sachverständigengutachten einzuholen.

Im Rahmen des ihm nach § 159 Abs. 1 SGG eingeräumten Ermessens hält es der Senat für sachgerecht und zweckmäßig, das Verfahren an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Der Senat hat sich dabei davon leiten lassen, dass dem Kläger zwei Tatsacheninstanzen erhalten bleiben sollen, der Rechtsstreit erst kurze Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist und deshalb die Verfahrensdauer nicht wesentlich verlängert wird.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O. § 193 Rdnr. 2a).

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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