S 96 AS 23231/15 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
96
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 96 AS 23231/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Es ist von dem Hilfebedürftigen jedenfalls dann zu fordern, eine an sich kostenangemessene Wohnung zu verlassen und nach einem Umzug (der sich dann als notwendig iSd § 22 Abs. 4 S. 2 SGB II darstellt) eine neue Wohnung zu beziehen, wenn durch sein unwirtschaftliches Verhalten (hier die zweckwidrige Verwendung der nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II gewährten Mittel) eine Schuldenlage entstanden ist.
2. Die Herbeiführung von hohen Mietrückständen durch wiederholt zweckwidrige Mittelverwendung führt zu einer besonders hohen Pflicht des Leistungsberechtigen zur Entfaltung von Eigenbemühungen zur Selbsthilfe.
3. Im Falle bewusst zweckwidrigen Verhaltens kann allein die Tatsache des Zusammenlebens mit einem minderjährigen Kind nicht zur Übernahme der Mietschulden führen, solange die Möglichkeiten der Beschaffung einer Ersatzunterkunft nicht ausgeschöpft sind.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Übernahme der Mietschulden wird abgelehnt.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragstellerin bezieht in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem 2011 geborenen Sohn beim Antragsgegner Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Sie bewohnt eine Wohnung zu einer derzeitigen Bruttowarmmiete in Höhe von 450,63 EUR (Grundmiete: 283,13 EUR, kalte Betriebskosten: 117,50 EUR, Heizkosten: 50,00 EUR).

Der Antragsgegner hat in der Vergangenheit stets die vollen Unterkunftskosten, inklusive etwaig angefallener Nachforderungen aus Betriebs- oder Heizkosten übernommen und auf das Konto der Antragstellerin überwiesen. So hat der Antragsgegner beispielsweise die Nachforderung aus der Betriebskostenabrechnung vom 23.07.2014 für das Jahr 2013 in Höhe von 1.373,65 EUR übernommen.

Die Antragstellerin ihrerseits zahlte die Miete und Betriebskostennachforderungen teilweise nicht an den Vermieter. Bereits seit dem Jahr 2011 bestanden Mietschulden, die die Antragstellerin teilweise durch Ratenzahlungen verringern konnte. Am 1. Januar 2014 bestand ein Mietrückstand in Höhe von über 2.000 EUR. Die Betriebskostennachforderung vom 23.07.2014 sowie die Mieten für Oktober 2014 bis Januar 2015 beglich die Antragstellerin gänzlich nicht. Hierdurch entstand zum Januar 2015 ein Rückstand von 4.606,24 EUR. Am 6. Januar 2015 kündigte der Vermieter das Mietverhältnis fristlos. Eine Ratenzahlung lehnte er ab.

Am 9. Januar 2015 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Übernahme der Mietschulden. Mit Schreiben vom 30. Januar 2015 teilte die Antragstellerin mit, sie habe die Miete nicht gezahlt, da sie damit private Schulden gedeckt habe. Auch in der weiteren Folgezeit zahlte die Antragstellerin für die Monate Februar und März 2015 keine Miete mehr.

Am 4. Mai 2015 erhob der Vermieter Räumungsklage, welcher mit Urteil vom 10. August 2015 stattgegeben wurde. Die Räumung der Wohnung durch den Gerichtsvollzieher war ursprünglich für den 16. Dezember 2015 vorgesehen und wurde zwischenzeitlich auf den 27. Januar 2016 verschoben.

Mit Bescheid vom 13. November 2015 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der Mietschulden ab, da es sich um einen Fall der zweckwidrigen Verwendung der an die Antragstellerin ausgezahlten Leistungen handele.

Die Antragstellerin ist der Ansicht, einen Anspruch auf Übernahme der Mietrückstände zu haben. Ihre Miete sei für zwei Personen sehr günstig. Eine vergleichbare Wohnung lasse sich in Moabit nicht finden. Da die Kita ihres Sohnes, die er seit September 2012 besuche, nur wenige Gehminuten entfernt sei, sei ein Verlassen der Umgebung unzumutbar. Einen Umzug könne die Antragstellerin nicht bewältigen, da sie keine Hilfe habe.

In dem am 13. November 2015 eingeleiteten Eilverfahren beantragt die Antragstellerin sinngemäß,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, umgehend die Mietrückstände in Höhe von 5.462,70 EUR sowie die damit verbundenen, dem Vermieter entstandenen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.006,94 EUR als Darlehen zu übernehmen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er ist der Ansicht, die Übernahme der Mietschulden sei nicht gerechtfertigt, da die Antragstellerin über Jahre hinweg Mietschulden billigend in Kauf genommen und die Räumungsklage sehenden Auges herbeigeführt habe. Die Antragstellerin habe die Leistungen vorsätzlich zweckentfremdet. Ein Selbsthilfewillen sei in keiner Weise erkennbar.

Auf Nachfrage des Gerichts teilte die Antragstellerin im Verfahren mit, sie habe mit den Mietzahlungen Schulden im Freundeskreis beglichen, was ein Fehler gewesen sei. In einem Schreiben vom 24. November 2015 erklärt der Vermieter, das Mietverhältnis fortzusetzen, wenn der Mietrückstand in Höhe von 5.462,70 EUR sowie die Verfahrens-, Rechtsanwalts- und Räumungskosten in Höhe von bisher 3.006,94 EUR ausgeglichen würden.

Mit Schreiben vom 9. Dezember 2015 hat das Gericht die Antragstellerin um Mitteilung gebeten, ob sie sich um neuen Wohnraum bemüht habe und bat um Vorlage konkreter Wohnungsangebote und entsprechender Ablehnungen der Bewerbungen. Das Gericht hat der Antragstellerin empfohlen, sich umgehend bei den großen Wohnungsbaugesellschaften um Wohnungen zu bemühen und persönlich beim Bezirksamt mit der Bitte um Vermittlung einer Ersatzwohnung vorzusprechen. Am 11. Dezember 2015 hat das Gericht die Erklärung des Antragsgegners "Zur Vorlage beim Vermieter" an die Antragstellerin übersandt, in dem der Antragsgegner sich zur Übernahme der Unterkunftskosten in angemessener Höhe bereit erklärt. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2015 hat die Antragstellerin ohne Beifügung etwaiger Nachweise pauschal vorgetragen, es sei "sehr schwer, in dieser Preislage eine Wohnung in der Nähe der Kita" ihres Sohnes zu finden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Antragstellerin betreffenden Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen, die dem Gericht bei seiner Entscheidung vorgelegen haben.

II.

Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind nicht erfüllt. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür muss der Antragsteller nach § 86b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der zu sichernde Hauptsacheanspruch dem Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zusteht, wenn also das Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache bei summarischer Prüfung überwiegende Erfolgsaussichten hat. Ein Anordnungsgrund ist dann anzunehmen, wenn dem Antragsteller ein Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht zuzumuten ist, weil ihm ohne Erlass der einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile drohen, die auch nach einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht hat. Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 SGB II liegen nicht vor.

Nach § 22 Abs. 8 S. 1 SGB II können Schulden übernommen werden, sofern Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird und dies zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist. Danach steht die Übernahme der Schulden im Ermessen des Grundsicherungsträgers. Dieses Ermessen ist nach Satz 2 eingeschränkt, wenn die Übernahme der Schulden gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. In diesem Fall sollen die Schulden übernommen werden. Da bereits ein Termin für die Räumung der Wohnung der Antragstellerin für den 27. Januar 2016 feststeht und der Vermieter nur bereit ist, das Mietverhältnis bei einer Zahlung der Schulden und Rechtsverfolgungskosten fortzusetzen, sind die Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II im konkreten Fall zu prüfen. Zwar droht der Verlust der derzeit bewohnten Wohnung am 27. Januar 2016. Soweit allerdings eine angemessene neue Wohnung gefunden werden kann, liegt drohende Wohnungslosigkeit regelmäßig nicht vor (BSG, Urteil vom 17. Juni 2010, B 14 AS 58/09 R). Es ist von dem Hilfebedürftigen jedenfalls dann zu fordern, eine an sich kostenangemessene Wohnung zu verlassen und nach einem Umzug (der sich dann als notwendig iSd § 22 Abs. 4 S. 2 SGB II darstellt) eine neue Wohnung zu beziehen, wenn durch sein unwirtschaftliches Verhalten (hier die zweckwidrige Verwendung der nach § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II gewährten Mittel) eine Schuldenlage entstanden ist. Es geht auch im Anwendungsbereich des § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II nicht darum, den Hilfebedürftigen finanziell durch die Übernahme der Schulden zu entlasten. Deshalb kann dem Verlust einer angemessenen Unterkunft auch dadurch begegnet werden, dass eine neue Wohnung bezogen wird (BSG, Urteil vom 17. Juni 2010, B 14 AS 58/09 R).

So liegt der Fall hier. Zwar ist es dem Antragsgegner selbst nicht möglich, der Antragstellerin kurzfristig eine Ersatzwohnung zu vermitteln. Die Antragstellerin hat jedoch nicht ansatzweise glaubhaft gemacht, dass es ihr selbst nicht gelingt, eine kostenangemessene Ersatzwohnung zu finden. Nach heutiger Recherche der Vorsitzenden auf der Plattform "Immoblienscout 24" sind allein im Umkreis von 15 Fahrminuten zehn 2-Raum-Wohnungen für eine Gesamtmiete von unter 520 EUR zu finden. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Anmietung einer Wohnung unter Vorlage der Erklärung des Antragsgegners auch innerhalb von einem Monat noch möglich ist. Darüber hinaus ist es auch möglich, dass das Sozialamt eine Ersatzwohnung kurzfristig bereitstellen kann. Die Antragstellerin hat sich indes trotz des ausdrücklichen Hinweises des Gerichts weder beim Sozialamt gemeldet, noch sich sonst konkret um die Anmietung einer neuen Wohnung bemüht. Der pauschale Vortrag, es sei sehr schwierig eine preiswerte Wohnung in der Nähe der Kita des Sohnes zu finden, ist für die Glaubhaftmachung nicht ausreichend. Etwaige Umzugskosten wären in diesem Fall vom Antragsgegner zu tragen, so dass auch der Einwand, die Antragstellerin könne einen Umzug mangels Hilfe nicht bewältigen, nicht greift.

Die Antragstellerin kann sich auch nicht darauf berufen, allein im unmittelbaren Umkreis der Kita ihres Sohnes eine Wohnung zu beziehen. Der 4-jährige Sohn der Antragstellerin kann aufgrund seines Alters die Strecke zur Kita ohnehin ausschließlich in Begleitung der Antragstellerin zurücklegen. Der Antragstellerin ist es angesichts des gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehrsnetzes ohne Weiteres zumutbar, täglich eine Fahrzeit von 15 bis 30 Minuten in Kauf zu nehmen, um ihren Sohn zur Kita zu bringen, von dort abzuholen oder den Besuch bei Freunden des Sohnes zu realisieren.

Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen des § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II nicht vor, da die Übernahme der Schulden in Höhe von insgesamt knapp 8.500 EUR nicht gerechtfertigt ist. Der Begriff der Rechtfertigung ist als unbestimmter Rechtsbegriff unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles auszulegen. Als besonderer Umstand ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin die vom Antragsgegner gewährten Leistungen für Unterkunft und Heizung wiederholt bewusst zweckwidrig zur Tilgung privater Schulden verwandt hat. In den Monaten Oktober 2014 bis März 2015 zahlte die Antragstellerin keinerlei Miete, obwohl der Antragsgegner ihr die vollen Mietkosten gewährte. Auch die Zahlung für die Betriebskostenabrechnung in Höhe von über 1.300 EUR leitete die Antragstellerin nicht an den Vermieter weiter. Selbst als der Vermieter das Mietverhältnis im Januar 2015 fristlos kündigte und nachdem die Antragstellerin am 9. Januar 2015 bereits einen Antrag auf Übernahme der Mietschulden beim Antragsgegner gestellt hatte, zahlte sie für weitere Monate keine Miete mehr. Sie hat damit die Mietschulden nach Beantragung ihrer Übernahme sogar noch erhöht. Diese wiederholte und monatelange zweckwidrige Mittelverwendung ist als Missbrauchsfall mit gezielter Herbeiführung von Mietrückständen trotz der vollen Zahlung der Mietkosten durch den Antragsgegner zu werten (vgl. Berlit in: Münder, LPK - SGB II, 5. Aufl. 2013, § 22 Rn. 197 m.w.N.).

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin keinerlei Eigenbemühungen zur Selbsthilfe unternimmt. Trotz des ausdrücklichen Hinweises des Gerichts hat sich die Antragstellerin nicht um die Anmietung von Ersatzwohnraum bemüht. Weder hat sie beim Sozialamt vorgesprochen, noch hat sie sich bei Wohnungsbaugesellschaften oder privaten Vermietern unter Vorlage der Bescheinigung des Antragsgegners zur Übernahme angemessener Mietkosten um eine neue Wohnung bemüht. Angesichts der Herbeiführung der Mietrückstände durch wiederholt zweckwidrige Mittelverwendung und der Höhe der zu übernehmenden Kosten von insgesamt ca. 8.500 EUR trifft die Antragstellerin eine besonders hohe Pflicht zur Entfaltung von Eigenbemühungen zur Selbsthilfe.

Eine Schuldenübernahme ist auch nicht allein deshalb gerechtfertigt, weil sie in Form eines zurückzuzahlenden Darlehens erbracht würde. Die Antragstellerin bräuchte bei einer Tilgung des Darlehens in Höhe von 10 % des Regelbedarfs über 17 Jahre, um das Darlehen abzuzahlen.

Eine Schuldenübernahme ist auch nicht allein deshalb gerechtfertigt, weil die Antragstellerin die Wohnung mit ihrem vierjährigen Sohn bewohnt. Zwar kann bei Mitbetroffenheit minderjähriger schutzbedürftiger Kinder eine Ausnahme in Betracht kommen. Jedoch können die Interessen des Sohnes durch die nach Ansicht des Gerichts noch realisierbare Anmietung einer Ersatzunterkunft – notfalls unter Zuhilfenahme des Sozialamtes – gewahrt werden. Solange die Möglichkeiten der Beschaffung einer Ersatzunterkunft nicht ausgeschöpft sind, kann im Falle bewusst zweckwidrigen Verhaltens allein die Tatsache des Zusammenlebens mit einem minderjährigen Kind nicht zur Übernahme der Mietschulden führen.

Die Kostentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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