S 37 AS 22238/15

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 22238/15
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Werden ergänzend zu Nebeneinkommen aus kurzzeitiger Beschäftigung und Arbeitslosengeld nach § 136 SGB III SGB II-Leistungen bezogen, ist neben dem tatsächlichen Nebeneinkommen nur das um dieses Einkommen bereinigte Arbeitslosengeld -ungeachtet des tatsächlichen Zuflusses - auf die SGB II-Leistungen anzurechnen.
Die Bescheide vom 4.6. und 8.6.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2015 werden so geändert, dass auf den endgültigen Bedarf für März und April 2015 neben dem jeweils zugeflossenen Erwerbseinkommen nur das um dieses Einkommen bereinigte Arbeitslosengeld angerechnet wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte erstattet 2/3 der außergerichtlichen Kosten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anrechnung von Nebeneinkommen bei gleichzeitigem Bezug von Arbeitslosengeld nach dem SGB III (Alg I) und Grundsicherung nach dem SGB II (Alg II).

Die Klägerin und ihr 1998 geb. Sohn (Kläger zu 2)) bezogen aufstockend zu Erwerbseinkommen der Klägerin Alg II, das mit Bescheid vom 13.11.2014 für die Dauer von Dezember 2014 bis November 2015 vorläufig unter Ansatz eines fiktiven Einkommens von 918,35 EUR netto bewilligt worden war.

Nach Kündigung des Beschäftigungsverhältnisses zum 21.1.2015 hatte der Beklagte vorläufig Leistungen ohne Anrechnung von Erwerbseinkommen unter Anmeldung eines Alg I-Erstattungsanspruchs bei der Arbeitsagentur (AA) bewilligt (Änderungsbescheid vom 15.1.2015).

Alg I war der Klägerin abschließend mit Beginn 24.1.2015 für 360 Tage bewilligt worden, wobei die AA den Leistungsanspruch in Höhe von 14,64 EUR täglich für die Zeit vom 24.1. bis 31.3.2015 zur Erfüllung des vom Beklagten angemeldeten Erstattungsanspruchs zurückhielt (Bescheid vom 17.2.2015 nach vorläufigem Ausgangsbescheid vom 10.2.2015).

Der Erstattungsanspruch wurde Ende März in der vom Beklagten geltend gemachten Höhe (monatlich 409,20 EUR) von der AA erfüllt.

Am 2.3.2015 nahm die Klägerin eine auf 3 Wochenstunden veranschlagte Tätigkeit auf, was sie am 4.3.2015 dem Beklagten und der AA meldete.

Daraufhin änderte der Beklagte die Bewilligung ab April 2015 dahingehend ab, dass vorläufig ein Erwerbseinkommen von 95,50 EUR und ungekürztes Alg I (monatlich 439,20 EUR) auf den Bedarf der Kläger angerechnet wurden (Bescheid vom 12.3.2015).

Tatsächlich hatte die Klägerin im März und April jeweils 448,85 EUR erarbeitet. Davon ging ein Abschlag in Höhe von 200 EUR am 31.3.2015 auf das Konto der Klägerin, das Restgehalt für März in Höhe von 248,85 EUR floss ihr am 14.4.2015 zu. Das im April erarbeitete Entgelt von 448,85 EUR wurde am 12.5.2015 auf das Konto der Klägerin überwiesen.

Die AA änderte die Alg I-Bewilligung so ab, dass der Klägerin für März 2015 unter Anrechnung des im Monat März erarbeiteten Entgelts Alg I in Höhe von täglich 5,18 EUR bewilligt wurde (Änderungsbescheid vom 11.5.2015, dem eine entsprechende Änderung für April 2015 mit Bescheid vom 19.5.2015 folgte).

Weil das Alg I noch in ungekürzter Höhe für März und April ausgezahlt worden war, forderte die AA mit Erstattungsbescheid vom 3.6.2015 die im Zeitraum vom 1.3. bis zum 30.4.2015 entstandene Überzahlung von 567,60 EUR von der Klägerin zurück, die diese Forderung seit dem 20.7.2015 mit Raten von monatlich 25 EUR tilgt.

Mit Bescheid vom 4.6.2015 setzte der Beklagte die SGB II-Leistungen der Kläger für März und April 2015 endgültig fest, dergestalt, dass für März 2015 vor dem Hintergrund des über § 104 SGB X einbehaltenen Alg I-Anspruchs von 409,20 EUR noch der in diesem Monat gezahlte Gehaltsabschlag von 200 EUR, bereinigt um die 100 EUR-Grundpauschale und den 20%-Freibetrag, angerechnet wurde und für April das tatsächlich ausgezahlte Alg I in Höhe von 439,20 EUR und das bereinigte, restliche Märzgehalt von 248,85 EUR.

Mit Bescheid vom 8.6.2015 forderte der Beklagte die infolge dieser Anrechnungen entstande-nen Überzahlungen nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 3 SGB III von den Klägern zurück.

Mit Wirkung ab 4. Mai 2015 weitete die Klägerin ihre Tätigkeit auf 20 Wochenstunden aus, wodurch der Alg I-Anspruch am 3.5.2015 endete (Änderungsbescheid der AA vom 19.5.2015 mit Bewilligung von Alg I im Zeitraum 1.5. bis 3.5.2015 in Höhe von täglich 14,64 EUR).

Der Beklagte setzte diese Änderung so um, dass mit Bescheid vom 4.6.2015 Leistungen für den Zeitraum Mai bis November 2015 vorläufig festgesetzt wurden mit einem anzurechnenden Erwerbseinkommen im Mai von 448,50 EUR und zusätzlich Alg I in Höhe von 43,92 EUR.

Gegen beide Bescheide vom 4.6.2015 sowie den Bescheid vom 8.6.2015 erhoben die Kläger Widerspruch, mit dem sie geltend machen, dass die Anrechnung des Erwerbseinkommens nicht doppelt, sowohl auf das Alg I als auch das Alg II, erfolgen dürfe; dies entspreche auch der in einem Merkblatt veröffentlichten Auffassung der BA.

Der Beklagte wies die Widersprüche als unbegründet zurück; nach dem Zuflussprinzip seien die tatsächlich ausgezahlten Einkommen (das Alg I und das Erwerbseinkommen) im Monat des Zuflusses auf das Alg II anzurechnen (Widerspruchsbescheide vom 31.8. und 30.9.2015).

Mit Klagen vom 2.10. und 29.10.2015, die das Gericht zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat, verfolgen die Kläger ihr Anliegen weiter; eine Doppelanrechnung des Erwerbs-einkommens sei unzulässig.

Die Bevollmächtigte der Kläger beantragt nach verständiger Auslegung des Klageantrags unter Berücksichtigung des Hinweises des Gerichts vom 16.2.2016 und der nach Klageerhebung ergangenen endgültigen Bescheide für Mai 2015,

1. die Bescheide vom 4.6. und 8.6.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31.8.2015 so zu ändern, dass für März und April 2015 eine Anrechnung des Erwerbseinkommens unterbleibt, alternativ, dass neben dem Erwerbseinkommen nur das bereinigte Alg I angerechnet wird;

2. die Bescheide vom 2.12. und 7.12.2015 so zu ändern, dass für Mai 2015 eine Anrechnung des Erwerbseinkommens unterbleibt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es fehle an einer Rechtsgrundlage für die beantragte Reduzierung der Einkommensanrechnung.

Ergänzend wird zum übrigen Sach- und Streitstand auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und die beigezogenen Leistungsakten verwiesen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 SGG einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässigen Klagen sind mit dem alternativen Klageantrag zu 1. auch begründet. Werden ergänzend zu Alg I Nebeneinkommen aus kurzzeitiger Beschäftigung und Grundsicherungs-leistungen nach dem SGB II bezogen, darf zusätzlich zum Nebeneinkommen nur das um die-ses Nebeneinkommen bereinigte Alg I auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet werden.

Das Zuflussprinzip i. S. einer Anrechnung des erlangten Einkommens in tatsächlicher Höhe im Monat des Zuflusses ist zwar ein tragendes Strukturelement des SGB II, hat aber durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung zahlreiche Modifikationen erfahren (normativer Zufluss).

Grundlage der Abweichung vom faktischen Zuflussprinzip waren zum einen Grundsätze aus anderen Rechtsgebieten (Zufluss im Erbfall nach dem Zeitpunkt des Rechtsübergangs, z. B. BSG vom 28.10.2009 – B 14 AS 62/08 R), zum anderen die Verhinderung unerwünschter Ausweicheffekte (Anrechnung, wenn eine den tatsächlichen Zufluss hindernde Verfügung rückgängig gemacht werden kann, z. B. BSG vom 16.5.2012 – B 4 AS 132/11 R).

Zur Vermeidung unbilliger Ergebnisse ist das faktische Zuflussprinzip normativ durchbrochen worden, wenn eine Anrechnung Unrecht vertiefen würde (BSG vom 6.4.2000 – B 11 AL 31/99 R) oder zur Vereitelung rechtstreuen Verhaltens führte (BSG vom 12.6.2013 – B 14 AS 73/12 R: Einzahlung auf Treuhandkonto im Privatinsolvenzverfahren.

Im vorliegenden Fall ist eine Abweichung vom Zuflussprinzip geboten, um der sowohl für das SGB III als auch das SGB II prägenden Forderung nach Selbsthilfe durch Aufnahme einer Be-schäftigung effektiv Geltung zu verschaffen. Dazu sehen beide Sozialsystem Freibeträge vor, die einen Anreiz zur Arbeitsaufnahme setzen sollen.

In der Entscheidung B 14 AS 25/13 R vom 17.7.2014 hat das BSG diese Anreizfunktion als Rechtfertigung für eine doppelte Einkommensbereinigung herangezogen, wenn laufendes Er-werbseinkommen in einem Monat zweifach zufließt.

Zu Recht wenden die Kläger daher ein, dass die den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegte Einkommensanrechnung im Ergebnis zu einem Wegfall des Freibetrages führt. Denn wenn das Alg I ungeachtet der mit Aufnahme der Nebentätigkeit feststehenden Minderung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X i.V.m. § 330 SGB III in ungekürzter Höhe auf das Alg II angerechnet wird, geht der Freibetrag des gleichfalls anzurechnenden Nebeneinkommens mit der Rückforderung gegenüber der AA wirtschaftlich verloren.

Konkret steht hier den Freibeträgen des im März und April zugeflossenen Entgelts (= 120 EUR und 129,77 EUR) die Rückforderung der AA in Höhe von 283,80 EUR (= [14,64 EUR - 5,18 EUR] x 30) ge-genüber, im Mai zehrt die April-Rückforderung von 283,80 EUR den Erwerbstätigen-Freibetrag von 169,77 EUR vollständig auf.

Auf dem Boden des faktischen Zuflussprinzips kann die Klägerin diesem Dilemma nicht ent-gehen: Das SGB III reagiert mit einer nachträglichen Anrechnung gemäß § 48 SGB X auf die nach Erlass des Alg I-Bewilligungsbescheides aufgenommene Nebentätigkeit und rechnet hierbei das im Monat des Alg I-Bezugs erarbeitete Einkommen an, während im SGB II die im Monat des Kontozugangs tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommen angerechnet wer-den.

Mit dem Institut der vorläufigen Bewilligung nach § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 SGB III steht im SGB II aber eine systemkonforme Lösung bereit. Zunächst ist der SGB II-Träger befugt, den vorläufigen Bedarf an dem erwarteten Einkommenszufluss zu orientieren, im Rahmen der endgültigen Berechnung des Leistungsanspruchs muss er dann aber berücksich-tigen, dass der Leistungsberechtigte das überzahlte Alg I unverzüglich erstatten soll, wozu er grundsätzlich imstande ist, weil er über das volle Alg I und das Nebeneinkommen verfügt.

Dieses Normgebot aus dem SGB III darf der SGB II-Träger nicht durch Zugriff auf das über-zahlte Alg I vereiteln. Die Situation gleicht hier derjenigen des Schuldners im Privatinsolvenz-verfahren, der erlangtes Einkommen an den Treuhänder zahlen muss (dazu BSG vom 12.6.2013 – B 14 AS 73/12 R) oder derjenigen eines Arbeitnehmers, der eine versehentliche Gehaltsüberzahlung sofort zurückzuzahlen hat (LSG Niedersachsen-Bremen vom 17.4.2013 – L 15 AS 115/11; vgl. dazu auch LSG Niedersachsen-Bremen vom 15.4.2014 – L 7 AS 1116/13 B zur Anrechnung von Wohngeld, das nach § 28 Abs. 3 WoGG als rechtsgrundlos gewährt gilt).

Normativ ist dem nebenerwerbstätigen Alg I-Bezieher mithin nur das um den Anrechnungsbetrag bereinigte Alg I zugeflossen, was sich im vorliegenden Fall darin widerspiegelt, dass bei Erlass der endgültigen SGB II-Bewilligungen bereits die Alg I-Aufhebung und Erstattung verfügt worden war.

Weil die beiden Systeme SGB III und SGB II bei der laufenden Leistungsgewährung an Leistungsberechtigte mit Nebeneinkommen aufeinander abgestimmt werden müssen und die Träger dies im Rahmen des Übergangs von einer vorläufigen zur endgültigen Bewilligung gewährleisten können, sieht sich das erkennende Gericht mit seinem Urteil nicht im Widerspruch zur Entscheidung des BSG vom 23.8.2011 - B 14 AS 165/10 R.

Das von den Klägern zur Klagebegründung herangezogene Berechnungsbeispiel aus dem Merkblatt der BA betrifft den hier nicht einschlägigen Fall eines Übergangs vom SGB III in den SGB II-Bezug. Insoweit war die Klage abzuweisen. Die Anrechnung des im Mai zugeflossenen Erwerbseinkommens und des am 7.5.2015 ungekürzt ausgezahlten Alg I ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Bei gleichzeitigem Bezug von Alg I und Alg II, wie hier, entspricht die vom Gericht getroffene Entscheidung den Durchführungshinweisen der BA (DA 11.67).

Folge des Urteils ist ein Nachzahlungsanspruch der Kläger für die Monate März und April 2015, da anstelle des vereinnahmten bzw. angerechneten Alg I von 409,20 EUR bzw. 439,20 EUR nur Alg I in Höhe von 155,40 EUR berücksichtigt werden darf. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung wird zugelassen, da die Frage der Anrechnung von Nebeneinkommen bei gleichzeitigem Bezug von Alg I und Alg II über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat.
Rechtskraft
Aus
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