L 4 AS 160/16 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 26 AS 1536/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 160/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Leitsätze:

1. Art. 10 VO Nr. 492/11/EU begründet ein vom Zweck der Arbeitssuche unabhängiges Aufenthaltsrecht auch jedes Elternteils, der die tatsächliche Sorge für ein Kind ausübt, das sein Schulbesuchsrecht wahrnimmt.

2. Das Aufenthaltsrecht des Kindes – und damit auch dasjenige seiner Eltern – gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift („beschäftigt gewesen ist“) auch für die Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer.

3. Schließlich sind die Aufenthaltsrechte nach Art. 10 VO Nr. 492/11/EU nicht davon abhängig, dass Eltern und Kinder über ausreichende Existenzmittel oder einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08).
Die Beschwerden der Antragsteller und des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 26. April 2016 werden zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für das Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Die am 28. April 2016 eingelegte Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 26. April 2016 ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG).

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 19. April 2016 bis zum 30. September 2016 vorläufig Leistungen der Sicherung zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren.

Die Antragsteller haben insbesondere einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anspruch der Antragsteller zu 1. und 2. auf Leistungen nach dem SGB II ergibt sich aus § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II, dessen Voraussetzungen hier unstreitig erfüllt sind. Der Leistungsanspruch ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen. Die Antragsteller zu 1. und 2. haben jedoch ein vom Zweck der Arbeitssuche unabhängiges Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO 492/11/EU) glaubhaft gemacht.

Nach Art. 10 VO 492/11/EU können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates, der im Hoheitsgebiet eines anderen Gebietsstaats beschäftigt oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsmitgliedsgebiet dieses Mitgliedsstaates wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedsstaates am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Hieraus leitet sich ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zunächst der Kinder ab: Kinder eines EU-Bürgers, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen (ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH –, vgl. Urteil vom 17.9.2002, Rechtssache C-413/99, und Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08, jeweils zur – inhaltsgleichen – Regelung in der Vorgängerverordnung (EWG) Nr. 1612/68). Ferner leitet sich aus Art. 10 VO Nr. 492/11/EU ein eigenständiges Aufenthaltsrecht auch jedes Elternteils ab, der die tatsächliche Sorge für ein Kind ausübt, das sein Schulbesuchsrecht wahrnimmt: Das einem Kind zuerkannte Recht, im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin unter den bestmöglichen Voraussetzungen am Unterricht teilzunehmen, impliziert notwendig das Recht des Kindes auf gemeinsamen Aufenthalt mit der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnehmenden Person (vgl. EuGH, Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08).

Das Aufenthaltsrecht des Kindes – und damit auch dasjenige seiner Eltern – ist nicht auf Kinder von Wanderarbeitnehmern beschränkt, es gilt nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 10 VO Nr. 492/11/EU ("beschäftigt gewesen ist") auch für die Kinder ehemaliger Wanderarbeitnehmer. Voraussetzung ist nur, dass das Kind mit seinen Eltern oder einem Elternteil in der Zeit in einem Mitgliedstaat lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte (vgl. EuGH, Urteil vom 23.2.2010, Rechtssache C-310/08). Schließlich sind die Aufenthaltsrechte nicht davon abhängig, dass Eltern und Kinder über ausreichende Existenzmittel oder einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen (vgl. EuGH, a.a.O.).

Hier besucht die Antragstellerin zu 3. seit dem Schuljahr 2015/1016 die Grundschule. Aus den Antragsunterlagen in der Leistungsakte ergibt sich, dass sie in dem Zeitraum, in dem der Antragsteller zu 1. gearbeitet hat (Dezember 2014 bis Juni 2015), bereits mit ihren Eltern in H. gewohnt hat. Die ausgeübte Beschäftigung mit 15 Wochenstunden und einem Bruttomonatslohn von 650,- Euro begründete einen Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 1. Diese Beschäftigung war im Hinblick auf die Höhe der Arbeitsstunden und des Entgelts als nicht untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit zu werten, sondern als echte und tatsächliche Tätigkeit im Sinne von Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV – vgl. zur Frage, wann eine "echte" Tätigkeit vorliegt EuGH, Urteile vom 26.11.1998 – C-1/97, vom 7.9.2004 – Rechtssache C-456/02 und vom 11.9.2008 – Rechtssache C-228/07; vgl. auch BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R). Davon ist der Antragsgegner auch bei der Bewilligung aufstockender Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an die Antragsteller im Zeitraum von März 2015 bis Februar 2016 ausgegangen. Damit sind die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht sowohl der Antragstellerin zu 3. als auch ihrer Eltern, der Antragsteller zu 1. und 2., gegeben.

Folglich steht den Antragstellern zu 1. und 2. ein Aufenthaltsrecht unabhängig von dem Zweck der Arbeitssuche zu, sodass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greift. Der in der Rechtsprechung teilweise vertretenen Ansicht, der auch der Antragsgegner folgen will, wonach ein aus Art. 10 VO Nr. 492/11/EU abgeleitetes Aufenthaltsrecht nicht ausreiche, um den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II zu überwinden, hierfür vielmehr ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38/EG (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sog. Freizügigkeits- oder Unionsbürgerrichtlinie) erforderlich sei (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.1.2016 – L 15 AS 226/15 B ER und Beschluss vom 16.11.2015 – L 15 AS 201/15 B ER; offen gelassen von LSG Berlin-Branden-burg, Beschluss vom 22.1.2016 – L 29 AS 20/16 B ER), vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Insoweit wird zunächst Bezug genommen auf die ausführlichen Darlegungen in dem angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts. Ferner steht diese Ansicht im Widerspruch zu dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Danach sind vom Leistungsausschluss erfasst "Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt". Ausländerinnen und Ausländer, die sich auf ein anderes, vom Zweck der Arbeitssuche unabhängiges Aufenthaltsrecht berufen können, sind hingegen nicht von Leistungen ausgeschlossen. Eine Beschränkung der dem Leistungsausschluss entgegenstehenden Aufenthaltsrechte auf solche der Richtlinie 2004/38/EG oder des die Richtlinie umsetzenden Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) nimmt die Vorschrift gerade nicht vor. Einem Ausschluss von SGB II-Leistungen entgegenstehende andere Aufenthaltsrechte können sich somit auch aus Art. 10 VO 492/2011/EU ergeben (ebenso BSG, Urteil vom 3.12. 2015 – B 4 AS 43/15 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.1.2016 – L 19 AS 29/16 B ER).

Etwas anderes folgt auch nicht aus der vom Antragsgegner zitierten Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dano (Urteil vom 11.11.2014 – Rechtssache C-333/13). In diesem Urteil hat der EuGH ausgeführt, dass ein Unionsbürger eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu beitragsunabhängigen Sozialleistungen nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG erfüllt. Davon ausgehend hat der EuGH festgestellt, dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG und Art. 4 der VO 883/2004/EG (Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) Regelungen der Mitgliedstaaten nicht entgegenstehen, die die Gewährung von beitragsunabhängigen Geldleistungen an nicht erwerbstätige Unionsbürger davon abhängig machen, dass sie die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38/EG für ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen. Hingegen hat der EuGH nicht festgestellt, dass ein Ausschluss von Leistungen für Unionsbürger, die über kein solches Aufenthaltsrecht verfügen, zwingend zu erfolgen hat. Daraus, dass eine Beschränkung des Leistungsanspruchs auf Unionsbürger, die über ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38/EG verfügen, europarechtskonform wäre, folgt aber nicht, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II entgegen seinem eindeutigen Wortlaut im Sinne einer solchen Beschränkung auszulegen wäre. Der nationale Gesetzgeber hat hier seinen europarechtlichen Spielraum offensichtlich gerade nicht ausgeschöpft.

Die Antragsteller zu 3. und 4. haben als Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft der Antragsteller zu 1. und 2. (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) nach § 7 Abs. 2 SGB II ebenfalls einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

II.

Die am 17. Mai 2016 eingelegte Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 26. April 2016 ist statthaft und zulässig (§§ 172, 173 SGG).

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, den Antragsgegner zu verpflichten, den Antragstellern auch für den Zeitraum vom 1. April 2016 bis zum 18. April 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren.

Die Antragsteller haben sich erst am 19. April 2016 mit ihrem Antrag auf Eilrechtsschutz an das Sozialgericht gewandt. Eine einstweilige Anordnung hinsichtlich der Zeit vor Antragstellung beim Sozialgericht kommt nicht in Betracht. Einstweilige Anordnungen, die sich auf vergangene Zeiträume beziehen, scheiden grundsätzlich aus, da von einem wesentlichen Nachteil, der ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar erscheinen lässt, nur gesprochen werden kann, wenn eine aktuelle Notlage vorliegt. Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend aus besonderen Gründen von diesem Grundsatz abzuweichen wäre, bestehen nicht. Die Antragsteller haben zwar vorgetragen, dass sie ihre Miete nicht hätten zahlen können, nicht aber, dass dies Konsequenzen (etwa in Form einer Kündigung) gehabt hätte.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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