L 6 SB 474/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 1276/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 474/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. November 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilausgleiches "außergewöhnliche Gehbehinderung", also die Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Bei der 1940 geborenen Klägerin ist der Grad der Behinderung (GdB) mit 100 seit 3. Mai 2012 festgestellt (Teil-Abhilfebescheid vom 27. Februar 2013). Dieser Feststellung lag folgende versorgungsmedizinische Einschätzung von Dr. Sch. von Februar 2013 zugrunde:

Anfallsleiden, Hirnschädigung (Meningeom) Teil-GdB 60 Kniegelenkstotalendoprothese (Knie-TEP) beidseits, Funktionsbehinderung des linken Kniegelenkes Teil-GdB 40 Sehminderung links Teil-GdB 30 Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Spinalkanalstenose Teil-GdB 20 Funktionsbehinderung des rechten Schultergelenkes Teil-GdB 20.

Des Weiteren sind die Merkzeichen "G" und "B" zuerkannt (Bescheide vom 7. September 2010 und 28. Juli 2011).

Soweit die Klägerin am 3. Mai 2012 auch die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" beantragt hatte, wurde dieses Begehren von dem Beklagten abgelehnt (Bescheid vom 6. August 2012, Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2013).

Diesem lagen der Bericht des Chefarztes der Abteilung für Orthopädische Chirurgie des L.-Krankenhauses in F., Dr. R., nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin am 18. November 2011 und der Entlassungsbericht des Chefarztes der Orthopädischen Abteilung der T.klinik in Bad K., Dr. H., nach ihrem stationären Aufenthalt zur Anschlussheilbehandlung nach Einsatz einer Knie-TEP rechts vom 2. bis 24. April 2012 vor. Dr. R. diagnostizierte eine fortgeschrittene Gonarthrose rechts bei Zuständen nach Tibia-Umstellungsosteotomie rechts im Jahre 2003 und einer Knie-TEP links im Jahre 2006. Die Klägerin habe seit vielen Jahren Schmerzen im Bereich des rechten Kniegelenkes. In der letzten Zeit habe die Beschwerdesymptomatik zugenommen. Die klinische Untersuchung habe ein verlangsamtes, unsicheres Gangbild gezeigt. Dr. H. diagnostizierte darüber hinaus eine Knie-TEP rechts seit März 2012 (ICD-10 M17.0). Die Klägerin sei an einem Rollator mit sicherem Gangbild, aber langsam und intermittierend schlürfend ohne klassische Ausweichbewegungen und ohne klassischen Hinkmechanismus mobil gewesen. Bevor der Kniegelenksersatz rechts eingesetzt worden sei, habe die Klägerin zur Mobilität keinerlei Hilfsmittel verwendet. Die Kniegelenksbeweglichkeit sei für Extension und Flexion nach der Neutral-0-Methode mit 0-0-85° links und 0-10-80° rechts gemessen worden. Die Schmerzsymptomatik sei weiter rückläufig gewesen. Eine begleitende medikamentöse analgetische Therapie sei mit der Gabe von Voltaren Resinat, 500 mg (1-1-1-1) und Targin, 10 mg (0-0-1) erforderlich.

Die Klägerin hat am 18. März 2013 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben, welches schriftliche sachverständige Zeugenaussagen bei Dr. M., Arzt für Innere Medizin, Hämatologie und Internistische Onkologie, und Dr. J., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Rehabilitation, eingeholt hat.

Dr. M. hat im August 2013 ausgeführt, die Klägerin befinde sich seit mehr als zehn Jahren in seiner hausärztlich-internistischen Behandlung. Zuletzt habe er sie im Mai 2012 wegen einer Wundheilungsstörung nach dem Einsatz einer Knie-TEP rechts gesehen. Im Vordergrund gestanden habe in der Vergangenheit ein rezidivierendes Meningeom. Wegen eines Rezidivs sei im November 2009 eine Operation vorgenommen worden. Aufgrund dieser Erkrankung bestehe eine Grand-Mal-Epilepsie. Aus internistischer Sicht gehöre die Klägerin nicht zum Kreis der außergewöhnlich Gehbehinderten, da wegen des Bluthochdruckes keine Einschränkung bestehe. Seines Erachtens habe eine Bewertung der Gehbehinderung aus neurologischer Sicht zu erfolgen.

Von Dr. M. ist der Bericht von Dr. R. nach der ambulanten Untersuchung der Klägerin Mitte Juni 2012 vorgelegt worden, wonach der klinische Untersuchungsbefund ein stockfreies, jedoch noch verlangsamtes Gangbild gezeigt habe. Die Flexionsfähigkeit sei noch eingeschränkt gewesen, mit einem beidseitigen Bewegungsumfang für Extension und Flexion von 0-0-95°.

Dr. J. hat im Juni 2013 kundgetan, die Klägerin gehöre ohne Zweifel zum Kreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Ein selbstständiges Gehen ohne Hilfsmittel sei gar nicht möglich. Mit Rollator oder einer anderen Hilfe könne sie sich etwa vom Auto in seine Praxis bewegen, die ebenerdig zugänglich sei. Treppensteigen sei der Klägerin nicht möglich. Die Restgehstrecke ohne Hilfe sei nicht messbar, eine Aussage ihm hierzu also nicht möglich.

Das SG hat Dr. Fi. beauftragt, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zu erstatten. Nach der ambulanten klinischen Untersuchung der Klägerin am 12. Februar 2014 hat dieser dargelegt, neurologisch bestehe ein hirnorganisches Anfallsleiden mit trotz Medikation etwa zweimal monatlich auftretenden Anfällen, welche mit Stürzen und Amnesien verbunden seien. Daneben seien eine Amaurosis des linken Auges und eine multifaktorielle komplexe Gangstörung, verbunden mit einer unklaren Schwindelsymptomatik vorhanden. Die Klägerin habe über Krampi berichtet, die vor allem nachts aufträten. Psychiatrisch habe sich ein Normalbefund gezeigt. Die Klägerin gehöre zum Kreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Sie sei in ihrer Bewegungsfähigkeit dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen. Eine Restgehstrecke sei alleine allenfalls bei Nutzung eines Rollators auf kurzen Strecken unterhalb 100 m möglich. Beim Betreten des Untersuchungszimmers habe sich eine erhebliche Gangunsicherheit gezeigt. Die Klägerin sei von ihrem Ehemann gestützt worden. Sie habe angegeben, nur kurze Strecken gehen zu können. Dabei trete sehr schnell ein Schwindel auf. Sie werde beim Gehen dann unsicher und bewältige ohne Pause lediglich eine Wegstrecke von etwa 100 m. Zuhause sei sie innerhalb der Wohnung auf einen Rollator angewiesen. Sie stürze etwa alle zwei Monate, zuletzt sogar von einem Stuhl. Seit den Operationen im Bereich des Schädels habe sie epileptische Anfälle, welche unter Medikamenten seit dem Jahre 2011 nicht mehr aufgetreten seien. Aktuell seien ihr Keppra, 1.000 mg (1-0-1/2), Carbamazepin, L-Thyroxin, 75 mg, Folsan und Valsartan verordnet worden.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 24. November 2014 abgewiesen, da die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" nicht erfüllt seien. Soweit der Ehemann der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen habe, nur in seiner Begleitung könne diese mit Festhalten am Einkaufswagen die Wegstrecken durch Supermärkte zurücklegen, reiche diese Notwendigkeit einer Begleitung nicht aus, eine außergewöhnliche Gehbehinderung anzunehmen. Dadurch sei nicht belegt, dass die Klägerin praktisch von den ersten Metern einer Gehstrecke an auf fremde Hilfe angewiesen sei. Damit sei nur die bei der Zurücklegung einer Gehstrecke direkt geleistete fremde Hilfe gemeint, nicht aber das bloße Beobachten und Nebenhergehen oder das begleitende Führen, um bei befürchteten Schwindelerscheinungen eingreifen zu können. Solche rechtfertigten die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur, wenn regelmäßig ein Rollstuhl benutzt werden müsse, um Stürze hierdurch zu vermeiden.

Hiergegen hat die Klägerin, verbunden mit einem Prozesskostenhilfegesuch, am 11. Februar 2015 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung vorgetragen, bereits durch das Gutachten von Dr. Fi. sei belegt, dass die Fortbewegung dauerhaft nur mit fremder Hilfe und mit großer Anstrengung möglich sei. Dieser habe sie während der Untersuchung, aber auch beim Einsteigen in das Auto beobachtet und das Gangbild beschrieben. Soweit das SG das Gutachten für nicht aussagekräftig gehalten habe, da dieses im Hinblick auf die epileptischen Anfälle in sich widersprüchlich sei, sei dieses Kriterium nicht geeignet, sämtliche Ausführungen des Sachverständigen in Zweifel zu ziehen. Dr. Fi. habe nicht behauptet, dass sie alle zwei Monate einen epileptischen Anfall habe. Er habe lediglich bestätigt, dass sie angegeben habe, alle zwei Monate zu stürzen, sich aber an die genauen Umstände nicht erinnern und nicht alleine aufstehen zu können. Dr. J. stütze ihr Begehren ebenfalls. Dieser habe bereits im Verwaltungsverfahren bestätigt, dass sie unter einer erheblichen Gangstörung mit Sturzgefahr leide. Durch Dr. von Ka. sei Anfang 2013 ebenfalls belegt worden, dass sie unter Gleichgewichtsstörungen und einem Schwindelgefühl beim Gehen leide, mit einem Rechts- oder Linksdrall. Beim Aufrichten aus gebückter Stellung bestehe Sturzgefahr. Sie habe in der mündlichen Verhandlung beim SG klargestellt, dass sie sich in einem Supermarkt ohne die Stütze eines Einkaufswagens nicht fortzubewegen traue. Im Übrigen sei es erforderlich, dass ihr Ehemann immer bei ihr sei. Feststellungen zu den Kraftanstrengungen, die es ihr erst ermöglichten, überhaupt die Wohnung zu verlassen, habe das erstinstanzliche Gericht nicht getroffen. Nicht zu vernachlässigen sei die mentale Kraftanstrengung, welche sie aufwenden müsse, um sich überhaupt zu trauen, die Wohnung zu verlassen.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. November 2014 und den Bescheid vom 6. August 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2013 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "aG" ab 3. Mai 2012 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Merkzeichens lägen nicht vor.

Das Prozesskostenhilfegesuch für das Berufungsverfahren ist mit Beschluss vom 17. Mai 2016 abgelehnt worden. Der Berichterstatter hat mit Schreiben vom 15. Juni 2016 darauf hingewiesen, dass über das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden wird. Den Beteiligten ist Gelegenheit gegeben worden, hierzu Stellung zu nehmen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und auf die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter durch Beschluss, weil die Berufsrichterin und -richter des Senats die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten. Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu dieser Verfahrensweise gegeben worden. Zudem ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass die Berufung wenig aussichtsreich erscheint (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1999 - B 13 RJ 25/99 R -, SozR 3-1500 § 153 Nr. 9, S. 27).

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 SGG), aber unbegründet. Das SG hat die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG, vgl. zur Klageart Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 1/14 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 21, Rz. 11 m. w. N.) zulässige Klage zu Recht abgewiesen, soweit mit ihr die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "Außergewöhnliche Gehbehinderung", welche im Schwerbehindertenausweis durch die Eintragung des Merkzeichen "aG" dokumentiert wird, verfolgt worden ist. Die Klägerin hat ab 3. Mai 2012, also dem Tag, als sie den hierfür erforderlichen Antrag gestellt hat, keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung. Daher ist die mit Bescheid vom 6. August 2012 getroffene Verwaltungsentscheidungen rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Gegenstand der Klage ist ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen "aG" ab Antragstellung (§ 69 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX) am 3. Mai 2012. Diesem Begehren steht der Bescheid vom 6. August 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2013 entgegen, da ihn das SG in Bezug auf die damit getroffene negative Feststellung nicht aufgehoben hat. Die gerichtliche Nachprüfung richtet sich in Fällen einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Aufl. 2014, § 54 Rz. 34), ohne eine solche, wenn über den Rechtsstreit entschieden wird.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG".

Rechtsgrundlage hierfür ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für Menschen mit Schwerbehinderung sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung - SchwbAwV). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen so genannten "Behindertenparkplätzen" und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen, etwa das eingeschränkte Haltverbot für die Dauer von drei Stunden (vgl. hierzu und zum Folgenden: BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris, Rz. 9).

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen als so genannte "Regelbeispiele" Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft-exartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie als so genannte "Gleichstellungsfälle" andere Menschen mit Schwerbehinderung, welche nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.

Nach § 69 Abs. 4 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung (a. F.) ist seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1, § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, so dass seit dem 1. Januar 2009 die VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11. Oktober 2012 (BGBl I S. 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9 SB 3/08 R -, juris, Rz. 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers, insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4), hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7. Januar 2015 (BGBl II S. 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15. Januar 2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190, S. 5).

Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV (VG) näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a. F. sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VG ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 18, Rz. 10 m. w. N.). Im Übrigen werden in den VG, Teil D, Nr. 3 b vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" übernommen und in Nr. 3 a insoweit ausdrücklich auf das StVG verwiesen, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich ist nach den VG, Teil D Nr. 3 c folgende Ergänzung erfolgt: "Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Menschen mit Gehbehinderung einen Rollstuhl benutzen. Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."

Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ihrem Zweck entsprechend schon immer eng ausgelegt. Grundlage für die Einrichtung dieses Merkzeichens war und ist der Umstand, dass Parkraum für diejenigen Menschen mit Schwerbehinderung geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zurückzulegen (BT-Drucks 8/3150 S. 9 f. in der Begründung zu § 6 StVG; vgl. BSG Urteil vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87). Das Merkzeichen "aG" soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (BSG, Urteil vom 6. November 1985 - SozR 3870 § 3 Nr. 18, S. 58). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG, Urteile vom 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37 (39) und 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris, Rz. 17). Dies gilt erst recht, da nach Abschnitt I Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO noch weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie etwa die Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot, gewährt werden und sich der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen "aG" hinaus zunehmend auf andere Personenkreise erweitert (s. unter Abschnitt II Nrn. 2 und 3 a bis f; vgl. BR-Drucks 636/08 zu A und B).

Bei der Klägerin liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten, abschließend aufgeführten Regelbeispiele in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO nicht vor. Bei deren Vorliegen wird vermutet, dass sich die dort aufgeführten Menschen mit Schwerbehinderung wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kommt es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an (vgl. BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87, vom 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37 und vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R -, juris, Rz. 14), selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen Allgemeinzustandes und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler prothetischer Versorgung eine gute Gehfähigkeit besteht (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - L 15 SB 113/11 -, juris, Rz. 46 f.). Der Grundsatz erfährt eine Ausnahme für die einseitig Oberschenkelamputierten, denen der Nachteilsausgleich "aG" nur zuerkannt werden kann, wenn sie nicht (exo-)prothetisch versorgt werden können (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87). Anders als bei den übrigen Regelbeispielen gehören die einseitig Oberschenkelamputierten nur dann zu dem eng begrenzten Kreis der Menschen mit Schwerbehinderung im Sinne von Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO, wenn sie dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen. Im Umkehrschluss gilt bei den Menschen, welche einseitig oberschenkelamputiert sind und noch ein Kunstbein tragen können, nicht die Vermutung von Satz 1, dass sie zu den Personen gehören, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dieser Kreis von Menschen mit Behinderung unterliegt bereits bei der Prüfung des Vorliegens eines Regelbeispiels einer pauschalen Gleichstellungsprüfung mit den anderen Gruppen, die sich durch Doppelamputationen oder weitergehende erhebliche körperliche Einschränkungen abgrenzen. Dabei gilt für die Dauerhaftigkeit des Außerstandeseins, ein Kunstbein zu tragen ein anderer Maßstab als für den geforderten Dauerzustand nach Satz 1. Dem liegt allerdings ebenfalls kein individueller zeitlicher Maßstab zugrunde. Dauernd außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutet in diesem Zusammenhang (exo-)prothetisch nicht versorgbar zu sein (vgl. BSG, a.a.O.). Es darf keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene Mensch mit Behinderung muss ständig außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen. Zu dieser Personengruppe gehört die Klägerin nicht.

Die Schwere der bei der Klägerin vorliegenden Beeinträchtigung ist auch nicht dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichzustellen. Eine Gleichstellung setzt gemäß Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 2 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO voraus, dass der Mensch mit Schwerbehinderung sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Personen, bei denen ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Menschen mit Schwerbehinderung oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können (BSG, Urteil vom 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37 (38 f.)).

Zwar bereitet der Vergleichsmaßstab naturgemäß Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen von Menschen mit Behinderung in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertretende dieser Gruppen bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Menschen ohne Behinderung erreichen können (BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22, S. 87 und 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (182)). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten zu vergleichenden Gruppen von Menschen mit Behinderung kommt es jedoch nicht an (BSG, Urteile vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 22 und 11. März 1998 - B 9 SB 1/97 R -, BSGE 82, 37), zumal solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "aG" bezweckten Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren, also an Satz 1 Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO beziehungsweise § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (183)).

Auf der anderen Seite ist für die Gleichstellung am individuellen Restgehvermögen der Betroffenen anzusetzen. Hierzu zählen auch die einseitig Oberschenkelamputierten, die grundsätzlich prothetisch versorgt werden können. Diese Personengruppe ist nicht von Halbsatz 2 ausgenommen, nur weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von Halbsatz 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben ist. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der Gleichstellungsprüfung nach Halbsatz 2 durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris, Rz. 18) oder prozentuale Zeitwerte geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein Mensch mit Schwerbehinderung außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, also nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für den Nachteisausgleich "aG" gelten diesem gegenüber nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, Urteile vom 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 11, S. 45 und 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R -, juris, Rz. 21 f.). Dabei können unter anderem Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl. BSG, a. a. a. O., Rz. 18 f.). Denn Menschen mit Schwerbehinderung, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann etwa erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 m diese darauf beruht, dass Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft sind und neue Kräfte sammeln müssen, bevor sie weiter gehen können (BSG, a. a. O., Rz. 24 und Urteil vom 10. Dezember 2012 - B 9 SB 7/01 R -, BSGE 90, 180 (184 f.)).

Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen dauerhaft vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in Art 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 5/06 R -, juris, Rz. 17).

An dieser Rechtslage für die Zuerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" hat sich auch durch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention - UN-BRK) vom 13. Dezember 2006, in Kraft getreten am 26. März 2009, Gesetz vom 21. Dezember 2008 (BGBl II, S. 1419), Bekanntmachung vom 5. Juni 2009 (BGBl II S. 812) nichts geändert (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris, Rz. 23 m. w. N.). Allerdings kann die UN-BRK als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. März 2011 - 2 BvR 882/09 -, BVerfGE 128, 282 (306); BSG, Urteil vom 24. Mai 2012 - B 9 V 2/11 R -, BSGE 111, 79 (88)). Insoweit ist entsprechend Art. 1 der UN-BRK, wie bereits in § 2 Abs. 1 SGB IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des Menschen mit Behinderung an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen bei der Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkeichens "aG" nicht vor. Es ist bereits nicht nachgewiesen, dass ihr Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt ist, wobei hierfür am ehesten dasjenige der Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R -, juris, Rz. 24). Die klinische Untersuchung durch Dr. R. Mitte November 2011 zeigte ein lediglich verlangsamtes, unsicheres Gangbild. Nach Einsatz der Knie-TEP rechts Anfang März 2012 war die Klägerin, wie Dr. H. feststellte, bereits im Folgemonat wieder an einem Rollator mit sicherem Gangbild, wenn auch langsam und intermittierend schlürfend, aber ohne typische Ausweichbewegungen und ohne klassischen Hinkmechanismus, mobil. Bevor dieser Kniegelenksersatz eingesetzt worden war, verwendete sie sogar keinerlei Hilfsmittel, wie sich dem Entlassungsbericht über den stationären Aufenthalt in der T.klinik in Bad K. entnehmen lässt. Mitte Juni 2012 zeigte sich Dr. R. bei einer weiteren ambulanten Untersuchung ein zwar verlangsamtes, aber immerhin stockfreies Gangbild. Soweit der sachverständige Zeuge Dr. J. Mitte Juni 2013 dargelegt hat, der Klägerin sei ein selbstständiges Gehen ohne Hilfsmittel gar nicht möglich, ist dies durch die spätere Begutachtung des Sachverständigen Dr. Fi. widerlegt worden, wonach sie Mitte Februar 2014 selbst angab, zumindest kurze Strecken noch gehen zu können. Damit in Einklang steht, dass diesem Sachverständigen, als die Klägerin das Untersuchungszimmer betrat, lediglich eine, wenn auch erhebliche Gangunsicherheit aufgefallen ist. Trotz des von der Klägerin angegebenen, sehr schnell auftretenden Schwindels, weshalb sie beim Gehen unsicher werde, was Dr. von Ka. Anfang 2013 als Gleichgewichtsstörungen einordnete, bewältigt sie unter Nutzung eines Rollators ohne Pause immerhin noch eine Wegstrecke von 100 m, wie sich aus dem Gutachten von Dr. Fi. ergibt. Damit wird im Übrigen deutlich, dass die Klägerin nicht ständig auf den Rollstuhl angewiesen ist; gegenüber Dr. Fi. hat sie die aus ihrer Sicht bestehende Notwendigkeit eines solchen ausdrücklich auf den häuslichen Bereich beschränkt. Im Berufungsverfahren hat sie überdies klargestellt, dass Stürze durchschnittlich nur alle zwei Monate auftreten. Epileptische Anfälle sind nach medikamentöser Behandlung, aktuell mit Keppra, 1.000 mg (1-0-1/2) und Carbamazepin, seit dem Jahre 2011 nicht mehr aufgetreten. Schmerzen treten während der zurücklegbaren Gehstrecke nicht auf, was auch daraus ersichtlich ist, dass die derzeitige Medikation, ausweislich des Gutachtens von Dr. Fi., keine Schmerzmittel enthält. Da sich diesem psychiatrisch ein Normalbefund zeigte, deutet auch nichts auf eine psychogene Gangstörung hin. Für Erkrankungen der inneren Organe, die eine Gleichstellung rechtfertigen, fehlt es an hinreichenden Anhaltspunkten. Mangels objektivierter Einschränkung des Gehvermögens auf das schwerste lässt sich damit auch nicht belegen, dass sich die Klägerin nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Menschen, in deren Person ein Regelbeispiel erfüllt ist. Ebenso wenig ist dann begründbar, dass sie sich nur noch mit fremder menschlicher Hilfe fortbewegen kann. Die behauptete Notwendigkeit der Begleitung durch den Ehemann besteht ohnehin nicht, um ein vermindertes Restgehvermögen zu kompensieren, sondern allein aus Sorge, sie könne stürzen. Dies zeigt sich daran, dass sie etwa, wie sie angegeben hat, im Supermarkt den Einkaufswagen als sachliches Hilfsmittel nutzt, da sie sich sonst nicht fortzubewegen traue. Diese von ihr bezeichnete mentale Kraftanstrengung ist für die Prüfung, ob das Restgehvermögen eingeschränkt ist, ohne Belang.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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