L 19 AS 1083/16 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 694/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1083/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 12.05.2016 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet. Das Sozialgericht hat deren Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu Recht abgelehnt.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage gegen den Bescheid vom 13.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2016, mit dem die Antragstellerin zur Stellung eines Antrags auf vorzeitige Altersrente aufgefordert worden ist, ist nach § 86b Abs. 1 SGG zulässig (vgl. hierzu Beschlüsse des Senats vom 26.01.2015 - L 19 AS 1969/14 B ER und vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER -, m.w.N.), aber nicht begründet.

Nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch bzw. die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 13.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2016 entfalten nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung.

Bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat das Gericht eine Abwägung des Interesses der Antragstellerin, die Wirkung des angefochtenen Bescheides (zunächst) zu unterbinden (Aussetzungsinteresse) mit dem Vollzugsinteresse des Antragsgegners vorzunehmen. Die aufschiebende Wirkung ist anzuordnen, wenn das Aussetzungsinteresse das Vollzugsinteresse überwiegt. Dabei richtet sich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in erster Linie nach dem Grad der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angefochtenen Eingriffsbescheides und den daraus folgenden Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn. 12a ff). Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung ist ferner zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber in der vorliegenden Fallgestaltung ein Regel-/Ausnahmeverhältnis angeordnet hat. Da der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen ausgeschlossen hat, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse des Antragsgegners (vgl. BSG, Beschluss vom 29.08.2011 - B 6 KA 18/11 R - SozR 4-1500 § 86a Nr. 2). Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um eine davon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 - zu § 80 Abs. 2 Nrn. 1-3 VwGO). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung muss in diesen Fällen eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme sein (BVerfG, a.a.O; Keller, a.a.O., § 86b Rn. 12c m.w.N).

Danach überwiegt vorliegend das Vollzugsinteresse des Antragsgegners das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, denn der angefochtene Bescheid ist nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren möglichen Prüfungsdichte nicht zu beanstanden.

Die angefochtene Aufforderung an die Antragstellerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente stützt sich auf § 12a i.V.m. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II. Die aus diesen Vorschriften im Zusammenhang mit dem Regelungsgefüge des SGB II und der Regelungskonzeption des Gesetzgebers sich ergebenden Voraussetzungen einer Aufforderung zur Rentenantragstellung erfüllt die streitbefangene Aufforderung an die Antragstellerin. Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Aufforderung sind die Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II, eine vorrangige Leistung zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, sowie die fehlerfreie Ermessensentscheidung des Leistungsträgers nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II, den Leistungsberechtigten zur Antragstellung aufzufordern.

§ 12a SGB II betrifft unter Berücksichtigung von § 65 Abs. 4 SGB II alle Leistungsberechtigten, die nach dem 01.01.2008 das 58. Lebensjahr vollendet haben und damit nicht mehr in den Genuss der sog. 58er-Regelung kommen (vgl. Beschluss des Senats vom 22.05.2013 - L 19 AS 291/13 B ER m.w.N.). Gemäß § 12a S. 1 und S. 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Erforderlich in diesem Sinne ist jede Inanspruchnahme, die Hilfebedürftigkeit vermeidet, also nicht eintreten lässt, beseitigt, also eine bestehende Hilfebedürftigkeit beendet bzw. wegfallen lässt, verkürzt, also die Dauer begrenzt, oder vermindert, also die Höhe verringert. Bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gilt dies aber nicht für eine vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente. Auch nach Vollendung des 63. Lebensjahres muss eine Rente ausnahmsweise dann nicht vorzeitig in Anspruch genommen werden, wenn dies eine "Unbilligkeit" der auf Grundlage von § 13 Abs. 2 SGB II mit Wirkung ab dem 01.01.2008 erlassenen Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (Unbilligkeitsverordnung) darstellt. Nach der gesetzlichen Konzeption stellt die Verpflichtung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente den Grundsatz und die fehlende Pflicht bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres bzw. bei Unbilligkeit die Ausnahme dar (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19.08.2015 - B 14 AS 1/15 R - SozR 4-4200 § 12a Nr. 1). Die Regelungen des § 12a SGB II und der Unbilligkeitsverordnung sind verfassungsrechtlich unbedenklich (BSG, a.a.O.).

Die Voraussetzungen der Pflicht zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind vorliegend erfüllt. Die Antragstellerin hat am 04.07.2011 (also nach dem 01.01.2008) das 58. Lebensjahr und am 04.07.2016 das 63. Lebensjahr vollendet. Der Verpflichtung der Antragstellerin zur Rentenantragstellung steht die Unbilligkeitsverordnung nicht entgegen, weil keiner der dort abschließend (vgl. BSG, Urteil vom 19.08.2015, a.a.O.) geregelten Ausnahmetatbestände eingreift.

Soweit die Antragstellerin meint, das Sozialgericht habe den Begriff der "Erwerbstätigkeit" in § 4 Unbilligkeitsverordnung zu eng ausgelegt, vermag der Senat dieser Auffassung nicht zu folgen.

§ 4 UnbilligkeitsVO ist zum einen auf hilfebedürftige Personen zugeschnitten, die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausüben und so zu einem nicht unerheblichen Umfang zur Deckung des eigenen Lebensunterhalts beitragen. Das gleiche gilt zum anderen für Personen, die aufgrund ihrer nicht abhängigen Erwerbstätigkeit nicht sozialversicherungspflichtig sind, deren Einkommen aber so hoch ist, dass es dem monatlichen Bruttoeinkommen eines sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von derzeit mindestens 450 EUR entspricht. Mit der Zielsetzung, die Eingliederung in Arbeit zu fördern, wäre es nach Auffassung des Verordnungsgebers nicht vereinbar, gerade diese in Arbeit eingegliederten Personen zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente zu verpflichten (vgl. die Begründung des Verordnungsgebers zur Unbilligkeitsverordnung, abrufbar unter http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Gesetze/unbilligkeitsverordnungbegruendung.pdf;jsessionid=37A4E42FCA7E4F6498BBB9A6E31BF86A? blob=publicationFile&v=2). Mit den von § 4 Unbilligkeitsverordnung erfassten Erwerbstätigkeiten ist die Pflegetätigkeit der Antragstellerin indes nicht vergleichbar.

Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des SGB XI durch das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vom 26.05.1994 (BGBl. I S. 1014) das Ziel verfolgt, bei Sicherstellung einer sachgerechten Pflege die Möglichkeit der häuslichen Pflege zu fördern und ihr Vorrang vor stationärer Unterbringung zu geben (vgl. BT-Drs. 12/5262, S. 111 zu § 32). Dafür hat er zwei unterschiedliche Leistungsmodelle zur Verfügung gestellt: Die häusliche Pflegehilfe nach § 36 SGB XI ist eine Sachleistung, bei der die Pflegebedürftigen die Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch personelle Hilfe Dritter erhalten. Die Pflegekräfte müssen bei der Pflegekasse selbst oder bei einer zugelassenen ambulanten Pflegeeinrichtung angestellt sein oder als Einzelpersonen mit der Pflegekasse einen Vertrag nach § 77 Abs. 1 SGB XI geschlossen haben. Im Falle des Pflegegeldes hingegen erhalten die Pflegebedürftigen gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB XI eine laufende Geldleistung, für die sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellen müssen. Die Pflegepersonen sind dann je nach Wahl Angehörige des Pflegebedürftigen, ehrenamtliche Pflegepersonen oder mit dem Pflegegeld "eingekaufte" professionelle Pflegekräfte, die aber in keinem Vertragsverhältnis zur Pflegekasse stehen (vgl. BT-Drs. 12/5262, S. 112 zu § 33).

Gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 SGB XI ist ein Vertrag zwischen der Pflegekasse mit Verwandten, Verschwägerten und Haushaltshilfen ausgeschlossen. Das Pflegegeld ist daher einfachgesetzlich gerade nicht als Entgelt ausgestaltet. Es soll vielmehr im Sinne einer materiellen Anerkennung einen Anreiz darstellen und zugleich die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen stärken, indem diese das Pflegegeld zur freien Gestaltung ihrer Pflege einsetzen können (vgl. BT-Drs. 12/5262, S. 112 zu § 33). Der Konzeption des Pflegegeldes liegt der Gedanke zugrunde, dass familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege unentgeltlich erbracht wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.03.2014 - 1 BvR 1122/12 - NZS 2014, 414). Insofern durfte der Gesetzgeber mit Blick auf die von Angehörigen erbrachten Pflegeleistungen zum einen berücksichtigen, dass Ehegatten untereinander (gemäß § 1353 BGB) sowie Eltern und Kinder gegenseitig (gemäß § 1618a BGB) zur Beistandsleistung gesetzlich verpflichtet sind. Zum anderen entspricht die Pflege von Angehörigen auch einer sittlichen Pflicht (vgl. BSG, Urteil vom 18.03.1999 - B 3 P 8/98 R - SozR 3-3300 § 77 Nr. 1). Dies hat den Gesetzgeber veranlasst, mit dem Pflegegeld für die "ehrenamtliche" Pflege (vgl. BT-Drucks 12/5262, S. 101) durch Angehörige eine finanzielle Anerkennung vorzusehen, die lediglich durch die soziale Absicherung der Pflegeperson in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung ergänzt wird (§ 44 SGB XI). Vor diesem Hintergrund kommt eine Gleichstellung von Pflegetätigkeiten mit den von § 4 Unbilligkeitsverordnung erfassten Erwerbstätigkeiten nicht in Betracht.

Der Antragsgegner hat auch das ihm im Rahmen der Aufforderung zur Antragstellung eingeräumte Ermessen erkannt und pflichtgemäß ausgeübt. Er hat ausreichend erkennen lassen, dass er sich seiner Pflicht zur Ermessensausübung bewusst war und Gründe, weshalb vom gesetzlichen Regelfall, der vorzeitigen Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres den Vorrang vor dem Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II einzuräumen, abgewichen werden könnte, nicht ersichtlich sind.

Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung hat ein Gericht nur zu prüfen, ob der Träger sein Ermessen überhaupt ausgeübt, er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (BSG, Urteile vom 19.08.2015, a.a.O. und vom 09.11.2010 - B 2 U 10/10 R - SozR 4-2700 § 76 Nr. 2 m.w.N.). Ein Ermessensnichtgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung liegt hier nicht vor. Ebenso ist kein Ermessenfehlgebrauch erkennbar. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt zum einen vor, wenn die Behörde ein unsachliches Motiv oder einen sachfremden Zweck verfolgt (Ermessensmissbrauch). Zum anderen liegt der Fehlgebrauch als Abwägungsdefizit vor, wenn sie nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat. Ein Ermessensmissbrauch ist nicht ersichtlich. Auch liegt kein Abwägungsdefizit vor. Nach der Konzeption des § 12a SGB II entspricht es dem pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers, im Regelfall von der Ermächtigung zur Aufforderung zur Antragstellung Gebrauch zu machen. Relevante Ermessensgesichtspunkte können deshalb nur solche sein, die einen atypischen Fall begründen, in dem vom gesetzlichen Regelfall der Aufforderung zur Antragstellung zur Durchsetzung der Verpflichtung zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen abzusehen ist. Es kommen nur besondere Härten im Einzelfall in Betracht, die keinen Unbilligkeitstatbestand i.S.d. Unbilligkeitsverordnung begründen, aber die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente aufgrund außergewöhnlicher Umstände als unzumutbar erscheinen lassen (BSG, Urteil vom 19.08.2015, a.a.O.).

Eine besondere Härte in diesem Sinne ist vorliegend nicht erkennbar. Allein die Tatsache, dass der Bezug einer vorzeitigen Altersrente mit dauerhaften Rentenabschlägen verbunden ist und der Rentenabschlag ggfls. eine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII verursachen kann, begründet keine besondere Härte (BSG, Urteil vom 19.08.2015, a.a.O.). Soweit die Antragstellerin die Auffassung vertritt, eine besondere Härte sei aufgrund der - ggfs. aufzugebenden - Pflegetätigkeit für ihren Ehemann anzunehmen, ist darauf hinzuweisen, dass sich hierdurch auch eine besondere Härte nicht begründen lässt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren etwa im Dezember 2013 in der Bundesrepublik Deutschland 2,63 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Mehr als zwei Drittel (71 % oder 1,86 Millionen) aller Pflegebedürftigen wurden nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes zu Hause versorgt. Von diesen wiederum erhielten 1,25 Millionen Pflegebedürftige ausschließlich Pflegegeld - das bedeutet, dass sie in der Regel allein durch Angehörige gepflegt wurden (vgl. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 12.03.2015 - 94/15). Angesichts der sich daraus ergebenden erheblichen Verbreitung von Pflege durch Angehörige liegt auch aufgrund der Pflegetätigkeit durch die Antragstellerin kein atypischer Fall vor. Andere Umstände, die einen Fall der besonderen Härte begründen könnten, sind nach Aktenlage nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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