L 16 AS 409/16 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 40 AS 1315/16 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 409/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Beim Vorliegen von voller Erwerbsminderung kann ein Leistungsempfänger nach dem SGB II gemäß §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II zur Beantragung von Leistugen nach dem SGB XII aufgefordert werden.
Bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Aufforderung ist zu überprüfen, ob eine vorrangige Leistung gemäß § 12a SGB II vorliegt.
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 9. Juni 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Rechtmäßigkeit einer Aufforderung des Antragsgegners und Beschwerdeführers (Bf) gemäß §§ 5 Abs. 3, 12 a Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu beantragen streitig.

Der 1956 geborene Antragsteller und Beschwerdegegner (Bg) erhält seit dem 01.04.2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II vom Bf. Zuvor hatte er Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter Landkreis M. bezogen. Zuletzt wurde ihm mit Bescheid vom 04.09.2015 Arbeitslosengeld II für den Zeitraum von Oktober 2015 bis September 2016 in Höhe von monatlich 729 EUR bewilligt.

Aus den Akten des Bf ergibt sich eine Beschwerde/Widerspruch des Bg vom 16.12.2015 gegen die Einstellung seiner Arbeitslosengeld II-Leistungen. Mit Schreiben vom 10.12.2015, das sich nicht in den Akten des Bf befindet, sei der Bg aufgefordert worden am 15.12.2015 einen persönlichen Termin wahrzunehmen. In diesem Termin sei ihm ein Gutachten des Arztes der Agentur für Arbeit mündlich eröffnet worden. Nach diesem Gutachten sei er dauerhaft nicht arbeitsfähig, der Bf beabsichtige daher die Leistungen sofort einzustellen. Der Bg verwahrte sich ausdrücklich gegen die im Gutachten behauptete Diagnose einer psychischen Erkrankung mit Depressionen.

Die sozialmedizinische Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Agentur für Arbeit vom 09.12.2015 zum Gesundheitszustand des Bg beinhaltet die Feststellung, dass ein Bandscheibenschaden mit Nervenwurzelreizung, mit einer chronischen Kreuzschmerz- und Beschwerdesymptomatik bestehe. Die Beweglichkeit sei insgesamt deutlich eingeschränkt. Die Behandlungsmöglichkeiten scheinen ausgereizt zu sein, eine medizinische Reha sei nicht Erfolg versprechend. Es bestünde eine psychische Erkrankung mit Depressionen. Aufgrund dieser Beurteilung wurde die Prognose dauerhafter verminderter oder aufgehobener Leistungsfähigkeit gestellt.

Mit Bescheid vom 15.02.2016 wurde der Bg aufgefordert Sozialhilfe bei dem Landratsamt L-Stadt zu beantragen. Der Anspruch auf Sozialhilfe könne den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II verringern oder ganz ausschließen. Unter Abwägung aller Gesichtspunkte werde der Bg zur Beantragung vorrangiger Leistungen aufgefordert. Das Jobcenter sei gehalten, wirtschaftlich sparsam zu handeln. Der Bg sei verpflichtet, die Hilfebedürftigkeit zu beseitigen oder zu verringern. Es seien keine maßgeblichen Gründe ersichtlich, welche gegen die Beantragung der genannten vorläufigen Leistungen sprächen. In Abwägung der Interessen des Bg mit dem Interesse an wirtschaftlicher und sparsamer Verwendung von Leistungen nach dem SGB II sei die Beantragung der genannten Leistung zumutbar.

Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2016 zurückgewiesen, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig. Die Aufforderung, eine vorrangige andere Sozialleistung zu beantragen, stehe im Ermessen des Jobcenters. Es seien jedoch keine Gesichtspunkte ersichtlich, die zu einer Ermessensausübung zu Gunsten des Bg führen könnten. Der Bg sei bei unterstellter fehlender Erwerbsfähigkeit nicht nach dem SGB II leistungsberechtigt. Offensichtliche Zweifel an den Feststellungen des ärztlichen Dienstes würden nicht bestehen.

Am 18.05.2016 erhob der Bg gegen den Widerspruchsbescheid Klage zum Sozialgericht München und begehrte zugleich einstweiligen Rechtsschutz.

Mit Beschluss vom 09.06.2016 ordnete das Sozialgericht München die aufschiebende Wirkung der Klage vom 19.05.2016 gegen den Bescheid vom 15.02.2016 an. Die Aufforderung zur Beantragung von Leistungen nach dem SGB XII sei zur Überzeugung des Gerichts rechtswidrig. Bei Leistungen nach dem SGB XII handle es sich nicht um Sozialleistungen anderer Träger im Sinne von § 12a Satz 1 SGB II. Eine Verpflichtung zur Beantragung von Leistungen anderer Träger beschränke sich auf Leistungen, die einen Anspruch nach dem SGB II vermeiden, beseitigen oder verringern. Dies treffe auf Ansprüche nach dem SGB XII nicht zu. Leistungen nach dem SGB II und Leistungen nach dem SGB XII stünden in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander (§ 5 Abs. 2 Satz 2 SGB II). Im Übrigen sei das Verfahren bei streitiger Erwerbsfähigkeit in § 44a SGB II geregelt. Dieses Verfahren beziehe sich jedoch nur auf das Verhältnis der Träger untereinander. Es gebe keine Möglichkeit für den Leistungsberechtigten Widerspruch gegen eine gutachterliche Stellungnahme des Rentenversicherungsträgers oder die Entscheidung der Bundesagentur einzulegen. Die einzige Möglichkeit für Leistungsberechtigte, sich gegen die Feststellungen über die Erwerbsfähigkeit zu wehren, liege darin Leistungen nach dem SGB II zu beantragen und gegen die dann ablehnende Entscheidung gerichtlich vorzugehen. Im Rahmen dieses Verfahrens werde dann die Erwerbsfähigkeit abschließend geklärt.

Am 24.06.2016 hat der Bf Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München zum Bayerischen Landessozialgericht erhoben. Das Verfahren nach § 44a SGB II finde lediglich zwischen zwei Sozialleistungsträgern statt. Aus Sicht des Bf handle es sich bei der Verweisung eines nicht Erwerbsfähigen auf die Leistungen nach dem SGB XII, die in einem Ausschlussverhältnis zu den Leistungen nach dem SGB II für Erwerbsfähige stünden, um einen von § 5 Abs. 3 in Verbindung mit § 12 a SGB II erfassten Fall. Aufgrund der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit des Bg sei auch in Erwägung zu ziehen, dem Antrag des Bg das Rechtsschutzinteresse zu versagen. Das Verhalten des Bg, sich jahrelang der Arbeitsvermittlung durch Krankmeldungen zu entziehen, nach Feststellung von Erwerbsunfähigkeit sich aber hartnäckig zu weigern, die "richtigen" Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, sei rechtsmissbräuchlich.

Der Bg hat ausgeführt, dass die Einlassungen des Bf unbegründet seien und die Beschwerde deshalb abzulehnen sei.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die beigezogene Verwaltungsakte des Bf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht erhoben (§§ 173, 174 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 15.02.2016 angeordnet.

Nach § 39 Nr. 3 SGB II haben Verwaltungsakte mit denen zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird keine aufschiebende Wirkung. Daher beurteilt sich der Antrag des Klägers gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG. Danach kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Dabei entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der Hauptsache sowie einer allgemeinen Interessensabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 86b Rn. 12e ff.). Das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und das private Interesse des Betroffenen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen, wobei zu beachten ist, dass der Gesetzgeber mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung gegenüber dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub grundsätzlich Vorrang einräumt (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 11. Aufl, 2014, § 86b Rdnr. 12c).

Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Aufforderung nach § 5 Abs. 3 SGB II sind die Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II, eine vorrangige Leistung zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, und die fehlerfreie Ermessensentscheidung des Leistungsträgers nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, den Leistungsberechtigten zur Antragstellung aufzufordern (BSG, Urteil vom 19. August 2015 - B 14 AS 1/15 R -, SozR 4-4200 § 12a Nr 1, Rn. 20).

Im vorliegenden Fall hat der Senat ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 15.02.2016. Anders als das Sozialgericht geht der Senat davon aus, dass bei feststehender voller Erwerbsminderung grundsätzlich Leistungsberechtigte nach §§ 5 Abs. 3, 12a SGB II aufgefordert werden können Leistungen nach dem SGB XII zu beantragen. Die Leistungsträger von Sozialleistungen sind in § 12 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) definiert, der auf die §§18 bis 29 SGB I verweist. Nach § 28 SGB I sind Träger von Sozialleistungen auch die Träger der Leistungen der Sozialhilfe.

Der Senat hat vorliegend jedoch erhebliche Zweifel daran, dass der Bg voll erwerbsgemindert ist. Der Bf stellt eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Bg aufgrund der langen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit sowie des Gutachtens des medizinischen Dienstes der Agentur für Arbeit fest. Aus einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann jedoch nicht zuverlässig auf das Bestehen einer vollen Erwerbsminderung geschlossen werden. Das dem Senat nur teilweise vorliegende Gutachten des medizinischen Dienstes der Agentur für Arbeit erscheint nicht ausreichend um von einer vollen Erwerbsminderung des Bg auszugehen. Zum einen wurde der Bg vom medizinischen Dienst der Agentur für Arbeit nicht untersucht, zum anderen fehlen bereits ausreichend präzise Feststellungen zu den Diagnosen und deren Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit des Bg. Daher steht nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit fest, dass der Bg voll erwerbsgemindert ist. Die volle Erwerbsminderung ist allerdings Voraussetzung für die Gewährung von Leistungen nach SGB XII. Bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Aufforderung eine vorrangige Leistung gemäß § 12a SGBII zu beantragen ist auch zu überprüfen, ob tatsächlich eine solche vorliegt (Eicher/Greiser in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 39 Rn. 25). Dies ist dem Senat aufgrund der sich in den Akten des Bf befindlichen Unterlagen nicht möglich.

Im Übrigen steht die Aufforderung an Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorrangigen Leistung im Ermessen der Leistungsträger. So gilt das dem Leistungsträger in § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II eingeräumte Ermessen nicht nur für die Entscheidung, ob ein Antrag gestellt werden soll, sondern hat eine zeitliche Vorwirkung bereits in den Aufforderungsbescheid hinein. Auch hier muss der Leistungsträger Ermessenserwägungen anstellen (vgl. BSG, Urteil vom 19. August 2015, B 14 AS 1/15 R, Rn. 20 ff). Wenn Leistungsträger ermächtigt sind, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, haben sie gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB I Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Gemäß § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X muss die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist und wie sie gewichtet worden sind. Ohne Mitteilung dieser Gesichtspunkte ist nicht zu erkennen, ob der Leistungsträger in pflichtgemäßer, dem Zweck der Ermächtigung entsprechender Weise von seinem Ermessen Gebrauch gemacht hat (Engelmann in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 35, Rn. 8).

Der Bf hat ausweislich des Bescheids vom 15.02.2016 erkannt, dass er Ermessen auszuüben hat, denn er hat in dem Bescheid ausgeführt, dass er unter Abwägung aller Gesichtspunkte zu seiner Entscheidung gekommen sei. Er wäge die Interessen des Bg mit den Interessen des Bf an der wirtschaftlichen und sparsamen Verwendung von Leistungen nach dem SGB II ab. Welche Interessen des Bg genau in die Ermessensentscheidung eingeflossen sind ist dem Bescheid nicht zu entnehmen. Daher erscheint die Ermessensausübung des Bf nicht ausreichend.

Aus diesen Gründen ist die Entscheidung des Sozialgerichts die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 15.02.2016 anzuordnen nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruft auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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