S 37 AS 10926/16 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 10926/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. § 7 Abs. 4 SGB II in der Fassung des 9. SGB IIÄndG stellt klar, dass erwerbsfähige Personen, die von SGB II-Leistungen ausgeschlossen sind, u. U. Sozialhilfe beanspruchen können. Die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 7 Abs. 4 SGB II weisen insoweit keine systematischen Unterschiede auf.

2. In einer Haushaltsgemeinschaft mit hilfebedürftigen SGB II-Angehörigen bedarf es zur Begründung eines Anspruchs auf anteilige Leistungen für Unterkunft und Heizung keines Untermietvertrages.

3. Solange EU-Bürger keiner Ausreispflicht unterliegen, kann ein akuter Hilfebedarf nicht mit Verweis auf eine Rückkehr ins Herkunftsland verneint werden.
Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern für den Zeitraum vom 1.8. bis 31.10.2016 Leistungen zum Lebensunterhalt in Höhe von jeweils 364 EUR + 173,20 EUR monatlich zu gewähren. Der Antragstellerin zu 2) ist unverzüglich nach der Entbindung eine Erstausstattung nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII zu gewähren. Der Beigeladene trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe:

I. Die 1998 geb. Antragstellerin (Ast.) zu 2) ist im Jahr 2010 zusammen mit ihrer Mutter von Polen in das Bundesgebiet eingereist. Seitdem bezogen Mutter und Tochter Alg II als Bedarfsgemeinschaft (BG) mit zwei Brüdern der Ast. zu 2).

Am 14.5.2016 heiratete die Ast. zu 2) den 1997 geb. Ast. zu 1), der am 5.6.2015 mit in die Wohnung der BG gezogen war. Leistungen nach dem SGB II hatte er nicht erhalten.

Der Antragsgegner (Jobcenter) änderte die Bewilligung für die BG mit Wirkung ab 1.6.2016 dahingehend ab, dass die Mutter der Ast. zu 2) und die beiden Brüder eine eigenständige BG bilden, die mit der BG aus Ast. zu 2) und Ehemann zusammen in einer Wohnung leben. Die Unterkunfts- und Heizkosten wurden kopfteilig berücksichtigt.

Dies führte zu einem Ausfall der rechnerisch auf die Ast. zu 1) und 2) entfallenden KdU-Bedarfe, weil der Antragsgegner den für die Ehepaar-BG gestellten Leistungsantrag mit Bescheid vom 14.7.2016 ablehnte; der Ast. zu 1) halte sich nur zur Arbeitsuche im Bundesgebiet auf und sei daher von SGB II-Leistungen ausgeschlossen. Die Ast. zu 2) habe weder ein eigenes noch ein über ihre Mutter begründetes Freizügigkeitsrecht erworben.

Über den hiergegen erhobenen Widerspruch ist noch nicht entschieden worden.

Am 29.7.2016 haben die Ast. beim Sozialgericht Berlin einen Eilantrag auf Gewährung laufender SGB II-Leistungen und eine Babyerstausstattung im Hinblick auf eine am 2.9.2016 erwartete Entbindung beantragt.

Sie tragen vor, mangels Arbeit oder sonstiger Mittel hilfebedürftig zu sein. Der bisherige Lebensunterhalt sei mit "Spenden" von Angehörigen und (Ast. zu 1)) Gelegenheitsjobs bestritten worden.

Das mit Beschluss vom 15.8.2016 beigeladene Sozialamt weist eine Leistungsverpflichtung zurück; § 21 SGB XII entfalte eine Sperrwirkung gegenüber erwerbsfähigen Personen, wie hier.

II. Der nach § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist in dem ausgesprochenen Umfang der Beschlussleistung auch begründet.

Eine Notlage, d. h. fehlende Mittel zur Sicherstellung des Existenzminimums nach Maßgabe der Vorschriften des SGB XII, ist hinreichend glaubhaft gemacht worden.

Kindergeld steht den Antragstellern nicht zu (nachgewiesen durch Schreiben der Familienkasse). Über Schonvermögen oberhalb der Grenze von § 90 SGB XII verfügen sie nach glaubhafter Bekundung, bekräftigt durch Vorlage aktueller Kontobelege, nicht.

Die Erklärung des Ast. zu 1), in der Vergangenheit gelegentlich Arbeit gefunden zu haben, derzeit aber keine feste Arbeit zu haben, genügt im Rahmen des summarischen Eilverfahrens, um einen aktuellen Bedarf glaubhaft zu machen (BVerfG vom 6.8.2014 – 1 BvR 1453/12).

Die Mutter der Ast. zu 2) lebt ausweislich der Begründung im Ablehnungsbescheid des Antragsgegners und einer dortigen aktuellen telefonischen Auskunft vom 22.8.2016 von Alg II ohne eigenes Einkommen. Auf eine Unterstützung durch die Schwiegermutter kann der Ast. zu 1) daher nicht verwiesen werden.

Auch die Ast. zu 2) kann mangels Leistungsfähigkeit nicht eine auf Unterstützung ihrer Mutter zurückgreifen. Angesichts der kurz bevorstehenden Entbindung ist auch eine Arbeitsaufnahmen nicht zu erwarten.

Ein Leistungsanspruch nach dem SGB II besteht nicht:

Der Ast. zu 1) ist nach Einschätzung im summarischen Verfahren nur als Arbeitsuchender freizügigkeitsberechtigt und daher von SGB II-Leistungen ausgeschlossen. Ein abgeleitetes Recht als Ehemann der Ast. zu 2) besteht nicht, weil auch die Ast. zu 2) über kein eigenes oder von ihrer Mutter abgeleitetes Freizügigkeitsrecht verfügt.

Dass die Ast. zu 2) zusammen mit ihrer Mutter seit 2010 im Bundesgebiet lebt, durchgehend unterstützt mit SGB II-Leistungen, hat nach BVerwG vom 16.7.2015 - 1 C 22/14 kein Daueraufenthaltsrecht begründet.

Somit ist der Beigeladene verpflichtet, den in Art. 1 GG verankerten Anspruch auf Absicherung des Existenzminimums einstweilen zu erfüllen. Das erkennende Gericht folgt der überzeugenden Rechtsprechung des BSG, der sich auch beide SO-Senate des LSG Berlin-Brandenburg angeschlossen haben.

Eine Sperrwirkung hat § 21 SGB XII nur in der völlig einseitigen Lesart einiger Instanzgerichte, die ignoriert, dass erwerbsfähige Personen, z. B. Freigänger, nach einhelliger Auffassung Anspruch auf Sozialhilfe haben; der Gesetzgeber hat das im 9. SGB IIÄndG jüngst bekräftigt durch den Ausschluss von Freigängern, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen (Änderung von § 7 Abs. 4 SGB II zum 1.8.2016).

Mit der Zusatzannahme, § 7 Abs. 4 SGB II fingiere eine Erwerbsunfähigkeit, kann das Argument der Sperrwirkung nicht untermauert werden. Denn gäbe es die behauptete Dichotomie zwischen SGB II und SGB XII, wäre z. B. die Regelung in § 31b Abs. 2 SGB II sinnlos. Der Gesetzgeber ging und geht offenbar davon aus, dass erwerbsfähigen Personen der Zugang zum SGB XII eben nicht absolut verschlossen ist.

Zu Recht hat das BSG daher die Grenzen zulässiger Auslegung gewahrt, um verfassungskonform die auch hier gegebene Fallkonstellation zu lösen, dass die bis zu einer Feststellung der Ausländerbehörde, dass eine Freizügigkeit nicht (mehr) besteht, nicht ausreisepflichtigen Antragsteller, solange sie sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und damit im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten, das Grundrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums beanspruchen können. Als Menschenrecht steht dieses Grundrecht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Der objektiven Verpflichtung aus Art 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein individueller Leistungsanspruch, da das Grundrecht die Würde jedes einzelnen Menschen schützt und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.

Frerichs (ZESAR 2014, S. 279 ff) hat bereits vor dem EuGH-Urteil aufgezeigt, dass ein Verweis auf eine Rückkehr arbeitsuchender EU-Bürger ins Heimatland bzw. auf die Mittel, um diese Rückreise zu finanzieren, mit der Verfassungsrechtsprechung zum Recht auf Sicherstellung des Lebensunterhalts auf dem Niveau einer durch die Regelbedarfe nach §§ 20, 23 SGB II definierten Mindestsicherung nicht zu vereinbaren ist. Erst recht ist die (sozialpolitische) Absicht einer Verhinderung des Zuzugs hilfebedürftiger Menschen aus "armen" EU-Staaten kein Argument, das vor Art. 1 GG Bestand hat (dazu sehr klar Frerichs, a.a.O., S.238).

Im vorliegenden Fall ist das offenkundig: Die hochschwangere Ast. zu 2) lebt seit 2010 im Bundesgebiet, wo sich auch ihre Mutter aufhält. Sie in dieser Situation auf eine Rückkehr nach Polen zu verweisen, wäre selbst unter Abweichung von BSG-Rechtsprechung, soweit diese nach sechsmonatigem Aufenthalt eine Ermessensbegrenzung auf Null annimmt, klar rechtswidrig:

BVerfG vom 6.8.2014 – 1 BvR 1453/12: "Der elementare Lebensbedarf eines Menschen muss in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht (vgl BVerfG, 09.02.2010, 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175 (225)). Bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit als Voraussetzung eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 7 Abs 1 S 1 Nr 3, § 9 SGB 2) ist daher auf die gegenwärtige tatsächliche Situation der Antragsteller abzustellen."

Der Ast. zu 1) hat jedenfalls Anspruch auf eine ermessensgesteuerte Entscheidung über eine Hilfegewährung, die hier wegen der familiären Situation auf einen Leistungsanspruch verengt ist.

Der Antrag auf SGB II-Leistungen umfasst nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz alle Leistungen, mit denen der Anspruch auf Existenzsicherung erfüllt werden kann, so dass die Erwägungen zu einem Anspruch aus Art. 1 GG nicht damit beiseite gewischt werden können, es seien nur Leistungen nach dem SGB II beantragt worden.

Die Höhe der zuerkannten, unabweisbaren Leistungen ergibt sich aus dem Regelbedarf von jeweils 364 EUR und aus den Kosten für das Mitwohnen bei der Mutter der Ast. zu 2). Deren Anspruch auf SGB II-Leistungen nach § 22 SGB II ist um die rechnerisch auf die Ast. zu 1 und 2 entfallenden Anteile (jeweils 173,20 EUR) gekürzt worden.

Unter den gegebenen Umständen bedarf es keines förmlichen Untermietvertrages, um einen KdU-Anspruch der Ast. auszulösen; es liegt auf der Hand, dass die hilfebedürftige Mutter der Ast. zu 2) die Ast. nicht kostenfrei mitwohnen lassen kann.

Mit Zuerkennung laufender Leistungen ab 1.8.2016, dem Tag nach Eingang des Eilantrags bei Gericht und für die Dauer von drei Monaten, gemäß der Erwägungen der SO-Senate des LSG Berlin-Brandenburg, dass es dem Ast. zu 1) bis dahin gelungen sein könnte, eine Arbeit zu finden, die dann einen Anspruch auf Alg II gibt, ist die glaubhaft gemachte Notlage abgewendet. Die im September 2016 erwartete Entbindung begründet einen Anspruch auf Leistungen nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII, die der Beigeladene nach der Entbindung zeitnah im Rahmen der dafür vorgesehenen Pauschalen zu erfüllen hat.

Die 1998 geb. Ast. zu 2) ist nach summarischer Prüfung über ihre Mutter krankenversichert (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 SGB V), so dass ihr Krankenversicherungsschutz derzeit gesichert ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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