S 2 SO 199/16 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 199/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 383/16 B ER
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.04.2016 aufschiebende Wirkung hat und der Antragsgegner vorläufig weiterhin verpflichtet ist, der Antragstellerin bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom 04.04.2016 Leistungen nach Maßgabe des Bescheides vom 20.05.2010 in der Fassung des Bescheides vom 08.09.2014 zu erbringen. Im Übrigen wird der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.
Die Antragstellerin begehrt die Übernahme ungedeckter Kosten der ambulanten Pflege im einstweiligen Rechtsschutz in Höhe von 9.943,11 Euro.

Die Antragstellerin ist pflegebedürftig nach der Pflegestufe 3. Seinerzeit wurden ihr mit Bescheid vom 20.05.2010 die Übernahme ungedeckter Pflegekosten für einen Monat befristet bewilligt. Der Bescheid enthielt einen Hinweis, dass die Leistungen weiterbewilligt würden, soweit die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sich nicht änderten. Mit Bescheid vom 18.08.2010 wurden die Leistungen dem höheren Pflegebedarf angepasst.

Im September 2015 beschwerte sich der Ehemann der Antragstellerin im Zusammenhang mit aktuellen Rechnungen des ambulanten Pflegedienstes bei der Antragsgegnerin dahin, der Pflegedienst habe die Leistungen teils gar nicht, teils schlecht erbracht und wolle nur Geld machen. Seitens des Pflegedienstes sei viel Druck auf ihn ausgeübt worden. Für die Einzelheiten wird auf den Telefonvermerk vom 07.09.2015 Bezug genommen.

Sodann erfolgt ein Hausbesuch durch eine Pflegemanagerin der Antragsgegnerin. Auf das Protokoll vom 29.10.2015 wird Bezug genommen. Darin heißt es, die Mobilisation sei entgegen der Angabe im Leistungsnachweis nicht erfolgt und die Teilwaschungen hätten ebenfalls nicht stattgefunden. Die Wohnung sei insgesamt in einem ungepflegten Zustand.

Für die Monate September, Oktober und November 2015 leistete die Antragsgegnerin einen reduzierten Kostenanteil von jeweils 247,67 Euro.

Am 18. Februar fand ein Gespräch zwischen dem Antragsgegner und dem Pflegedienst statt. Der Pflegedienst erläuterte, dass der Ehemann ebenfalls pflegebedürftig nach der Pflegestufe 1 sei. Die Antragstellerin selbst sei mit 149 kg adipös, habe Diabetes, leide unter Wassereinlagerungen und Luftnot. Sie benötige rund um die Uhr ein Sauerstoffgerät. Sie verbringe die Zeit überwiegend liegend im Bett. Für die Pflege und Versorgung komme erschwerend hinzu, dass die Wohnung zum einen sehr vollgestellt sei und zum anderen ein Schäferhund mit in der Wohnung lebe. Der Hund komme wohl selten nach draußen, so dass es vorkomme, dass er in der Wohnung oder auf dem Balkon uriniere. Die überall sich verteilenden Hundehaare erschwerten die Reinigung der Wohnung zusätzlich. Die Eheleute setzen regelmäßig Notrufe ab. Dies habe den Hintergrund, dass die Antragstellerin Abführmittel nehme. Teilweise habe sie dann schon geleert, wenn der Pflegedienst eintreffe und es werde eine Teilwaschung erforderlich. Im Rahmen des Gespräches sagte der Pflegedienst die Vorlage von detaillierten und individuellen Kostenkalkulationen mit Angabe der einzelnen Versorgungsmodule zu. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die nachfolgende Korrespondenz in der Akte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 04.04.2016 bewilligte die Antragsgegnerin für den Zeitraum 01.10.2015 bis 29.02.2016 und für den Monat März 2016 dann die Übernahme der ungedeckten Kosten der ambulanten Pflege für die auf Seite 2 des Bescheides tabellarisch aufgeführten Leistungsmodule. Auf den Inhalt des Bescheids wird Bezug genommen. Die Änderung der Leistungskomplexe zu den bisher bewilligten Leistungskomplexen erfolge aufgrund der Feststellungen des Fallmanagements. Aus den Feststellungen ergebe sich, dass die mehrmals am Tag aufgeführten Teilwaschungen nicht erfolgten. Die Intimhygiene nach Ausscheidung sei bereits im Leistungskomplex Ausscheidung enthalten. Sie sei nicht als Teilwaschung abzurechnen. Der Leistungskomplex Mobilisation sei aufgrund der Situation der Antragstellerin gar nicht durchführbar. Die Leistungen des Moduls "selbständige Nahrungsaufnahme" würden regelmäßig vom Ehemann erbracht und seien daher auf einmal täglich zu kürzen gewesen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheids vom 04.04.2016 Bezug genommen.

Der Bescheid vom 04.04.2016 enthält in der Akte der Antragsgegnerin einen Vermerk "ab" neben dem Datum. Der Zugang bei der Antragstellerin selbst ist ungeklärt. Nachdem sich am 13.05.2016 eine Bevollmächtigte bei dem Antragsgegner bestellt hatte, wurde dieser der Bescheid vom 04.04.2016 per Telefax übermittelt. Gleichzeitig wurde das Bestellungsschreiben der Anwältin als Widerspruch ausgelegt und mit Schriftsatz vom 18.05.2016 wies der Antragsgegner unter näherer Darlegung darauf hin, der Widerspruch sei verfristet und es wurde angefragt, ob er aufrecht erhalten wird.

Per Telefax vom 31.05.2016 wurde Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.04.2016 eingelegt.

Nun begehrt die Antragstellerin die Kostenübernahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Der Bescheid vom 04.04.2016 sei rechtswidrig, wenn nicht gar nichtig. Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Antragsschrift Bezug genommen.

Die Antragstellerin beantragt,

der Antragsgegnerin aufzugeben, einstweilen der Antragstellerin Leistungen nach dem SGB XII durch Übernahme der Pflegekosten in Höhe von 9.943,11 Euro zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er trägt vor, der Widerspruch sei verfristet. Der Bescheid vom 04.04.2016 benötige keine Rechtsgrundlage für eine Aufhebung. Es handle sich um eine erstmalige Bewilligung für das Zeitintervall. Aufgrund der Nichtzahlung im Oktober sei es nicht zu einer konkludenten Weiterbewilligung gekommen.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsake und die Aktenbände IV und V des Verwaltungsverfahrens. Diese haben bei der Entscheidung vorgelegen.

II.
Der von der Bevollmächtigten laienhaft formulierte Antrag, der nicht erkennen lässt, welcher Bescheid in welcher Form angegriffen werden soll, war auslegungsfähig.

Der zulässige Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen ist er unbegründet.

Das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 86b Abs.1 SGG auf Antrag ( ) 2. in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Diese Bestimmung kommt auch zur Anwendung, wenn die Verwaltung die aufschiebende Wirkung nicht beachtet, also die aufschiebende Wirkung festgestellt werden muss (Meyer-Ladewig-Keller, Kommentar zum SGG § 86b Rdnr. 5 und 15). Gemäß § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines bestehenden Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind gemäß §§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens bedarf es einer Interessenabwägung, ob dem Antragsteller unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.

In der Vergangenheit waren Mobilisation und Teilwaschung und Hauswirtschaft nach Maßgabe der Bescheide vom 20.05.2010 und 08.09.2014 bewilligt. Insoweit stellt der Bescheid vom 04.04.2016 einen Änderungsbescheid dar, gegen den Widerspruch erhoben wurde, der aufschiebende Wirkung hat.

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt gemäß § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit 1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Die im Bescheid vom 20.05.2010 dargestellte konkludente Weiterbewilligung, solange sich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse nicht ändern, stellt lediglich eine verkürzte Wiedergabe des Gedankens des § 48 SGB X dar. Die Antragsgegnerin hat mangels klar definierten Zeitintervalls die Leistungen der Hilfe zur Pflege unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls daher hier im konkreten Einzelfall als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bewilligt. Davon zu unterscheiden ist die in der Literatur diskutierte Rechtsnatur der Hilfe zur Pflege. Regelmäßig besteht insoweit kein Anspruch auf eine Dauerbewilligung. Eine Überprüfung von Zeit zu Zeit scheine geboten (dazu Schellhorn, Kommentar zum SGB XII, § 61 Rz. 52). Anders als bei Leistungen nach dem Dritten Kapitel, wo der Hilfeempfänger sofort und unmittelbar bemerkt, dass die Leistungen eingestellt wurden, kann er dies zur Überzeugung des Gerichts bei der Hilfe zur Pflege aufgrund des dortigen Dreiecksverhältnisses zwischen Kostenträger, Leistungserbringer und Hilfebedürftigem und den damit verbundenen Laufzeiten der Abrechnung nicht unmittelbar erkennen. Der Hinweis auf die Weiterbewilligung, sofern sich die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse nicht ändern, kann daher nur als verkürzter Hinweis auf den Gedanken des § 48 SGB X verstanden werden. Daran ändert auch nichts, dass die Weiterbewilligung ausweislich des Bescheids dann nur monatlich erfolge. Denn damit würde die dem § 48 SGB X innewohnende Schutzfunktion, wann rechtliche Änderungen möglich sind, zur Überzeugung des Gerichts völlig ausgehebelt. Dem Hilfeempfänger würde durch die Klausel von der konkludenten Weiterbewilligung vermittelt, dass er sich keine Sorgen machen müsse, obwohl er sich dann doch über einen bloßen Blick auf den Kontoauszug hinaus an jedem Monatsende dringend kümmern müsste.

Nach § 86a Abs. 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Ein Sonderfall des § 86a Abs. 2 SGG liegt nicht vor. Es wurde fristgerecht Widerspruch erhoben. Der Bescheid vom 04.04.2016 ist noch nicht bestandskräftig im Sinne des § 77 SGG. Der Widerspruch ist nach § 84 Abs. 1 S. 1 SGG binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt bekannt gegeben worden ist, schriftlich oder zur Niederschrift einzureichen. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X als bekannt gegeben. Dies gilt gemäß § 37 Abs. 2 S. 3 SGB X jedoch nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Soweit die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 18.05.2016 ausführt, der Widerspruch sei verfristet, weil er am 04.04.2016 abgeschickt worden sei und somit am dritten Tage nach Aufgabe zur Post als zugestellt gelte, übersieht sie, dass es keinen Zugangsnachweis bei der Antragstellerin gibt. Der Bescheid ist somit erst durch die Bekanntgabe gegenüber der Bevollmächtigten zugestellt worden. Ausgehend von diesem Zeitpunkt nach der Bestellung am 13.05.2016 ist der Widerspruch vom 31.05.2016 eindeutig nicht verfristet.

Aufgrund der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs sind die Leistungskomplexe Mobilisation, Teilwaschung und Hauswirtschaft daher anhand des Bescheids vom 20.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.09.2014 im Sinne von Dauerverwaltungsakten, die noch nicht abgeändert wurden, abzurechnen. Davon zu trennen ist die Tatsache, dass der Pflegedienst im Rahmen der Abrechnung nachweisen muss, dass die bewilligten Leistungen auch tatsächlich erbracht wurden. Nur dann können sie fällig geworden sein.

Hinsichtlich der Kosten der Notrufe lag eine Bewilligung in der Vergangenheit nicht vor. Insoweit war im Eilverfahren aber auch keine einstweilige Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG zur vorläufigen Regelung zu treffen.

Die Antragsgegnerin hat den Pflegedienst mit einer Nachricht vom 30.06.2015 per email sogar ausdrücklich darüber unterrichtet, dass eine Bewilligung von Notrufleistungen nicht vorliegt. Es besteht auch kein Anlass, diese im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes anzuordnen. Soweit die Notrufe durch das Ausscheiden der Antragstellerin nach geplanter Einnahme des verordneten Abführmittels erfolgen, liegt kein plötzliches unvorhersehbares Ereignis im Sinne eines Notfalls vor. Vielmehr ist der Zeitpunkt der Einnahme des Abführmittels planbar. Der Leistungskomplex "Ausscheidung" ist seinerseits bereits bewilligt. Die Notwendigkeit der Übernahme von Notrufkosten ist nicht glaubhaft gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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