S 10 KR 237/16 ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 237/16 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1.Eine allgemeine Krankenbeobachtung kann eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber
konkret nicht voraussehbar sind (Interpretation des BSG-Urteils vom 10.11.2005, Az. B 3 KR 38/04 R,
SozR 4-2500, § 37 SGB V, Nr. 6).

2. Der Gemeinsame Bundesausschuß (GBA) hat nur für die spezielle Krankenbeobachtung geregelt, dass für die ständige Beobachtung eines Versicherten erforderlich ist, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit lebensbedrohliche Umstände täglich eintreten.

3. Das Gericht sah im vorliegenden Fall für die Notwendigkeit einer ständigen allgemeinen Krankenbeobachtung als ausreichend an, dass lebensbedrohliche Umstände durchschnittlich alle 3 Tage eintreten können.
I.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vom 01.09.2016 bis 31.10.2016 vorläufig häusliche Krankenpflege als Behandlungspflege in Form der Krankenbeobachtung und Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen konkreten Maßnahmen zu gewähren, und zwar für die Tage von Montag bis Donnerstag im Zeitraum von 7.30 Uhr bis 18.00 Uhr, am Freitag im Zeitraum von 7.30 Uhr bis 14.00 Uhr.

II.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren notwendig entstandene außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von häuslicher Krankenpflege und die Übernahme der Kosten dafür.

Frau DM E. S. verordnete für die Antragstellerin am 23.03.2016 häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungspflege als 24-Stunden-Intensivpflege, allgemein 11 x täglich, 6 x wöchentlich. Als Diagnosen wurden genannt: Störung des Aminosäurestoffwechsels, Intelligenzminderung, umschriebene Entwicklungsstörung, Osteoporose mit pathologischer Fraktur.

Die aktuelle Verordnung umfasst den Zeitraum 01.04.2016 bis 31.10.2016.

Mit nicht bestandskräftigem Bescheid vom 08.04.2016 (Bl. 34 d. VA) lehnte die Antragsgegnerin eine spezielle Krankenbeobachtung ab und bezog sich zur Begründung auf das MDK-Gutachten vom 05.04.2016.

In jenem Gutachten nach Aktenlage verweist der MDK darauf, dass bei der Antragstellerin intermittierend okulogyre Anfälle auftreten. Nach solchen Anfällen komme es oft zu einem Erschöpfungszustand. Atemstillstände oder Ateminsuffizienzen gehörten aber nicht zu diesem Krankheitsbild. Die Antragstellerin leide jedoch auch an "unerklärbaren Asthmaanfällen". Schwere Asthmaanfälle seien durch das Notarztsystem zu versorgen. Verlegungen der Luftwege, eine Schluckstörung und/oder Aspirationen mit der Notwendigkeit endotrachealer Absaugungen und einer Beatmung seien aus den Unterlagen jedoch nicht zu entnehmen. Eine allgemeine Krankenbeobachtung sei Bestandteil der grundpflegerischen Versorgung im Rahmen der Pflegestufe III.

Die Voraussetzungen für eine spezielle Krankenbeobachtung seien damit nicht erfüllt. Es werde jedoch eine fachärztliche Diagnostik angeregt, um umgehend einen Ausschluss einer eventuell vorhandenen Atemstörung zu dokumentieren. Ebenso empfohlen wird eine fachneurologische Diagnostik zur Abklärung der Anfälle und zum Ausschluss eines eventuell zusätzlich vorhandenen Krampfleidens. Sollten sich im Ergebnis dieser Diagnostik Hinweise auf die Notwendigkeit einer speziellen Krankenbeobachtung ergeben (Schluckstörung mit ständiger Aspirationsgefahr, "echte" Atemstillstände z. B. im Rahmen einer zentralen Atemstörung oder medikamentös nicht zu beherrschendes Krampfleiden), werde um Wiedervorlage gebeten.

Im Widerspruch vom 26.04.2016 verweist die Bevollmächtigte der Antragstellerin darauf, dass die Begutachtung des MDK lediglich nach Aktenlage vorgenommen wurde. Die Antragstellerin leide gegenwärtig etwa alle 3 Tage unter den okulogyren Krisen, in denen sie auf individuelle medizinische Einzelbetreuung angewiesen sei. Dies gelte insbesondere, da es regelmäßig zu unerklärbaren Asthmaanfällen mit deutlichen Ateminsuffizienzen komme.

Mit Schreiben vom 11.02.2016 (Bl. 18 d. VA) verweist der Fahrdienst, der die Antragstellerin von zu Hause in die Schule und wieder zurück transportiert, dass die Antragstellerin immer wieder Anfälle mit akuter Atemnot bekomme.

Mit Schreiben vom 15.02.2016 (Bl. 19 d. VA) verweist Frau DM S. darauf, dass die Antragstellerin in der Vergangenheit bereits mehrfach akute Atemnotzustände mit einer akuten respiratorischen Insuffizienz erlitt.

Am 22.04.2016 beantragte die Bevollmächtigte der Antragstellerin die Gewährung der Kostenübernahme für die häusliche Krankenpflege im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 SGG. Die Schule bestätige das Auftreten epileptischer Anfälle bei der Antragstellerin, sowie das Auftreten von Ateminsuffizienzen und Atemstillständen bei Asthmaanfällen.

Mit Schreiben vom 02.05.2016 verweist die Antragsgegnerin darauf, dass weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund vorhanden seien. Nach Nr. 24 des Leistungsverzeichnisses zu den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (GBA) über die Verordnung häuslicher Krankenpflege sei eine spezielle Krankenbeobachtung nur verordnungsfähig, wenn "mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können". Bei der Antragstellerin treten jedoch lediglich intermittierend okulogyre Anfälle auf. Atemstillstände oder Ateminsuffizienzen gehörten nicht zu diesem Krankheitsbild.

Unter dem 13.05.2016 erstellte Frau Dr. med. A. S., Chefärztin der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie an der Klinik für Orthopädie des akademischen Lehrkrankenhauses des Universitätsklinikums J., eine fachärztliche Bescheinigung zur Vorlage beim Sozialgericht. Dort werde darauf hingewiesen, dass die Antragstellerin am 17.05.2011 eine okulogyre Krise erlitt, in deren Rahmen es zu einer akuten respiratorischen Insuffizienz kam. Andere Ursachen für diese respiratorische Insuffizienz könnten sicher ausgeschlossen werden.

Im Befundbericht vom Mai 2016 verweist Dr. M. K., Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin darauf, dass bei der Antragstellerin eine chronische Entzündungsreaktion an der Bronchialschleimhaut vorliege. Dadurch komme es zu wechselnden Sekretbildungen. Dieses Sekret müsse mobilisiert werden, da sonst ein "Volllaufen" der Lunge drohe (Sauerstoffabfall/Atemnot). Die Antragstellerin benötige für die Sekretmobilisation Hilfe und Überwachung, da sie eine selbständige Sekretmobilisation nicht in ausreichender Form realisieren könne.

Der MDK Sachsen kommt in seinem Gutachten vom 01.06.2016, dass wiederum nach Aktenlage erstellt wurde, zu dem Ergebnis, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine spezielle Krankenbeobachtung nicht erfüllt seien. Verlegungen der Atemwege, akute respiratorische Insuffizienz oder gar Atemstillstände sind akut lebensbedrohliche Zustände, welche eine sofortige Freimachung des Luftweges (Absaugen der Luftwege, ggf. Intubation, Beatmung und ggf. Herz-Lungen-Wiederbelebung) notwendig machten. In den vorliegenden Unterlagen seien derartige Ereignisse und auch therapeutische Maßnahmen/Notarzteinsätze nicht dokumentiert. Es bestehe bei der Antragstellerin jedoch zweifelsohne ein hoher grundpflegerischer sowie Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf.

Mit Schriftsatz vom 17.06.2016 verweist das Landeszentrum zur Betreuung Blinder und Sehbehinderter darauf, dass die Antragstellerin unter okulogyren Krisen und epileptischen Anfällen leide. Diese Krisen würden lautlos beginnen. Die Zunge falle nach hinten (Aspirationsgefahr), die Atemwege verengten sich, die Antragstellerin werde zyanotisch. Die Anfälle gingen mit einer vermehrten Schleimbildung einher. Diese Schleime seien sehr zäh, damit drohe eine Erstickungsgefahr.

Im Gutachten vom 02.08.2016 stellte der MDK nach Befunderhebung im MDK fest, dass die Erkrankung der Antragstellerin nicht zur Folge habe, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit gesundheits- und lebensbedrohliche Situationen täglich aufträten.

Mit Schreiben vom 17.08.2016 kündigt der Schulleiter der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte im Förderzentrum Chemnitz an, dass er für die Antragstellerin ab 01.09.2016 einen Antrag auf Ruhen der Schulpflicht stellen müsse. Der Schulbesuch sei durch die Antragstellerin aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht gefahrlos.

Mit Schriftsatz vom 25.08.2016 konkretisierte die Vertreterin der Antragstellerin die Beobachtungszeiten auf montags bis donnerstags von 7.30 Uhr bis 18.00 Uhr, freitags von 7.30 Uhr bis 14.00 Uhr sowie samstags von 10.00 Uhr bis 17.00 Uhr.

II.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis Anordnungen treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte u. a. in Schulen häusliche Krankenpflege als Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Der Anspruch umfasst verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen auch in den Fällen, in denen dieser Hilfebedarf bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach den §§ 14 und 15 SGB XI zu berücksichtigen ist.

Der GBA hat zur speziellen Krankenbeobachtung festgelegt, dass eine ständige Beobachtung in diesem Rahmen voraussetzt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich mit den entsprechenden lebensbedrohlichen Zuständen zu rechnen ist. Diese Voraussetzung des täglichen Auftretens ist nach Aktenlage bei der Antragstellerin nicht erfüllt.

Häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungspflege ist jedoch nicht auf die Form der speziellen Krankenbeobachtung beschränkt. Das Gericht verweist dazu auf das Urteil des BSG vom 10.11.2005, Az.: B 3 KR 38/04 R. Auch die allgemeine Krankenbeobachtung kann eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber konkret nicht voraussehbar sind. Das Gericht versteht das angeführte BSG-Urteil so, dass bei einer allgemeinen Krankenbeobachtung nicht vom GBA festgelegt ist, dass die lebensbedrohlichen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich auftreten müssen.

Im vorliegenden Fall leidet die Antragstellerin unter epileptischen Anfällen, die mit der Gefahr eines Erstickungstodes verbunden sind. Bereits zur Frage, ob Atemstillstände oder Ateminsuffizienzen zum Krankheitsbild von okulogyren Anfällen gehörten, bestehen unterschiedliche medizinische Einschätzungen (s.o.). Überdies ist das Gericht der Meinung, dass die respiratorischen Insuffizienzen bei der Antragstellerin auch durch andere Krankheiten als die epileptischen Anfälle verursacht sein können. Der MDK verweist dazu schon in seinem Gutachten vom 05.04.2016 darauf, dass zu einer eventuell vorhandenen Atemstörung eine weitere fachärztliche Diagnostik erforderlich ist.

Für das Gericht ist durch Zeugenaussagen nachgewiesen, dass bei der Antragstellerin in der Vergangenheit Atemnotstände eingetreten sind. Die epileptischen Krisen treten etwa durchschnittlich alle 3 Tage auf. Es ist lediglich nicht klar, wann genau diese Krisen eintreten.

Damit ist nach Ansicht des Gerichts eine ständige allgemeine Krankenbeobachtung bei der Antragstellerin erforderlich, verbunden mit der Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen konkreten Maßnahmen.

Dementsprechend besteht nach Ansicht des Gerichts der Anordnungsanspruch wie tenoriert. An den Samstagen jedoch erfolgt durch die Antragstellerin kein Schulbesuch.

Nachdem bei der Antragstellerin lebensbedrohliche Zustände auftreten können, ist es der Antragstellerin auch nicht zumutbar, den Abschluss eines zukünftigen Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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