L 15 BL 3/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 1 Bl 32/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 3/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9a BL 1/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts München vom 21.11.1997 und der Bescheid des Beklagten vom 27.01.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.11.1995 aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.11. 1994 Zivilblindenpflegegeld und ab 01.04.1995 Blindengeld zu gewähren.
III. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger Leistungen nach dem Gesetz über die Gewährung eines Pflegeldes an Zivilblinde (Zivilblindenpflegegeldgesetz - ZPflG -) bzw. nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) zustehen.

Der 1993 geborene Kläger beantragte am 26.11.1994 beim Beklagten, ihm Zivilblindenpflegegeld zu gewähren.

Der Beklagte zog Berichte des Augenarztes Dr.P. vom 23.12.1994 und des Neuropädiaters Dr.L. vom 23.03.1994 bei und holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Augenarztes Dr.S. vom 04.01.1995 ein. Dr.S. vertrat die Auffassung, Blindheit sei beim Kläger, der entsprechend dem Bericht des Dr.L. an einer symptomatischen Epilepsie mit tonischen Anfällen bei Zustand nach extremer Frühgeburt leide, zurzeit nicht nachweisbar.

Mit Bescheid vom 27.01.1995 lehnte es der Beklagte ab, dem Kläger Leistungen nach dem ZPflG zu gewähren.

Auf den Widerspruch des Klägers, mit dem vorgetragen wurde, dieser reagiere nur auf Helligkeit ohne zu fixieren, zog der Beklagte Berichte des Prof.Dr.B. (Augenklinik der Universität M.) vom 22.03./24.10.1995 bei. Danach fixiere der Kläger nicht, eine Pupillenreaktion sei jedoch beidseits - allerdings verzögert - nachweisbar; Folgebewegungen seien nicht auslösbar; es bestehe eine schwere Sehminderung, die sicher durch eine partielle Optikusatrophie mitverursacht werde, zum größeren Teil aber auf die zentrale Störung zurückzuführen sei.

Dr.S. vertrat in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.09.1995 die Auffassung, die Voraussetzungen für die Gewährung von Zivilblindenpflegegeld seien nach wie vor nicht bewiesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.11.1995 wies der Beklagte daraufhin den Widerspruch zurück.

Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht München Klage erhoben und beantragt, ihm ab 01.11.1994 Zivilblindenpflegegeld bzw. ab 01.04.1995 Blindengeld nach dem BayBlindG vom 07.04.1995 zu gewähren: Er sei in der Lage, aufgrund von Geräuschen innerhalb seines Griffbereichs nach Gegenständen zu greifen, wobei suchende Bewegungen stattfänden. Die Augen seien bei diesem Greifverhalten nicht beteiligt. Auf Gegenstände aller Art, die geräuschlos in seinen Griffbereich gelangten, finde keine Reaktion statt. Es liege folglich offensichtlich Blindheit vor, die ihre Ursache in der Verarbeitung der optischen Reize habe. Der Kläger hat hierzu eine Bescheinigung der Dr.K. vom 12.12.1995 vorgelegt.

Das Sozialgericht hat die einschlägige Zivilblindenpflegegeld- Akte des Beklagten sowie einen Befundbericht des Dr.P. vom 16.01.1996 beigezogen und von Amts wegen ein von Privatdozent Dr.L. (Augenklinik der Technischen Universität M.) am 31.07.1996 erstattetes Gutachten eingeholt. Der Sachverständige gelangte zu dem Ergebnis, aufgrund klinischer Erfahrungen sei die zentrale Sehfunktion des besseren rechten Auges auf ca. 0,05 bis 0,1 einzuschätzen. Gesichtsfeldbefunde seien dabei allerdings nicht berücksichtigt, da selbst bei der sehr groben Konfrontationsperimetrie keine reproduzierbaren Reaktionen hätten festgestellt werden können. Aufgrund der erheblichen zentralen Funktionsstörung, zu der es beim Kläger aufgrund einer intrauterinen oder auch intraportalen Minderperfusion (Asphyxie) gekommen sei, könne dieser die innerhalb der primären Sehrinde nachweisbaren visuellen Reize nicht weiter verarbeiten. Obwohl auch im Bereich des Sehnervenkopfes Schäden festzustellen seien, sei die Ableitung von VECP s möglich gewesen. Dies bedeute, dass eine deutliche Reizweiterleitung bis zur primären Sehrinde erfolge und Blindheit innerhalb der primären Sehbahnen nicht gegeben sei. Blindheit im Sinne des ZPflG liege somit nicht vor.

Der Beklagte hat sich hierzu unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme (Dr.L.) vom 12.09.1996, der Kläger mit Schreiben vom 08.01.1996 geäußert.

In einem weiteren, auf Antrag des Klägers (§ 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) am 24.03.1997 erstatteten Gutachten hat Prof.Dr.B. (Augenklinik der Universität M.) die Auffassung vertreten, aufgrund des morphologischen Befundes (beidseitige Opticusatrophie) sowie des Verhaltens des Klägers (keine Fixation von Licht oder Gegenständen) sei von einer schweren Sehminderung auszugehen, die einer Erblindung im Sinne des Gesetzes gleichkomme. Eine klare quantative Einstufung des potentiellen Sehvermögens lasse sich - anders als der Sachverständige Privatdozent Dr.L. meine - mittels VECP nicht gewinnen.

Der Beklagte legte hierzu eine versorgungsärztliche Stellungnahme (Dr.L.) vom 06.05.1997 vor. Danach liege zwar eine Verminderung des Sehvermögens aufgrund der Atrophie der Sehnervenscheibe vor; eine der Blindheit gleichzuachtende Sehstörung werde dadurch aber sicher nicht belegt.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 13.06.1997 hat Priv. Doz. Dr.L. auf die vorgenannte versorgungsärztliche Stellungnahme verwiesen und seine gutachtliche Beurteilung aufrechterhalten.

Der Kläger (Schreiben vom 04.08.1997) hat eine von ihm veranlasste gutachtliche Stellungnahme des Prof.Dr.B. vom 08.07.1997 vorgelegt. Prof.Dr.B. vertrat darin weiter die Auffassung, die beim Kläger erhobenen objektiven Befunde (keine Fixationsaufnahme; deutlich reduzierte Abwehr auf ausgeprägte Blendung; bei normaler Tageslichtbeleuchtung beidseits über die Norm erweiterte Pupillen; beidseits deutlich verzögerte Pupillen-Lichtreaktion; beidseits Atrophie des Sehnerven) ließen ohne Zweifel auf eine Sehminderung schließen, die einer Blindheit im Sinne des Gesetzes gleichkomme; dem entspreche das Verhalten des Klägers.

Mit Urteil vom 21.11.1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Das Verhalten des Klägers sei in erster Linie durch seine schwere Hirnschädigung geprägt. Die (scil: bessere) Funktion eines Sinnesorgans (Gehör) ließe keine Rückschlüsse auf Art und Ausmaß der Schädigung eines anderen Organs oder gar des gesamten Gehirns zu. Es sei durch nichts bewiesen, dass die Hirnschädigung nicht zu einer Benennungsstörung oder zu einer allgemeinen Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten geführt habe. Diese Defizite könnten aber nicht als "Störung des Sehvermögens" gewertet werden. Zentrale Verarbeitungsstörungen seien nämlich nicht der Blindheit zuzuordnen. Der Nachweis von Blindheit bzw. von einer der Blindheit gleichzuachtenen Sehstörung sei beim Kläger deshalb nicht möglich.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt: Die Begründung des angefochtenen Urteils, er sei aufgrund seiner Hirnschädigung nicht in der Lage, die wahrgenommenen visuellen Reize zu verarbeiten, sei unzutreffend. Er zeige vielmehr im täglichen Leben eine ausgeprägte und immer weiter zunehmende Kommunikation mit seiner Umwelt, besuche so seit längerer Zeit einen Kindergarten für Behinderte und nehme dort regen Anteil am Geschehen. Die unterstellte Hirnschädigung sei nicht gegeben.

Der Senat hat die einschlägigen Zivilblindenpflegegeld- und Schwerbehindertenakten (GdB 100 wegen frühkindlicher Hirnschädigung, Entwicklungsrückstand, Anfallsleiden (1) sowie hochgradiger Sehbehinderung (2); Merkzeichen "B", "G", "H", "RF", nicht "BL") des Beklagten beigezogen und auf Antrag des Klägers (§ 109 SGG) ein von Prof.Dr.S. (Leiter der Sehschule, Universitätsaugenklinik W.) am 04.12.1998 erstattetes Gutachten eingeholt. Der Sachverständige gelangte zu der Auffassung, es sei ausgeschlossen, dass das von Priv.Doz. Dr.L. durchgeführte VECP zuverlässige Werte geliefert habe. Ein Sehvermögen auf dem rechten Auge, wie es dieser Sachverständige mit 0,05 bis 0,1 angenommen habe, liege sicher nicht vor. Die Sehfähigkeit sei weitaus geringer; hinzu komme, dass im zentralen Gesichtsfeld große Skotome - also Gesichtfeldausfälle - vorlägen und wohl auch eine kortikale Amblyopie anzunehmen sei. Die Leistungsvoraussetzungen seien aber bereits allein durch die geringe Sehschärfe erfüllt, die auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 betrage.

Der Beklagte hat sich dieser Beurteilung nicht angeschlossen (versorgungsärztliche Stellungnahme Dr.L. vom 18.01.1999). Prof.Dr.S. folgere - ebenso wie Prof.Dr.B. - das Vorliegen von Blindheit in Sinne des Gesetzes vor allem aus dem klinischen Gesamteindruck. Da er dabei aber nicht hinreichend unterscheide, inwieweit die mangelnde Reaktion auf optische Reize auf eine Schädigung der primären Sehstrukturen und inwieweit auf die generelle cerebrale Schädigung zurückzuführen sei, sei der Nachweis für das Vorliegen der Leistungsvoraussetzungen des ZPflG bzw. des BayBlindG nicht erbracht. Der Beklagte hat darüber hinaus weitere versorgungsärztliche Stellungnahmen (Dr.L. vom 05.07., 14.09.1999, 01.08., 25.09.2000; MedDir P. vom 25.09.2001, 02.08.2002) sowie eine Stellungnahme des Prof.Dr.Z. (Institut für Psychologie/Neuropsychologie der Universität M.) vom 13.09.1999 vorgelegt. Danach sei nicht ausreichend erwiesen, ob die mangelnden Reaktionen des Klägers auf optische Reize die Folge einer Blindheit gleichzuachtenden Störung des Sehvermögens oder Ausdruck einer generellen cerebralen Hirnschädigung seien. Durch eine neuropsychologische Begutachtung könne dies unter Umständen geklärt werden.

Der Kläger hat sich hierzu mehrfach schriftsätzlich geäußert und zum Beleg, dass bei ihm die anderen Sinnesorgane deutlich besser entwickelt seien als das Sehvermögen, einen Bericht des Behandlungszentrums V. (Dr.H.) vom 27.07.1999 und eine CD mit Videosequenzen, die ihn beim Essen (Verwendung eines Löffels) und beim Trommeln zeigen, übersandt.

Der Sachverständige Prof.Dr.S. hat sich in ergänzenden gutachtlichen Stellungnahmen (25.04.2000/20.06.2002) zu den Einwendungen des Beklagten geäußert und betont, aus dem Umstand, dass der Kläger lediglich zu Hell-/Dunkelwahrnehmung imstande sei, müsse mit Rücksicht auf die deutlich besser ent- wickelten sonstigen Sinnesorgane und die objektivierbaren Schädigungen des Sehnervenkopfes zwingend gefolgert werden, beim Kläger liege eine der Blindheit gleichzuachtende anspruchsbegründende Störung des Sehvermögens vor.

In der mündlichen Verhandlung (28.10.2003) hat der Vater des Klägers u.a. erklärt, bei diesem liege zweifellos eine Hirnschädigung vor.

Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 21.11.1997 sowie des Bescheides vom 27.01.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.11.1995 zu verurteilen, ihm ab 01.11.1994 Zivilblin- denpflegegeld bzw. ab 01.04.1995 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage entspreche.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen Akten/Unterlagen sowie auf die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (Art.4 Abs.3 ZPflG bzw. Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG).

Sie ist auch begründet.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger seit 01.11.1994 Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld und seit 01.04. 1995 Anspruch auf Blindengeld hat.

Dies hat der Senat - im Unterschied zum Sozialgericht - bejaht.

Nach Art.1 Abs.1 ZPflG erhielten Zivilblinde auf Antrag, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern hatten, nach Vollendung des ersten Lebensjahres ein Pflegegeld.

Als Blinde galten nach Art.1 Abs.3 ZPflG Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste, nicht nur vorübergehende Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Gemäß Art.1 Abs.1 des am 01.04.1995 in Kraft getretenen BayBlindG erhalten Blinde mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Bayern zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG).

Gemäß Satz 2 dieser Bestimmung gelten als blind auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Dem Kläger fehlt, wie sich u.a. aus der verzögerten Pupillenlichtreaktion und der verzögerten Abwehr auf Blendung ergibt, das Augenlicht nicht völlig. Auch kann der Nachweis von Blindheit im Sinn von Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG bzw. Art.1 Abs.3 Nr.1 ZPflG beim Kläger nicht geführt werden. Denn die Reduzierung der Sehschärfe - also des Auflösungsvermögens des Auges - auf maximal 1/50 auf dem besseren Auge muss durch Messungen/Tests, die den Anforderungen des Vollbeweises genügen, festgestellt sein. Exakte Mess- und Testergebnisse sind beim Kläger aufgrund der schweren cerebralen Beeinträchtigung (Hirnschädigung aufgrund einer intrauterinen und postpartalen Asphyxie mit deutlicher psychomotorischer Retardierung sowie symptomatischer Epilepsie; vgl. Bescheinigung Dr.K. vom 12.12. 1995) aber nicht zu erhalten. Auch kann, worauf der Beklagte (Dr.L. vom 06.05.1997, MedDir P. vom 29.07.2002) nach Auffassung des Senats zutreffend hingewiesen hat, aus der beim Kläger unstreitig bestehenden beidseitigen Atrophie der Sehnervenscheibe zwar auf eine Visusminderung, nicht aber mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf eine reduzierte Sehschärfe von maximal 1/50 auf dem besseren Auge geschlossen werden.

Die Voraussetzungen der Nr.2 des Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG bzw. des Art.1 Abs.3 ZPflG hält der Senat jedoch, im Gegensatz zu denjenigen der Nr.1, für erfüllt.

Bei den durch Nr.1 nicht erfassten Störungen des Sehvermögens, die - zusammen mit der aus der unstreitigen Optikusatrophie resultierenden Sehminderung - einen der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachtenden Zustand bedingen, handelt es sich allerdings nicht um die von dem Sachverständigen Prof. Dr.S. angenommenen Störungen in Gestalt von Skotomen (Gesichtsfeldausfälle) sowie einer kortikalen Amblyopie (Rindensehschwäche). Denn das Vorliegen dieser Schädigungen des Sehorganes ist nicht gesichert. Die cerebrale Behinderung des Klägers macht entsprechende Tests/Messungen mit zuverlässigen Ergebnissen unmöglich. Selbst bei sehr grober Konfrontationsperimetrie konnten keine reproduzierbaren Reaktionen festgestellt werden, aus denen Gesichtsfeldbefunde hätten abgeleitet werden können (Gutachten Privatdozent Dr.L. vom 31.07.1996/ 13.06.1997). Eine etwaige kortikale Amblyopie und deren Ausmaß wäre auch, wie Prof.Dr.S. (Gutachten vom 04.12.1998/25.04. 2000) dargelegt hat, durch weitere Untersuchungen (kraniale Computer- oder Kernspintomographie) nicht sicher festzustellen. Kortikale Amblyopien treten nach Aussage von Prof.Dr.S. zwar häufig im Rahmen einer cerebralen Schädigung, wie sie beim Kläger besteht, auf. Ihr Vorliegen ist im konkreten Fall damit möglich oder sogar wahrscheinlich; mit der erforderlichen an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist es damit aber nicht, zumal eine Weiterleitung visueller Reize bis zur Sehrinde unstreitig stattfindet. Entsprechendes gilt für die von Prof.Dr.S. angenommenen Skotome im zentralen Gesichtsfeld. Gesichtsfeldableitungen konnten wegen der cerebralen Schäden nicht durchgeführt werden. Die fehlenden bzw. nicht reproduzierbaren Reaktionen bei der Konfrontationsperimetrie schließen das Vorliegen großer Skotome im zentralen Gesichtsfeld keinesfalls aus, finden eine mögliche Erklärung aber auch in der zerebralen Schädigung des Klägers. Mit dem Beklagten (MedDir P. vom 25.09.2001) hält der Senat daher derartige Gesichtsfeldausfälle für möglich, im Gegensatz zu Prof.Dr.S. aber nicht für gesichert.

Beim Kläger liegen aber als Folge der Hirnschädigung zentrale visuelle Verarbeitungsstörungen vor, die zusammen mit der aus der Optikusatrophie resultierenden Sehbeeinträchtigung die Voraussetzungen der Nr.2 des Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG bzw. des Art.1 Abs.3 ZPflG erfüllen. Auch außerhalb/oberhalb des Sehorganes (Auge, Sehnerv, Sehbahn, Sehrinde) liegende (cerebrale) Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind bei der Feststellung einer Blindheit im Sinn von Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG bzw. Art.1 Abs.3 Nr.2 ZPflG zu berücksichtigen. Dies ergibt sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31.01. 1995 (1 RS 1/93).

Danach ist es für die Feststellung faktischer Blindheit - hier also von Blindheit im Sinn des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG bzw. Art.1 Abs.3 ZPflG - nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind zu berücksichtigen. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen, die dem Bereich der seelisch/geistigen Behinderung zuzuordnen sind, zu differenzieren, ob das Seh"vermögen", d.h. das Sehen- bzw. Erkennenkönnen beeinträchtigt ist oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, in der also die Störung nicht das "Erkennen", sondern nur das "Benennen" betrifft. Bei einem kombinierten Krankheitsbild können die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld erfüllt sein, wenn der Betroffene infolge des Zusammenwirkens der verschiedenen Störungen praktisch nicht sehen kann, wenn also z.B. Störungen des Sehvermögens (etwa durch eine Optikusschädigung) mit visuellen Verarbeitungsstörungen (als Teilursache) in einer Weise zusammenwirken, dass die Störung des Sehvermögens insgesamt in ihrem Schweregrad einer Sehschärfenbeeinträchtigung von maximal 1/50 auf dem besseren Auge gleichzuachten ist.

Diese Voraussetzungen liegen zur Überzeugung des Senats vor. Insbesondere aus den Beurteilungen der Sachverständigen Prof. Dr.S. und Prof.Dr.B. ergibt sich, dass beim Kläger eine faktische Blindheit - d.h. eine Beeinträchtigung des visuellen Sinnes in einem der Sehschärfenbeeinträchtigung nach Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG bzw. Art.1 Abs.3 Nr.1 ZPflG entsprechenden Schweregrad - vorliegt. Die von der Klägerseite vorgelegten Videosequenzen (insbesondere "Essen I und II") belegen dies zusätzlich. Auch liegt beim Kläger unstreitig eine beidseitige partielle Optikusatrophie vor. Diese hat, was der Beklagte nicht bestreitet (z.B. Dr.L. vom 06.05.1997), eine Verminderung des Sehvermögens zur Folge, die, auch wenn eine Sehschärfenbeeinträchtigung von maximal 1/50 nicht sicher abgeleitet werden kann, jedenfalls erheblich ist (vgl. u.a. die im Wege des Urkundenbeweises verwertete gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr.B. vom 08.07.1997). Hinzu kommen höher angesiedelte - d.h. oberhalb der Sehrinde gelegene - zentrale Verarbeitungsstörungen ("visuelle Agnosie" nach der Diktion des BSG, a.a.O.), die das "Erkennen-Können" und nicht nur das "Benennen-Können" betreffen. Eine Benennensstörung beinhaltet die Fähigkeit, etwas optisch wahrzunehmen gekoppelt mit der Unfähigkeit, dieses "Etwas" zu benennen. Der Kläger kann zwar nicht sprechen und damit eventuell erkannte Gegenstände auch nicht benennen. Er fixiert Objekte aber nicht und führt keine Folgebewegungen mit den Augen aus. Dieses Verhalten schließt aus, dass er Objekte - ggf. ohne sie benennen zu können - optisch ausreichend wahrnimmt. Die Unfähigkeit optischer Wahrnehmung - im Unterschied zum funktionierenden Tastsinn und Gehör - ist auch auf den in das Verfahren eingeführten Videosequenzen über den Kläger offensichtlich. Die generelle cerebrale Schädigung des Klägers beinhaltet daher auch zwangsläufig visuelle Verarbeitungsstörungen, die das Erkennen betreffen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, 20.08.1998, L 5 BL 1/97 - Meso B 30/118).

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es zwar den Motiven des Landesgesetzgebers, wie sie in der Begründung zum Gesetzentwurf des BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995 zu Art.1 Abs.2) festgehalten sind, widerspräche, einen der Blindheit gleich zu achtenden Zustand (Art.1 Abs.2 Satz 1 Nr.2 BayBlindG) ohne Defekte im Bereich des Sehorgans lediglich aufgrund einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten anzunehmen. Denn ein solcher der Blindheit gleich zu achtender Zustand allein aufgrund oberhalb der Sehrinde angesiedelter cerebraler Defekte (und damit ohne Schäden des Sehorgans) soll danach nur dann anzunehmen sein, wenn es sich um Fälle von visueller Agnosie im klassischen Sinn handelt, d.h. um Störungen beim Erkennen optischer Reize, die sich nicht auf eine Beeinträchtigung elementarer visueller Leistungen, auf eine Benennungsstörung oder auf eine allgemeine Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten zurückführen lassen. Die anspruchsbegründende Wirkung kombinierter Störungen im Sinn der vorgenannten Entscheidung des BSG hält der Senat aber durch die Gesetzesbegründung zu Art.1 Abs.2 BayBlindG nicht für ausgeschlossen. Liegt - wie im Fall des Klägers - eine derartige kombinierte Störung vor, ist entgegen den Ausführungen in den materiellen Arbeitsanweisungen des Beklagten zum BayBlindG (unter 2.1.3.2.) nicht der - kaum zu führende - Nachweis einer visuellen Agnosie im klassischen Sinn (vgl. Möllhoff, Zur gutachtlichen Beurteilung von "Seelenblindheit", MED SACH 1990, 127/128) zu erbringen; vielmehr genügt das Vorliegen visueller Verarbeitungsstörungen, die das Erkennen-Können betreffen, auch wenn diese - wie hier wegen der Hirnschädigung des Klägers - als Ausdruck einer generellen Herabsetzung kognitiver Fähigkeiten aufzufassen sind.

Der Kläger ist kein Apalliker. Er leidet zwar unter einer cerebralen Behinderung; diese ist aber nicht so massiv und umfassend, dass - wie bei einem Apalliker - blindheitsbedingte Mehraufwendungen nicht anfallen können. Dies gilt für den Kläger umso mehr, als bei ihm gerade das Sehen deutlich schlechter funktioniert als andere Sinne wie z.B. das Gehör oder die taktile Wahrnehmung. Die vom Kläger auf CD vorgelegten Videosequenzen zeigen dies eindrücklich. Könnte der Kläger sehen, wäre der Pflegeaufwand, zu dessen Ausgleich das Blindengeld u.a. dient (vgl. Gesetzesbegründung zu Art.1 Abs.1 BayBlindG), ohne Zweifel geringer (vgl. auch Bericht des Behandlungszentrums Vogtareuth vom 27.07.1999). Ein Ausschluss von Leistungen, weil - wie bei Apallikern (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 28.10.2003, L 15 Bl 2/99) - blindheitsbedingte Mehraufwendungen nicht anfallen können, kommt daher hier nicht in Frage.

Aus der unterschiedlichen Qualität der Sinneswahrnehmungen - faktische Blindheit gegenüber jedenfalls teilweise vorhandener taktiler und auditiver Wahrnehmung - schließt der Senat auch im Sinn des Vollbeweises auf ein "Zusammenwirken" von zentralen, das "Erkennen-Können" betreffenden Verarbeitungsstörungen und der aus der Opticusatrophie resultierenden erheblichen Schädigung des Sehorgans. Diese Schlussfolgerung enthalten auch die Berichte der Augenklinik der Universität München vom 22.03./24.10.1995.

Da der Kläger nach alldem als blind im Sinn des ZPflG bzw. des BayBlindG zu gelten hat, mussten das Urteil des Sozialgerichts München vom 21.11.1997 und die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufgehoben und dieser antragsgemäß zur Gewährung von Zivilblindenpflegegeld bzw. Blindengeld an den Kläger verurteilt werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat zum Zwecke der Rechtsfortbildung die Revision zugelassen (§ 160 Abs.2 Nr.1 SGG). § 162 SGG steht nicht entgegen (vgl. BSG a.a.O.).
Rechtskraft
Aus
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