L1 KR 39/13 B ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 48 KR 1114/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L1 KR 39/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 4. April 2013 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Beschluss der Antragsgegnerin vom 15. Mai 2012 angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Gründe:

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen seine Enthebung vom Amt des Vorstands der Antragsgegnerin.

1. Hierfür ist gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet (so bereits LSG Schleswig-Holstein 12.9.1989 – L 1 Kr 46/88 – Juris, bezogen auf die Amtsentbindung eines stellvertretenden Geschäftsführers einer Krankenkasse). Denn der Antragsteller greift ausschließlich den Amtsenthebungsbeschluss an und insoweit wird die Rechtsbeziehung zwischen den Beteiligten entscheidend durch öffentlich-rechtliche Normen des Sozialrechts geprägt, hier §§ 35a Abs. 7 Satz 1, 59 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Viertes Buch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV). Die Beendigung seines privatrechtlich geprägten Anstellungsverhältnisses ist hingegen nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Zwischen diesem und seiner Stellung als Organ der Antragsgegnerin besteht eine Trennung (vgl. grundlegend BGH 10.1.2000 – II ZR 251/98 – Juris; aus jüngerer Zeit BGH 8.1.2007 – II ZR 267/05 – Juris, m.w.N.). Allein aufgrund der privatautonomen Vereinbarung zwischen den Beteiligten würde eine wirksame Amtsenthebung gleichzeitig als Kündigung des Anstellungsverhältnisses gelten, vgl. § 9 Abs. 3 Satz 2 des Vorstandsvertrags.

2. Die am 8. Mai 2013 eingelegte Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 4. April 2013, der dem Antragsteller am 8. Mai 2013 zugstellt worden ist, ist statthaft, fristgerecht und auch sonst gemäß §§ 172, 173 SGG zulässig. Sie ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Eilantrag des Antragstellers abgelehnt.

Bei sachdienlicher Auslegung seines Eilantrags begehrt der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung seines am 18. September 2012 eingelegten Widerspruchs gegen den Amtsenthebungsbeschluss vom 15. Mai 2012 anzuordnen und nicht "wiederherzustellen". Anders als in der Terminologie des § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) umfasst im sozialgerichtlichen Verfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch den Fall, dass die Verwaltung wie vorliegend den kraft Gesetz eintretenden Suspensiveffekt des Widerspruchs durch eine Anordnung im Einzelfall aufhebt (vgl. Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, V. Kapitel, Rn. 30, S. 195).

Der so verstandene Eilantrag ist gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG zulässig. Insbesondere war der Antragsteller nicht gehalten, zunächst bei der Antragsgegnerin die Aussetzung der Vollziehung nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG zu beantragen (vgl. BSG 17.10.2007 – B 6 KA 4/07 R – Juris). Es fehlt auch sonst nicht am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Der Antragsteller ist durch die Anordnung des Sofortvollzugs beschwert, so dass ein erfolgreicher Eilantrag seine Rechtsposition verbessern würde. Dass er sein Vorstandsamt möglicherweise nicht mehr ausüben wird, weil bereits 15 Monate seit seiner Amtsenthebung vergangen sind, inzwischen ein anderer Vorstand bestellt ist und die Beteiligten bei Erfolg dieses Eilantrags mutmaßlich eine Freistellung vereinbaren werden, ist eine lebensnahe Erwägung, die nicht das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers entfallen lässt. Schließlich hat er sein Recht, gegen die Anordnung des Sofortvollzugs vorzugehen, nicht verwirkt. Zwar kann die Befugnis zur Anrufung der Gerichte im Einzelfall der Verwirkung unterliegen (vgl. grundlegend BVerfG 26.1.1972 – 2 BvR 255/67 – Juris). Doch scheidet eine Verwirkung hier schon deswegen aus, weil das Verhalten des Antragstellers der Antragsgegnerin keinen Anlass gab darauf zu vertrauen, er werde nicht um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachsuchen. Obgleich er gut vier Monate zwischen der Anordnung des Sofortvollzugs und der Stellung seines Eilantrags verstreichen ließ, machte er doch durchgehend deutlich, dass er den Amtsenthebungsbeschluss für rechtswidrig und die Anordnung des Sofortvollzugs für unwirksam hält, zuletzt mit Schreiben vom 20. Juni 2012. Sollte die Antragsgegnerin, die hierauf nicht mehr reagierte, darauf vertraut haben, der Antragsteller werde seine Amtsenthebung nunmehr hinnehmen, wäre dieses Vertrauen nicht schützenswert.

Der Eilantrag hat auch in der Sache Erfolg. Das gilt selbst dann, wenn man die formellen Voraussetzungen an die Anordnung des Sofortvollzugs durch die Antragsgegnern hier als erfüllt ansehen wollte, was der Senat ausdrücklich offen lässt. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Amtsenthebungsbeschluss vom 15. Mai 2012 ist jedenfalls deswegen anzuordnen, weil dieser offenbar rechtswidrig ist, so dass kein öffentliches Interesse an seinem Vollzug besteht (vgl. zum Prüfungsmaßstab bei Anträgen nach § 86b Abs. 1 SGG nur Adolf in Hennig (Hrsg.), SGG, § 86b Rn. 37ff., m.w.N.). Der angegriffene Beschluss wurde vom Verwaltungsrat der Antragsgegnerin unstreitig in nicht-öffentlicher Sitzung gefasst. Gemäß § 63 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 SGB IV sind die Sitzungen des Verwaltungsrats aber zwingend öffentlich. Es liegt auch keiner der Ausnahmefälle des § 63 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 SGB IV vor, in dem die Öffentlichkeit kraft Gesetz ausgeschlossen ist. Insbesondere handelte es sich bei der Enthebung des Antragstellers vom Amt des Vorstands nicht um eine "personelle Angelegenheit". Obgleich davon grundsätzlich solche Angelegenheiten umfasst sind, die individuell bestimmte Personen betreffen, vor allem Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane (vgl. etwa Krause in GK-SGB IV, § 63 Rn. 21; Rische/Brandenburg in Wannagat, Sozialgesetzbuch – SGB IV, § 63 Rn. 16), fallen darunter nicht die wesentlichen Organisationsakte, seien sie auch auf eine konkrete Person bezogen. Das folgt aus dem Sinn und Zweck des Öffentlichkeitsgebots. Durch die grundsätzliche Öffentlichkeit der Sitzungen der Vertreterversammlung bzw. hier des Verwaltungsrats soll das Interesse der Versicherten an den Angelegenheiten der Selbstverwaltung gestärkt werden (vgl. die Gesetzesbegründung zum 7. Gesetz zur Änderung der Selbstverwaltungsgesetzes in BT-Drucks. V/1674, S. 17f.). Das Öffentlichkeitsgebot steht im hier betroffenen Bereich der Selbstverwaltung zudem in enger Verbindung zum Demokratieprinzip des Grundgesetzes und dient der demokratischen Kontrolle und Willensbildung (vgl. BSG 14.10.1992 – 14a/6 RKa 31/91 – Juris, m.w.N.; Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, E § 63 Nr. 3.2, S. 7, m.w.N. aus dem Kommunalrecht). Öffentlichkeit i.S.d. § 63 Abs. 3 Satz 2 SGB IV meint deswegen nicht bloß eine Beteiligtenöffentlichkeit, sondern die allgemeine Öffentlichkeit, so dass die Sitzungen hinreichend bekannt gemacht werden müssen und jedermann im Rahmen des zur Verfügung stehenden Platzangebots Zutritt haben muss (vgl. BSG 14.10.1992 – 14a/6 RKa 31/91 – Juris; Rechtsauskünfte: Öffentlichkeit der Sitzungen der Vertreterversammlung und ihrer Ausschüsse, WzS 1980, 119). Mit dieser herausragenden Bedeutung des Öffentlichkeitsgebots wäre es nicht vereinbar, wenn gerade wesentliche Organisationsakte als "personelle Angelegenheit" unter Ausschluss der Öffentlichkeit beraten und ggf. beschlossen würden. Zu diesen wesentlichen Organisationsakten zählt nicht nur die Wahl des Geschäftsführers und des hauptamtlichen Vorstands (vgl. Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, E § 63 Nr. 3.2, S. 7; I. Palsherm in Schlegel/Voelzke, Juris-PK SGB IV, § 63 Rn. 29), sondern auch die Amtsenthebung, die letztlich der actus contrarius zur Wahl des Vorstands ist. Das entspricht im Übrigen der gerade zur streitbefangenen Amtsenthebung geäußerten Rechtsauffassung des Bundesversicherungsamts (vgl. Schriftsatz vom 17. August 2012 im Verfahren L 1 KR 128/11 KL). Die Befugnis, den Vorstand seines Amts zu entheben, steht allein dem Verwaltungsrat zu, abgesehen von den hier nicht interessierenden aufsichtsrechtlichen Möglichkeiten nach § 35a Abs. 7 Satz 3 SGB IV. Mit Übertragung dieser Befugnis ist seine Aufsichts- und Kontrollfunktion gegenüber dem Vorstand gestärkt worden, der in sich die Funktionen und damit die Macht vereinigt, die bei anderen Sozialversicherungsträgern auf zwei Gremien, nämlich Vorstand und Geschäftsführer, aufgeteilt sind (vgl. die Gesetzesbegründung zum Gesundheits-Strukturgesetz in BT-Drucks. 12/3608, S. 128). Indem der Verwaltungsrat der Antragsgegnerin mit dem angegriffenen Amtsenthebungsbeschluss von dieser Befugnis Gebrauch machte, nahm er daher eine sicherlich selten anstehende, gleichwohl überragend wichtige Selbstverwaltungsaufgabe wahr.

Vorliegend war auch nicht ausnahmsweise gleichwohl ein Ausschluss der Öffentlichkeit geboten, weil im Zuge der Beratung und Beschlussfassung über die Amtsenthebung persönliche Daten des Antragstellers offenbart worden wären, an deren Geheimhaltung er ein schutzwürdiges Interesse gehabt hätte. Vorwürfe, die bei der Beratung über eine "unehrenhafte" Absetzung typischerweise im Raum stehen und erörtert werden, namentlich der Vorwurf der groben Amtspflichtverletzung, der Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung und der Umstand des Vertrauensentzugs durch den Verwaltungsrat würden insoweit allerdings nicht ausreichen. Es müssten besondere Umstände hinzutreten, deren öffentliche Beratung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers selbst eingedenk der überragenden Bedeutung des Öffentlichkeitsgebots verletzt hätte. Als Beispiel werden im Schrifttum "gesundheitliche Gegebenheiten" genannt (vgl. Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, E § 63 Nr. 3.2, S. 7). Zu vergleichbaren Besonderheiten im vorliegenden Fall ist von der Antragsgegnerin nichts vorgetragen worden und diese sind dem Senat mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren auch sonst nicht ersichtlich.

Schließlich machte der Verwaltungsrat der Antragsgegnerin auch nicht von der Möglichkeit des § 63 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 SGB IV Gebrauch, den Ausschluss des Öffentlichkeit speziell für die Beratung und ggf. Beschlussfassung über die Amtsenthebung des Antragstellers zu beschließen. Ungeachtet der Frage, ob er dazu überhaupt berechtigt gewesen wäre, nachdem wie ausgeführt die Öffentlichkeit kraft Gesetz gerade nicht ausgeschlossen war, fehlte es jedenfalls an einem wirksamen Beschluss nach § 63 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 1 SGB IV. Hierfür hätte zunächst ein Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit zu diesem konkreten Beratungspunkt gestellt werden, die Öffentlichkeit für die Dauer der Beratung und Beschlussfassung über diesen Antrag ausgeschlossen und sodann nach Wiederherstellung der Öffentlichkeit der Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden müssen (vgl. zum Ablauf nur Gurgel in Blei/Gitter u.a., Gesamtkommentar Sozialversicherung Bd. 2, § 63 SGB IV Rn. 5). Ausweislich des Protokolls der Sitzung vom 14./15. Mai 2012 hielt der Verwaltungsrat der Antragsgegnerin dieses Prozedere nicht ein, sondern beschloss aus der öffentlichen Sitzung heraus lediglich pauschal den Ausschluss der Öffentlichkeit.

Der Senat lässt dahin stehen, ob der demnach vorliegende Verstoß gegen § 63 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 SGB IV sogar zur Nichtigkeit des Amtsenthebungsbeschlusses vom 15. Mai 2012 führt (so Becher/Plate, Selbstverwaltungsrecht der Sozialversicherung, E § 63 Nr. 3.2, S. 7; I. Palsherm in Schlegel/Voelzke, Juris-PK SGB IV, § 63 Rn. 28). Er macht ihn jedenfalls formell rechtswidrig. Die Verletzung des Öffentlichkeitsgebots zählt nicht zu den nach § 41 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) heilbaren Verfahrensfehlern und ebenso wenig ist i.S.d. § 42 Satz 1 SGB X offensichtlich, dass der fehlerhafte Ausschluss der Öffentlichkeit die Entscheidung des Verwaltungsrats der Antragsgegnerin in der Sache nicht beeinflusst hat. Da eine öffentliche Beschlussfassung bezogen auf den Amtsenthebungsbeschluss vom 15. Mai 2012 schließlich nicht nachgeholt werden könnte, sondern der Verwaltungsrat der Antragsgegnerin gegebenenfalls – in öffentlicher Sitzung – einen neuerlichen Beschluss fassen müsste, gebietet schon dieser Verfahrensfehler die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers. Auf alle weiteren vom Antragsteller aufgeworfenen Fragen nach der formellen und materiellen Rechtmäßigkeit des Amtsenthebungsbeschlusses kommt es daher nicht mehr an, so dass ihre Klärung einem etwaigen Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben kann.

Die Kostenentscheidung zu Lasten der unterliegenden Antragsgegnerin beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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