L 1 KR 138/13

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 48 KR 1188/11
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 138/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen. Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Vergütung einer stationären psychiatrischen Krankenhausbehandlung.

Eine 1967 geborene Versicherte der Beklagten wurde vom 26. September 2006 bis zum 27. Februar 2007 stationär im Krankenhaus der Klägerin behandelt. Die Aufnahme erfolgte zum qualifizierten stationären Entzug von Cannabis. Im Verlauf der Behandlung zeigte sich zunehmend eine interaktionelle und strukturelle Problematik mit starken Stimmungsschwankungen und Überforderungsgefühlen sowie depressiven und ängstlichen Symptomen, die seitens der behandelnden Ärzte als schwere Selbstwertsymptomatik auf Borderline-Abwehrniveau gewertet wurde. Die Versicherte wurde deshalb nach Abschluss der Entzugstherapie am 30. Oktober 2006 auf die Psychotherapiestation verlegt und dort bis zum 27. Februar 2007 weiterbehandelt.

Die Beklagte bezahlte den von der Klägerin für die Behandlung in Rechnung gestellten Gesamtbetrag zunächst vollständig. Sie beauftragte sodann jedoch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung N. (MDK) mit der Überprüfung der Verweildauer. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom 17. Februar 2008 zu der Auffassung, dass eine stationäre Krankenhausbehandlung nur bis zum 29. Oktober 2006 nachzuvollziehen sei. Danach hätten die fortbestehenden Stimmungsschwankungen, die subjektiv empfundene Überlastung und die verminderte Frustrationstoleranz innerhalb eines tagesklinischen Settings behandelt werden können. Das Vorliegen einer schweren depressiven Episode sei nicht erkennbar, allenfalls habe es sich um eine leichte bis mittelgradige depressive Episode gehandelt.

Die Beklagte verrechnete daraufhin den gezahlten Rechnungsbetrag am 24. September 2010 mit anderen unstreitigen Forderungen und wies kurz darauf nur den unstreitigen Betrag für die Zeit vom 26. September bis 29. Oktober 2006 an.

In Höhe des Differenzbetrages von 28.288,37 EUR hat die Klägerin am 11. Oktober 2011 Klage erhoben und vorgetragen, dass die Versicherte für eine Entlassung am 29. Oktober 2006 noch nicht hinreichend stabil gewesen sei. Sie habe vielmehr eine straffe Tagesstruktur mit engmaschiger Betreuung, ein multimodales Therapieprogramm und die Möglichkeit benötigt, nach Belastungserprobungen jederzeit auf die Station zurückkehren zu können. Durch eine frühere Entlassung wäre auch der Erfolg der Entzugsbehandlung gefährdet worden.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Arztes für Psychiatrie, forensische Psychiatrie und Suchtmedizinische Grundversorgung Dr. B. vom 18. Januar 2013 eingeholt. Dieser ist nach Auswertung der Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass eine vollstationäre Behandlung der Versicherten nur für die Dauer des erfolgten Cannabisentzuges, nicht aber hinsichtlich ihrer Behandlung auf der Psychotherapiestation nachvollziehbar sei. Hinsichtlich seiner Ausführungen insgesamt wird auf die Entscheidungsgründe verwiesen.

Gestützt auf dieses Gutachten hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 22. Juli 2013 abgewiesen.

Mit ihrer dagegen am 22. August 2013 eingelegten Berufung trägt die Klägerin vor, die Cannabis-Abhängigkeit sei nicht von der Persönlichkeitsstörung zu trennen. Auch nach Ende der Entzugsbehandlung habe die Versicherte immer wieder Hilfen gebraucht und in Anspruch genommen. Dass sich letztlich bis zum Ende der Behandlung keine wesentliche Änderung im Krankheitsbild ergeben habe, sei nicht vorherzusehen gewesen. Jedenfalls aber habe die Beklagte der Klägerin eine Vergütung für eine teilstationäre Behandlung zu zahlen, die als "Minus" zu der tatsächlich erfolgten vollstationären Behandlung abrechenbar sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. Juli aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 28.288,37 EUR nebst 5 % Zinsen seit dem 24. September 2010 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil sowie das Gutachten von Dr. B. für zutreffend.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf die Prozessakte und die Krankenakte der Klägerin Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist nicht begründet, denn das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten restlichen Vergütungsanspruchs ist § 109 Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), § 17b Abs. 1 Satz 10 Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (KHG) und § 7 S. 1 Nr. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 1 Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen (KHEntgG) in Verbindung mit der maßgeblichen Fallpauschalenvereinbarung sowie dem am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Vertrag Allgemeine Bedingungen Krankenhausbehandlung vom 19. Dezember 2002 zwischen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft e.V. und u.a. der Beklagten (Vertrag nach § 112 SGB V). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unabhängig von einer Kostenzusage unmittelbar mit der Inanspruchnahme einer Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne des § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V medizinisch erforderlich ist (BSG, Urteil vom 16.05.2012 – B 3 KR 14/11 R – Juris). Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein (§ 12 Abs. 1 S. 1 SGB V).

Der Klägerin steht ein weiterer Vergütungsanspruch nicht zu, denn die Beklagte war zu der erfolgten Aufrechnung berechtigt. Ihr stand insoweit ein Erstattungsanspruch gegen die Klägerin zu, denn die vollstationäre Krankenhausbehandlung der Versicherten war zur Überzeugung des Gerichts nur während der Zeit vom 26. September bis 29. Oktober 2006 im Sinne des § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich (1.). Sie hat darüber hinaus auch keinen Anspruch auf die Vergütung für eine fiktive teilstationäre Behandlung der Versicherten (2.).

(1.) Ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist, richtet sich allein nach den medizinischen Erfordernissen. Ermöglicht der Gesundheitszustand des Patienten, das Behandlungsziel durch andere Maßnahmen, insbesondere durch ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege, zu erreichen, besteht kein Anspruch auf stationäre Behandlung. Ob eine stationäre Behandlung aus medizinischen Gründen erforderlich ist, hat das Gericht uneingeschränkt zu überprüfen, wobei von dem im Behandlungszeitpunkt verfügbaren Wissens- und Kenntnisstand des verantwortlichen Krankenhausarztes auszugehen ist. Dass die Einschätzung des Krankenhausarztes seinerzeit (nur) fachlich vertretbar war, reicht insofern nicht aus (BSG, Großer Senat, Beschluss vom 25.09.2007 – GS 1/06; BSG, Urteil vom 16.12.2008 – B 1 KN 1/07 KR R; BSG, Urteil vom 10.03.2015 – B 1 KR 2/15 R; alle Juris). Denn es ist allein Aufgabe der Gesetzlichen Krankenversicherung, die Gesundheit ihrer Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder zu bessern und die für diese Zwecke benötigte medizinische Versorgung bereitzustellen. Demgegenüber gehört es nicht zu den Aufgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung, die für eine erfolgreiche Krankenbehandlung notwendigen gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu schaffen oder diesbezügliche Defizite – etwa weil geeignete Betreuungseinrichtungen außerhalb des Krankenhauses nicht zur Verfügung stehen oder weil die Mittel für eine grundsätzlich mögliche, kostengünstigere Behandlungsalternative nicht beschafft werden können – durch eine Erweiterung des gesetzlichen Leistungsspektrums auszugleichen. Der Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 SGB V darf daher nicht auf andere als medizinisch begründete Behandlungsnotwendigkeiten erweitert werden (BSG, Urteil vom 16.12.2008, a.a.O.; BSG, Urteil vom 10.03.2015, a.a.O.).

Entgegen der Auffassung der Klägerin war es nicht erforderlich, die Versicherte auch über den 29. Oktober 2006 hinaus vollstationär zu behandeln. Das Gericht folgt damit dem Ergebnis des Gutachtens von Dr. B. vom 18. Januar 2013. Dieser hat ausgeführt, dass bei der Versicherten von einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus mit leichter bis mittelgradiger depressiver Symptomatik auszugehen sei. In deren Rahmen sei es in typischer Art und Weise zu emotional instabilen Krisen während des stationären Aufenthalts gekommen. Dieses Störungsbild habe sich nach dem Cannabisentzug zunehmend demaskiert. Der Entzug habe sich hierdurch deutlich erschwert gestaltet, sodass die hierfür benötigte stationäre Behandlung gut nachvollziehbar sei. Danach sei ein stationäres Setting jedoch nicht mehr erforderlich gewesen. Vielmehr sei für die weitere Behandlung der Persönlichkeitsstörung, auch um Hospitalisierungstendenzen oder regressiven Tendenzen bei der Versicherten entgegen zu treten, eine tagesklinische oder ambulante Behandlung indiziert gewesen. Die Begründung, dass es hierfür an einer ausreichenden Stabilität und Krankheitseinsicht gefehlt habe, überzeuge nicht. Vielmehr seien diese Aspekte störungsimmanent und müssten über viele Jahre vorrangig mit den Mitteln der Psychotherapie behandelt werden, keinesfalls aber in einem vollstationären Setting. Vielmehr sei es gerade in einem teilstationären Setting besser möglich, den Patienten mit den Realitäten des Alltags zu konfrontieren und sich daran therapeutisch abzuarbeiten. Es sei bei der Versicherten auch nicht zu schweren psychischen Krisen, insbesondere nicht zu einer Suizidalität, gekommen. Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus der einmalig am 19. Oktober 2006 aufgetretenen Panikattacke, zumal sich die Versicherte zu dem Zeitpunkt noch im Cannabis-Entzug befunden habe. Im Übrigen könnten auftretende Krisen und Verschlimmerungen auch im Rahmen eines teilstationären oder ambulanten Settings behandelt werden. Diesen nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht an.

(2.) Die Klägerin hat entgegen ihrer erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung vorgebrachten Auffassung auch keinen Anspruch auf die Vergütung einer teilstationären Behandlung der Versicherten, denn eine solche hat sie nicht erbracht. Fiktive Abrechnungen sehen die gesetzlichen Regelungen aber grundsätzlich nicht vor. Abzurechnen ist vielmehr allein das tatsächliche Geschehen, das auf seine Wirtschaftlichkeit (§ 12 SGB V) und seine sachlich-rechnerische Richtigkeit hin überprüft wird (BSG, Urteil vom 17.11.2015 – B 1 KR 13/15 R – Juris).

Eine andere Beurteilung ergibt sich vorliegend auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhaltens. Das Bundessozialgericht hat hierzu ausgeführt, dass ein Krankenhaus nur die Vergütung für eine erforderliche und wirtschaftliche Krankenhausbehandlung verlangen könne. Wähle es dagegen einen unwirtschaftlichen Behandlungsweg, könne es allenfalls die Vergütung beanspruchen, die bei fiktivem wirtschaftlichen Alternativverhalten angefallen wäre. Der Nachweis der Wirtschaftlichkeit erfordere demnach, dass bei Existenz verschiedener, gleich zweckmäßiger und notwendiger Behandlungsmöglichkeiten die Kosten für den gleichen zu erwartenden Erfolg geringer oder zumindest nicht höher seien. Bei unwirtschaftlicher Gestaltung sei es aber nicht stets geboten, zu einem völligen Vergütungsausschluss zu gelangen, wie es bei ihrer Art nach unwirtschaftlichen Leistungsgegenständen der Fall sei. Eine Vergütung in der Höhe, wie sie bei fiktivem wirtschaftlichem Alternativverhalten anfiele, hat das Bundessozialgericht daher im Falle einer überlangen Behandlungsdauer und bei unwirtschaftlichem Fallsplitting anerkannt sowie in Fällen, in denen das Krankenhaus eine geeignete und ausreichende, aber nicht erforderliche erlösrelevante Variante der Behandlung gewählt hat (BSG, Urteile vom 10.03.2015 – B 1 KR 2/15 R und B 1 KR 3/15 R; beide Juris, m.w.N.).

Ein derartiger Fall ist jedoch nicht gegeben, wenn statt der erbrachten, aber nicht erforderlichen vollstationären Behandlung eine teilstationäre Krankenhausbehandlung in Betracht käme. Denn hier geht es gerade nicht um zwei gleich zweckmäßige und notwendige Behandlungsvarianten, von denen lediglich die eine kostengünstiger ist. Vielmehr ist vorliegend die vollstationäre Behandlung im streitigen Zeitraum bereits ihrer Art nach nicht erforderlich und nach dem Ergebnis des Gutachtens von Dr. B. wegen der Gefahr von Hospitalisierungstendenzen noch nicht einmal zweckmäßig. Die teilstationäre Behandlung ist insoweit kein "Minus" gegenüber einer vollstationären Behandlung, die sich von dieser nur dadurch unterscheidet, dass die Patienten die Nacht und das Wochenende zu Hause verbringen. Sie folgt vielmehr – wie auch die ambulante Behandlung – einem grundsätzlich anderen Behandlungskonzept und findet in der Regel in gesonderten, räumlich getrennten Abteilungen des Krankenhauses statt. Insbesondere dient das teilstationäre Setting dazu, die Patienten weiterhin mit den Konfliktsituationen ihres Alltags zu konfrontieren, um ihnen unmittelbar therapeutisch begegnen zu können, während der geschützte Raum eines vollstationären Settings diese Möglichkeiten nicht bietet. Dementsprechend nennt § 39 Abs. 1 S. 1 SGB V die vollstationäre, teilstationäre und ambulante Behandlung als jeweils eigenständige Formen der Krankenhausbehandlung, wobei die vollstationäre Behandlung nachrangig gegenüber allen anderen Arten der Krankenbehandlung ist (BSG, Urteil vom 10.04.2008 – B 3 KR 19/05 R – Juris).

Einem fiktiven wirtschaftlichen Alternativverhalten ist demnach vorliegend bereits dadurch Rechnung getragen worden, dass der Klägerin die Vergütung für den Zeitraum der erforderlichen vollstationären Behandlung gezahlt worden ist, denn dadurch ist sie so gestellt worden, als hätte sie die Versicherte rechtzeitig entlassen. Sie kann demgegenüber nicht so gestellt werden, als hätte sie eine ihrer Art nach völlig andere Leistung erbracht. Hinzu kommt, dass die Vergütung für eine fiktive teilstationäre Behandlung kaum zutreffend berechenbar sein dürfte, da nicht beurteilt werden kann, wie sich diese hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Dauer tatsächlich entwickelt hätte. Ob eine teilstationäre Behandlung daher dem Grunde nach erforderlich gewesen wäre oder ob womöglich auch eine ambulante Weiterbehandlung ausgereicht hätte, kann daher dahin stehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Revision wurde gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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