S 2 VJ 39/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
2
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 2 VJ 39/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VJ 19/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Sozialgericht Münster Az.: S 2 VJ 39/12 Verkündet am 12.01.2015 Im Namen des Volkes Urteil Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Impfschäden.

Der Kläger ist am 00.00.0000 geboren. Nach der Geburt befand sich der Kläger in der Zeit vom 31.03.2008 bis 10.04.2008 in stationärer Behandlung im D.-Hospital in N ... Am 01.04.2008 traten beim Kläger frische Blutungen oral und nasal auf. Wegen dieser Blutungen wurde er auf die Kinderintensivstation verlegt. Dort wurde der Verdacht auf postpartale stressbedingte hämorrhagische Gastritis gestellt. Unter einer Therapie mit Ranitidin für insgesamt acht Tage kam es zu einer Sistierung der Blutung. Am 16.04.2008 wurde der Kläger in gutem Allgemeinzustand aus dem D.-Hospital entlassen.

Eine weitere stationäre Behandlung des Klägers im D.-Hospital erfolgte in der Zeit vom 01.10.2008 bis zum 07.10.2008. Vorstellungsgrund war der hochgradige Verdacht für ein cerebrales Anfallsereignis. Im Entlassungsbericht vom 07.10.2008 werden u.a. die folgenden Diagnosen gestellt:

"Erstes cerebrales Anfallsereignis, Verdacht auf benigne frühkindliche Partialepilepsie Watanabe, Petechien, z.B. infektassoziierte Vasopathie, z.A. plasmatische Gerinnungsstörung, seröse Rhinitis."

Während der stationären Behandlung des Klägers wurde ein MRT des Schädels des Klägers angefertigt. Es wurden dabei altersentsprechend unauffällige intrazerebralen Strukturen dargestellt. Auch Sonographien des Schädels ergaben unauffällige Befunde.

Am 09.01.2009 wurde eine ambulante Untersuchung des Klägers im D.-Hospital durchgeführt. Es wurden dabei deutliche Petechien an Händen, Beinen und Gesicht, nicht konfluierend festgestellt. Der neurologische Untersuchungsbefund war regelrecht. Das Wach-EEG ergab einen für Alter und Ableitebedingungen insgesamt altersphysiologischen Befund.

Im Arztbrief über die ambulante Behandlung des Klägers im D.-Hospital am 06.05.2009 wird eine deutliche Entwicklungsverzögerung beim Kläger, insbesondere im statomotorischen Bereich, bestätigt. Am 16.07.2009 wurde der Kläger nochmals ambulant im D.-Hospital behandelt. Grund für diese Behandlung war die Entwicklungsretardierung des Klägers. Ein erneute MRT-Untersuchung des Schädels ergab eine eher leicht zunehmende Hirnatrophie mit weiten inneren und äußeren Liquorräumen und eine Myeliniesierungsverzögerung.

Im Arztbrief über die Behandlung des Klägers im Universitätsklinikum N. in der Zeit vom 09.02.2011 bis 11.02.2011 werden die folgenden Diagnosen gestellt: Verdacht auf neurokutane Erkrankung - Myelinisierungsstörung und Hirnatrophie - Psychomotorische Entwicklungsverzögerung - Sekundäre Mikrocephalie - Geburt Schwangerschaftswoche 36 + 3 - Zustand nach postpartaler hämorrhagischer Gastritis - Zustand nach transfusionspflichtiger Anämie postpartal - Zustand nach Hyperbilirubinämie (Fototherapie für einen Tag) - Zustand nach zwei Krampfanfällen.

Eine am 10.02.2011 vorgenommene MR-Untersuchung des Schädels nativ ergab eine im Vergleich zu den Voraufnahmen vom 02.01.2008 bzw. 16.07.2009 zunehmende asymmetrische deutliche Myelinierungsstörung linksseitig und zusätzlich eine progrediente asymmetrische linkshemisphärisch betonte Atrophie insbesondere temporal und okzipital mit asymmetrischer e vacuo Erweiterung der Seitenventrikel. Unter Beurteilung heißt es im Arztbrief vom 11.04.2011:

"Im Verlauf von anderthalb Jahren zunehmende asymmetrische Atrophie links hemisphärisch temporal und okzipital betont mit linkshemisphärischer Myelinisierungsstörung. Eine systemische genetische Ursache erscheint weniger wahrscheinlich, DD unklare entzündliche Genese."

In einem Arztbrief des Universitätsklinikums N. vom 12.01.2012 über eine stationäre Behandlung des Klägers in der Zeit vom 04.01.2012 bis 12.01.2012 werden die folgenden Diagnosen gestellt:

Unklare Grunderkrankung mit - petechialen Hautveränderungen im Gesicht (a.e. Vaskulitis DD: Vasopathie) - Myelinisierungsverzögerung (vor allem die linke Hemisphäre betreffend) - cerebraler Atrophie (ebenfalls linksseitig betont) - cerebralem Anfallsleiden - psychomotorischer Entwicklungsverzögerung - auffälligen Schleinhautveränderungen im gesamten Gastrointestinaltrakt (Vaskulitis DD Vasopathie).

In diesem Arztbrief wird im Rahmen der Auswertung der am 04.01.2012 durchgeführten MR-Untersuchung des Schädels des Klägers festgestellt, dass ab dem A2- und M2-Segmenten beidseits kaliberschwache distale intrakranielle Gefäße zur Darstellung kamen. Die Möglichkeit einer Vaskulopathie wurde festgestellt. Weiterhin wurde in dem Arztbrief die Feststellung getroffen, dass sich im MRT des Schädels eine seit Lebensbeginn progrediente Hirnvolumenminderung und Myelinisierungsverzögerung gezeigt hatte.

Nachdem der Kläger am 21.05.2008 und 18.06.2008 mit dem Impfstoff Rota teq geimpft worden war, erfolgte am 04.07.2008 die erste Impfung mit den Impfstoffen Infanrix hexa und Prevenar. Nach einer weiteren Impfung mit Rota Teq am 18.07.2008 wurden am 12.08.2008 und 25.09.2008 weitere Impfungen mit den Impfstoffen Infanrix hexa und Prevenar durchgeführt. Eine Impfung des Klägers mit dem Impfstoff Priorix Tetra fand am 02.03.2009 statt. Am 24.04.2009 wurde der Kläger mit den Impfstoffen Infanrix hexa und Prevenar und am 17.07.2009 mit den Impfstoffen Priorix Tetra und Menjugate Kit geimpft.

Die Fachinformation zum Impfstoff Prevenar enthält u.a. die folgenden Angaben:

"Nebenwirkungen in klinischen Studien: Erkrankungen des Nervensystems: Selten: Krampfanfälle (einschließlich Fieberkrämpfe), hypoton-hyporesponsive Episode. Nebenwirkungen aus der Spontanerfassung nach Markteinführung von Prevenar 13: Erkrankungen des Nervensystems: Häufig: Kopfschmerzen."

Die Fachinformation zum Impfstoff Infanrix hexa enthält zu den Nebenwirkungen u.a. die folgenden Angaben:

"Erkrankungen des Nervensystems: Kollaps- oder schockähnlicher Zustand (hypotone –hyporesponsive Episode).

In extrem seltenen Fällen wurde über Paralyse, Neuropathie, Guillain-Barré-Syndrom, Enzephalopathie, Enzephalitis und Meningitis berichtet- Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung konnte nicht festgestellt werden."

Im November 2011 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach den §§ 60 bis 64 Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen der Impfungen mit den Wirkstoffen Prevenar und Infanrix hexa. Als durch die Schutzimpfung hervorgerufene Gesundheitsstörungen machte er geltend: "Globale Entwicklungsverzögerung bei Zustand nach Krampfanfällen, Myelinisierungsstörung und Hirnatrophie, Petechien." Dem Antrag beigefügt waren medizinische Unterlagen über die Behandlungen des Klägers.

Die Leitende Landesmedizinaldirektorin Dr. C. befragte im Januar 2012 die Mutter des Klägers. Hinsichtlich des Ergebnisses dieser Befragung wird auf Blatt 107 bis 109 der Gerichtsakte verwiesen.

Weiterhin holte der Beklagte einen Befundbericht des behandelnden Kinderarztes Dr. H. ein. Diesem Befundbericht beigefügt war die Meldung des Dr. H. über den Verdacht auf einen Impfschaden nach dem IfSG gegenüber dem Gesundheitsamt des Kreises D. vom 25.04.2012.

Der Beklagte holte weiterhin eine Stellungnahme des Dr. N. vom Q-F-Institut ein. In seiner Stellungnahme vom 22.06.2012 führte Dr. N. aus, das Auftreten der beim Kläger festgestellten Krankheitsbilder nach der Gabe der Impfstoffe Prevenar und Infanrix hexa sei nicht bekannt. In der medizinischen Literatur gebe es keinen Hinweis auf einen plausiblen Pathomechanismus zwischen den Impfungen und einer statomotorischen Entwicklungsverzögerung. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den Impfungen und der beim Kläger beschriebenen neurologischen Symptomatik wurden vom Q-F-Institut als unwahrscheinlich bewertet.

Nach Erstellung einer gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage durch die Leitende Landesmedizinaldirektorin Dr. C. lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16.07.2012 den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Beschädigtenversorgung ab. Zur Begründung führte er aus, nach § 61 IfSG genüge für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 dieses Gesetzes die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Eine solche Wahrscheinlichkeit liege vor, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spreche. Die Auswertung der medizinischen Unterlagen habe ergeben, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen mit den Impfstoffen Prevenar und Infanrix hexa und den geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht wahrscheinlich sei. Der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 16.07.2012 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 03.09.2012 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 05.10.2012 Klage erhoben. Zur Begründung seiner Klage trägt er vor, sämtliche Vorsorgeuntersuchungen bis einschließlich der U5 hätten keine Hinweise auf Entwicklungsrückstände ergeben. Erst bei der U6-Untersuchung am 02.03.2009 sei eine statomotorische Retardierung festgestellt worden. Die Aussage des Beklagten, dass dauernde zentralnervale Schäden aufgrund einer Impfung mit den Impfstoffen Prevenar und Infanrix hexa nicht bekannt seien, sei befremdlich vor dem Hintergrund der Veröffentlichung der Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der DAKJ. In dieser Veröffentlichung sei festgestellt worden, dass zu den neurologischen Symptomen, die nach Impfungen auftreten könnten u.a. cerebrale Krampfanfälle zählen würden. Die erforderliche sozialrechtliche Kausalitätsbeurteilung könne nicht auf der Grundlage von Literaturhinweisen oder aufgrund von Einschätzungen des Q-F-Instituts erfolgen. Die nach der Impfung aufgetretenen Krankheitsbilder seien in den für die Impfstoffe maßgeblichen Fachinformationen aufgeführt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 16.07.2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 03.09.2012 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Beschädigtenversorgung nach dem IfSG in Verbindung mit den Vorschriften des BVG nach einem GdS in Höhe von 100 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung seines Antrags macht er geltend, die Voraussetzungen für die Gewährung einer Beschädigtenversorgung seien nicht gegeben.

Auf Veranlassung des Gerichts hat Priv.Doz Dr. J., Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie, Facharzt für Klinische Pharmakologie und Arzt für Naturheilverfahren, im Mai 2013 nach Aktenlage ein Gutachten erstellt. Im Hinblick auf die vom Beklagten vorgelegte gutachterliche Stellungnahme der Leitenden Landesmedizinaldirektorin Dr. C. vom Juni 2013 hat die Kammer von Priv. Doz. Dr. J. eine ergänzende Stellungnahme eingeholt. Zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen hat die Leitende Landesmedizinaldirektorin Dr. C. im August 2013 eine weitere gutachterliche Stellungnahme abgegeben. Hinsichtlich des Inhalts des Gutachtens des Priv. Doz. Dr. J. und der Stellungnahmen wird auf Blatt 157 bis 180, 183 bis 185, 194 bis 200 und Bl. 215, 216 der Gerichtsakte verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 12.01.2015 gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die mit der Klage angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Beklagte hat zu Recht die Gewährung einer Beschädigtenversorgung abgelehnt.

Dem Kläger steht zunächst kein Anspruch auf Versorgung als Pflichtleistung gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG zu. Nach dieser Bestimmung erhält derjenige, der durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die 1. von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde, 2. aufgrund dieses Gesetzes angeordnet wurde, 3. gesetzlich vorgeschrieben war oder 4. aufgrund der Verordnungen zur Ausführung der internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens i. S. d. § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt. Nach § 2 Nr. 11 IfSG ist Impfschaden im Sinne dieses Gesetzes die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.

Versorgungsleistungen nach dem IfSG in Verbindung mit dem BVG kommen nur dann in Betracht, wenn durch die maßgebliche Schutzimpfung eine über die übliche Impfreaktion hinausgehende dauerhafte gesundheitliche Schädigung im Sinne eines Impfschadens vorliegt (BSG, Urteil vom 07.04.2011, Az.: B 9 VG 1/10 R). Für den Ursachenzusammenhang zwischen den Anspruchsmerkmalen Schutzimpfung und Impfschaden gilt die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein anwendbare Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung, wonach von allen Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenigen Ursachen rechtlich erheblich sind, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehungen zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSG, a.a.O.). Als wesentlich sind die Ursachen anzusehen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.06.2012, Az.: L 13 VJ 59/11 mit weiteren Nachweisen). Es ist in jedem Einzelfall nach der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung zu prüfen, ob der vom Gesetz geforderte Ursachenzusammenhang gegeben ist (Meßling in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Auflage, 2012, § 60 IfSG Rdnr. 17).

Die Kammer hält es zunächst einmal für geboten, die Gesundheitsschädigung zu bestimmen, die als maßgeblicher Impfschaden anzusehen ist. Als Impfschaden ist eine über die übliche Impfreaktion hinausgehende dauerhafte gesundheitliche Schädigung anzusehen. Ergänzend ist dabei zu berücksichtigen, dass eine als Impfschaden anzuerkennende Gesundheitsstörung auch zu einer relevanten Beeinträchtigung des Klägers geführt haben muss. Damit scheiden zunächst die Petechien als Impfschaden aus. Petechiale Blutungen sind punktförmige bzw. stecknadelkopfgroße Einblutungen in das Gewebe. Allein diese Einblutungen können die Beeinträchtigungen des Klägers im Sinne einer Entwicklungsverzögerung bzw. Entwicklungsstörung nicht hervorrufen. Sie treten hinter die maßgebliche Erkrankung zurück und sind daher für die Bildung des Grads der Schädigungsfolgen (GdS) ohne Relevanz.

Dies gilt auch für die beim Kläger aufgetretenen Krampfanfälle im Jahre 2008. Nach dem Inhalt der der Kammer vorliegenden medizinischen Unterlagen sind seit dem Jahre 2008 keine weiteren Krampfanfälle mehr aufgetreten. Allein aus den zwei Krampfanfällen resultiert aktuell keine relevante Beeinträchtigung. Insbesondere sind diese Krampfanfälle nicht Ursache für die Entwicklungsverzögerung bzw. Entwicklungsstörung, sondern Folge einer beim Kläger bisher nicht genau diagnostizierten Erkrankung.

Für die Entscheidung des Rechtsstreits kommt es darauf an, durch welche Erkrankung die Beeinträchtigungen des Klägers hervorgerufen werden. Als solche Erkrankung kommt die Hirnatrophie in Betracht. Es ist jedoch nicht überwiegend wahrscheinlich, dass diese Erkrankung durch die Impfungen mit den Impfstoffen Prevenar und Infanrix hexa hervorgerufen worden ist.

Gegen die Annahme der überwiegenden Wahrscheinlichkeit spricht zunächst die vom Beklagten eingeholte Auskunft des Q-F-Instituts. Dieses Institut bewertet den kausalen Zusammenhang zwischen den Impfungen und der beim Kläger aufgetretenen neurologischen Symptomatik als unwahrscheinlich.

Entgegen den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. J. lässt sich auch aus den Fachinformationen zu den Impfstoffen Prevanar und Infanrix hexa die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht ableiten. Die Fachinformation zum Impfstoff Prevenar bestätigt als Nebenwirkungen in seltenen Fällen Krampfanfälle. Die beim Kläger aufgetretenen Krampfanfälle sind jedoch für die Entscheidung des Rechtstreits nicht von ausschlaggebender Bedeutung, da sich hieraus für den Kläger keine dauerhaften relevanten Beeinträchtigungen ergeben. Dass durch den Impfstoff Prevenar eine Hirnatrophie oder Enzephalopathie (Sammelbegriff für Erkrankungen oder Schädigungen des Gehirns, die das Gehirn als Ganzes betreffen) hervorgerufen werden können, wird in den Fachinformation zu diesem Impfstoff nicht bestätigt.

Dies gilt auch für die Fachinformation zum Wirkstoff Infanrix hexa. Zwar wird in der maßgeblichen Fachinformation ausgeführt, dass in extrem seltenen Fällen über eine Enzephalopathie oder Enzephallitis berichtet wurde. Gleichzeitig wird jedoch in der Fachinformation festgestellt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieser Erkrankungen und der Impfung mit Infanrix hexa nicht festgestellt werden konnte. Dieser Hinweis ist vom gerichtlichen Sachverständigen Priv. Doz. Dr. J. in der ergänzenden Stellungnahme vom 22.07.2013 nicht wiedergegeben worden.

Nach Auffassung der Kammer kann sich die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nur aus dem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und der Feststellung der Hirnatrophie ableiten lassen. Dieser zeitliche Zusammenhang spricht jedoch gegen die Annahme der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Durch die von den Eltern veranlassten Untersuchungen konnte die genaue Ursache für die Hirnatrophie nicht geklärt werden. Im Arztbrief des Universitätsklinikums N. vom 12.01.2013 wird unter Überschrift "Diagnosen" vielmehr eine "Unklare Grundkrankheit" aufgeführt. Ob eine genaue Einordnung der Grunderkrankung durch eine Biopsie des Gehirns des Klägers erfolgen kann, brauchte die Kammer nicht zu entscheiden. Ein solch schwerwiegender Eingriff kann nur mit Zustimmung der gesetzlichen Vertreter des Klägers vorgenommen werden. Eine solche Zustimmung haben die Eltern weder gegenüber den behandelnden Ärzten noch gegenüber dem Gericht bisher erteilt.

Gegen eine Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs spricht zunächst die Feststellung im Arztbrief des Universitätsklinikums N. vom 12.01.2012. Auf Seite 8 dieses Arztbriefs wird im Rahmen der Auswertung der durchgeführten MRT – Untersuchung des Klägers von einer seit Lebensbeginn bestehenden progredienten Hirnvolumenminderung und Myelinisierungsverzögerung gesprochen. Sofern die für Hirnatrophie maßgebliche Grundkrankheit bereits seit Lebensbeginn des Klägers tatsächlich bestanden haben sollte, steht dies nach Auffassung der Kammer der Annahme der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs entgegen. In diesem Fall kann die Hirnatrophie nicht durch die Impfungen hervorgerufen worden sein.

Selbst wenn eine Hirnatrophie im Zeitpunkt der Impfung mit den Impfstoffen Prevenar und Infanrix Hexa nicht bestanden haben sollte, kann die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht bejaht werden. Dies käme nur dann in Betracht, wenn die Hirnatrophie in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung am 25.09.2008 aufgetreten wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das am 07.10.2008 im D.-Hospital erstellte MRT des Schädels des Klägers hat nach dem maßgeblichen Arztbrief eine altersentsprechend unauffällige Darstellung der intrazerebralen Strukturen ergeben. Abgesehen von den Krampfanfällen war die Entwicklung des Klägers nach der Impfung zunächst unauffällig. Erst bei der MRT-Untersuchung des Schädels des Klägers im Juli 2009 haben sich eine mäßiggradige Hirnatrophie und eine Myelinisierungsstörung feststellen lassen.

Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den Impfungen mit den Impfstoffen Prevenar und Infarix Hexa ist außerdem zu berücksichtigen, dass aufgrund der beim Kläger durchgeführten Untersuchungen die Differentialdiagnose einer Vaskulopathie gestellt worden ist. Unter Vaskulopathien wird eine Gruppe von primär nicht entzündlichen Gefäßerkrankungen unterschiedlicher Ursache erfasst, die zu einem teilweisen oder vollständigen Verschluss eines Gefäßes führen. Bei nekrotisierenden Vaskulopathien führt der Gefäßverschluss zu einem pathologischen Untergang von Zellen des umgebenden Gewebes. In ihrer Stellungnahme vom 04.12.2013 hat Dr. C. in schlüssiger Weise dargelegt, dass ein Zusammenhang zwischen den beim Kläger festgestellten cerebralen Veränderungen und den Gefäßveränderungen bestehen kann. Angesichts dieser Umstände sieht es die Kammer nicht als überwiegend wahrscheinlich an, dass die Impfung mit den Impfstoffen Prevenar und Infanrix Hexa die beim Kläger bestehende Hirnatrophie hervorgerufen hat.

Die Bejahung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ist ein anspruchsbegründender Umstand, für den der Kläger die Beweislast trägt. Da nicht sämtliche anspruchsbegründenden Umstände mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden können, scheidet ein Anspruch des Klägers auf Beschädigtenversorgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG aus.

Auch ein Anspruch des Klägers auf eine sog. Kannversorgung nach §§ 60 Abs. 1 Satz 1, 61 Satz 2 IfSG besteht nicht. Nach diesen Bestimmungen kann mit Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde der Gesundheitsschaden als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG anerkannt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Impfung und Gesundheitsschaden nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit herrscht. Auch diese Voraussetzung ist nicht gegeben.

Für die Gewährung einer Kannversorgung müssen die folgenden, in den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP Nr. 39) geregelten Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Über die Ätiologie und Pathogenese des Leidens darf keine durch Forschung und Erfahrung genügend gesicherte medizinische Auffassung herrschen.

2. Wegen mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse darf die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen für die Entstehung und den Verlauf des Leidens nicht mit Wahrscheinlichkeit beurteilt werden können.

3. Zwischen der Einwirkung der wissenschaftlichen in ihrer ursächlichen Bedeutung umstrittenen Umstände und der Manifestation des Leidens oder Verschlimmerung des Krankheitsbildes muss eine zeitliche Verbindung gewahrt sein, die mit den allgemeinen Erfahrungen über biologische Verläufe und den in den wissenschaftlichen Theorien vertretenen Auffassung über Art und Wesen des Leidens in Einklang stehen.

Ungewissheiten im Sachverhalt, die von der Ungewissheit in der medizinischen Wissenschaft über die Ursachen des Leidens unabhängig sind, rechtfertigen die Anwendung der Kannvorschrift nicht; dies ist insbesondere der Fall, wenn rechtserhebliche Zweifel über den Zeitpunkt des Leidensbeginns bestehen, weil die geltend gemachten Erstsymptome mehrdeutig sind, oder wenn das Leiden diagnostisch nicht ausreichend geklärt ist.

Auch nach dem Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung richtet sich die Möglichkeit einer Kannversorgung nach diesen Grundsätzen, auch wenn die Versorgungsmedizin-Verordnung keine entsprechenden Ausführungen mehr enthält. Bei den dargestellten Grundsätzen handelt es sich nämlich um allgemeine medizinische Erkenntnisse. Solche Erkenntnisse können nicht in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Aus diesem Grunde sind die entsprechenden Regelungen in den AHP auch nach dem Inkrafttreten der Versorgungsmedizin-Verordnung weiterhin anwendbar.

Die maßgebliche Grunderkrankung des Klägers konnte bisher diagnostisch nicht mit der erforderlichen Sicherheit bestimmt werden. Dieser Umstand schließt die Anwendung der Grundsätze über die Kannversorgung aus. Es besteht nämlich keine Ungewissheit über die ursächliche Bedeutung von Schädigungstatbeständen oder Schädigungsfolgen. Die Unklarheiten betreffen vielmehr die Art der Grunderkrankung des Klägers.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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