S 14 U 149/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 14 U 149/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Unter Aufhebung des Bescheides vom 04.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2002 wird festgestellt, dass das Ereignis vom 01.02.2000 als Arbeitsunfall mit der Folge einer linksseitigen Achillessehnenruptur war. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung eines betrieblichen Ereignisses als Arbeitsunfall; maßgebend ist dabei, ob ein Achillessehnenriss rechtlich wesentlich durch dieses verursacht worden ist.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger war seit 1989 als Merchandiser im Außendienst für die Firma Q, T, tätig.

Er erlitt am 01.02.2000 eine linksseitige Achillessehnenruptur, als er - so die am 17.03.2000 erstattete Unfallanzeige - auf dem Parkplatz des Famila-Marktes in Q2 aus dem Auto ausstieg, einige Meter ging und dann umknickte.

Der Kläger stellte sich am Folgetag Dr. M, Ärztin für Allgemeinmedizin in I vor, welche den Kläger in die Chirurgische Klinik des Kreiskrankenhauses H2 überwies, wo die Verletzung diagnostiziert und nachfolgend operativ behandelt wurde; zum Ereignishergang war in den Erstberichten beider behandelnden Ärzte angegeben, der Kläger sei mit dem linken Fuß auf einen Bordstein aufgetreten und habe einen plötzlich stechenden Schmerz in der linken Ferse verspürt. Zur Frage des ursächlichen Zusammenhanges mit dem vom Kläger geschilderten Hergang vertraten die ihn behandelnden Ärzte des Kreiskrankenhauses H2 die Auffassung, eine traumatische Verursachung sei nicht anzunehmen, da ein adäquates Trauma fehle. Zum Ereignishergang führten sie im Rahmen ergänzender Befragung (Stellungnahme vom 05.09.2000) aus, der Kläger habe nach einem "Fehltritt" auf einem Bordstein einen Schmerz in der linken Ferse verspürt. Dem entgegen machte der Kläger am 31.05.2000 geltend, er sei im Rahmen des Ereignisherganges nicht nur umgeknickt, sondern auch zwischen Bordsteinen, in welchen eine Lücke befindlich gewesen sei, mit dem Fuß hängen geblieben und nach Vorne gefallen; dementsprechend gehe auch Dr. L, bei welchem er seit Mitte Februar 2000 in Behandlung stehe, von einer traumatischen Verursachung des Sehnenrisses aus. Von diesem holte die Beklagte insoweit einen Befund- und Behandlungsbericht (vom 17.11.2000) ein, in welchem dieser berichtete, der Kläger habe bei seiner Erstvorstellung auf Nachfrage am 16.02.2000 angegeben, an einer Bordsteinkante hängen geblieben und umgeknickt zu sein.

Nachdem Dr. U, Arzt für Chirurgie, in einer beratungsärztlichen Stellungnahme vom 11.12.2000 die Auffassung vertreten hatte, entsprechend den Ausführungen der Ärzte des Kreiskrankenhauses H2 sei ein adäquates Trauma nicht anzunehmen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 04.01.2001 die Anerkennung des geltend gemachten Ereignisses als Arbeitsunfall mit der Begründung ab, der Unfallmechanismus sei nach Art und Schwere nicht geeignet gewesen, eine gesunde Achillessehne zu schädigen; vielmehr beruhe der Riss auf einer auch histologisch nachgewiesenen degenerativen Vorschädigung. Histologisch war insoweit (Bericht von Dr. Q3, Arzt für Pathologie in E vom 08.02.2000) eine Achillessehnenprobeexzision aus dem Bereich einer frischen Ruptur begutachtet worden, wobei eine ausgeprägte Faserdissoziation und Faserzusammenhangstrennung sowie kleinherdige Fibrinabscheidungen und Blutungen bei mäßiggradigen bis deutlich ausgeprägten regressiv-degenerativen Faserveränderungen diagnostiziert wurden.

Mit dem am 30.01.2001 erhobenen Widerspruch machte der Kläger ergänzend geltend, unter Vorschädigungen oder klinischen Beschwerden von Seiten der Achillessehne zuvor nicht gelitten zu haben. Nach Beiziehung des Operationsberichtes vom 03.02.2000 und Einholung einer weiteren beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. U (vom 21.05.2002), welcher die Auffassung vertrat, die im Gegensatz zu den zeitnah zum Unfallgeschehen abgegebenen Hergangsschilderungen vollständig differente Schilderung des angeschuldigten Ereignisses sei, da zeitnahen Angaben höherer Beweiswert zukomme, unmaßgeblich, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2002 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 22.07.2002 erhobene Klage, mit welcher der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 04.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2002 festzustellen, dass das Ereignis vom 01.02.2000 ein Arbeitsunfall mit der Folge einer linksseitigen Achillessehnenruptur war.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht zunächst die Ausführungen ihres Widerspruchsbescheides zum Gegenstand ihrer Klageerwiderung und vertritt die Auffassung, die Versuche des Klägers, durch Erweiterung der Hergangsschilderung Versicherungsschutz herzuleiten, seien untauglich. Unmaßgeblich sei im Übrigen, dass vor dem angeschuldigten Ereignis keine Beschwerden bestanden hätten, da auch erhebliche degenerative Veränderungen des Sehnengewebes in einem Großteil der Fälle klinisch stumm blieben.

Das Gericht hat nach Maßgabe der Beweisanordnung vom 18.08.2003 Beweis erhoben und von Prof. Dr. L2, Orthopädische Klinik des St. Elisabeth-Hospitals H ein fachärztliches Gutachten eingeholt. Auf den näheren Inhalt dieses Gutachtens vom 20.11.2003 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) statthafte Klage ist zulässig und auch begründet.

Das Ereignis vom 01.02.2000 ist ein Arbeitsunfall. Von daher war der entgegenstehende Bescheid der Beklagten vom 04.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.06.2002 aufzuheben.

Gemäß § 8 Abs. 1 des 7. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB VII- sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von Außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

Dass das Ereignis einen Unfall in diesem Sinne darstellt, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Soweit § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ein von Außen auf den Menschen einwirkendes Ereignisses fordert, solle hiermit lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass ein aus innerer Ursache kommendes Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist; hierzu ist jedoch nicht erforderlich, dass das Ereignis von Außen her auf den Betroffenen zukommt, so dass auch körpereigene Bewegungen als von Außen kommend gelten (vgl. z.B. Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, 4. Auflage, S. 37 f).

Der Unfall war auch ein Arbeitsunfall, da ebenso unstreitig ist, dass der Schmerz, den der Kläger zum Zeitpunkt des Ereignisherganges verspürte, Zeichen einer sich zu diesem Zeitpunkt ereignenden Sehnenruptur war. Damit ist sowohl der Sehnenriss zum Zeitpunkt des Ereignisses als Tatsache als auch der ursächliche Zusammenhang des Risses mit dem geschilderten Hergang wobei hier dahinstehen kann, welcher Ereignishergang zugrunde zu legen ist- im Sinne einer naturwissenschaftlichen "conditio sine qua non" erwiesen.

Hiermit ist jedoch noch nicht gesagt, dass die Achillessehnenruptur auch rechtlich auf das Ereignis zurückzuführen ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn die versicherte Tätigkeit den Unfall nach der im Unfallrecht geltenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung verursacht hat. Ob eine Unfallursache im naturwissenschaftlichen Sinne zugleich auch wesentliche Ursache nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Zusammenhangslehre ist, beurteilt sich nach dem Wert, den ihr die Auffassung des täglichen Lebens gibt. Wesentlich sind Bedingungen dann, wenn sie wegen ihrer besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Dass dies für die betriebliche Tätigkeit zu konstatieren ist, ist unzweifelhaft, denn ohne diese konkrete Tätigkeit hätte sich eine Verletzung mit identischer Verletzungsfolge nicht ereignet.

Die Wesentlichkeit der betrieblichen Einwirkung wird auch nicht durch unfallunabhängige Kausalfaktoren, etwa im Sinne einer sog. Gelegenheitsursache (auch Anlassgeschehen) in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Zwar ist in jedem Falle zu prüfen, ob ein Vorschaden als wesentliche weitere Bedingung in Betracht zu ziehen ist; zu vergegenwärtigen ist vorab jedoch der Schutzzweck des Gesetzes, wonach die Versicherten zum Zeitpunkt eines Unfalles in dem Gesundheitszustand geschützt werden mit sämtlichen bereits bestehenden Krankheiten, Behinderungen und sonstigen Vorschäden, in dem sie sich zum Zeitpunkt des Unfalles befinden. Tritt insoweit eine Körperschädigung durch ein ursächliches Zusammenwirken von Unfall und einer solchen Schadensanlage ein, darf dem Arbeitsunfall die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Bedingung jedenfalls nicht von vorne herein pauschal mit der Begründung abgesprochen werden, die Schadensanlage habe sich bei Gelegenheit des Unfalles manifestiert oder gar, dass bei einem gesunden Versicherten der Schaden nicht eingetreten wäre; insoweit ist die Argumentation der Beklagten noch im ablehnenden Bescheid, der Unfall sei nach Art und Schwere seines Herganges nicht geeignet gewesen, eine gesunde Achillessehne zu schädigen, nicht haltbar. Vielmehr ist individuell für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark und so leicht ansprechbar ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedarf, so dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte; nur in einem solchen Fall kann von einer Gelegenheitsursache gesprochen werden.

Nach diesen Grundsätzen kann den zum Ereigniszeitpunkt stattgehabten Einwirkungen nicht nur austauschbare Bedeutung zugemessen werden. Zwar ist davon auszugehen, dass eine Achillessehne in der Regel nur aufgrund plötzlicher überfallartiger Überdehnung reißt bzw. regelhaft ebenso degenerative Vorschäden den Riss einer Achillessehne begünstigen. Etwaige unfallunabhängige Kausalfaktoren, deren ursächliche Beteiligung an dem Eintritt des streitigen Schadens erwogen werden, sind jedoch, um diese in die Abwägung einzubeziehen, in ihren tatsächlichen Grundlagen vollbeweislich zu sichern. Das bedeutet, dass der Beweis eines Vorschadens allein uns als solcher nicht genügt, vielmehr voll bewiesen sein muss auch dessen Schadensausmaß. Eindeutige Feststellungen können diesbezüglich, d.h., ob eine so leicht ansprechbare Schadensanlage bestand, dass es aufgrund vorbestehender Degenerationen auch bei anderer Gelegenheit zu einem Schadenseintritt gekommen wäre, nicht getroffen werden. Auch der gehörte Sachverständige vermag dies nicht. Aus dem histologischen Befundbericht ergeben sich zwar Hinweise auf - wie beschrieben - mäßiggradige bis deutlich ausgeprägte degenerative Faserveränderungen, welche Wertungen hieraus zu ziehen sind insbesondere im Sinne auf die Ansprechbarkeit dieser Degeneration auf Ereignisse ist jedoch nicht feststellbar; überdies ist zu vergegenwärtigen, dass sich im Bereich der als frisch beschriebenen Rissstelle Einblutungen fanden, was für eine traumatische Genese spricht, und intraoperativ auch nicht derartige Zerreißungen beschrieben sind, die etwa eine Umschlagfaltung der Sehnenenden und Durchfädelung dieser zur Durchführung der Rahmennaht erforderten. Unter Berücksichtigung dessen ist die Auffassung des beratenden Arztes, es handele sich um ein schicksalmäßiges Ereignis welches ebenso bei anderen Bewegungsabläufen zeitgleich eingetreten wäre, um eine nicht zu beweisende Behauptung.

Entschädigungsgründe können auch nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass das in den ärztlichen Berichten der erstbehandelnden Ärzte ein sozialmedizinisch nicht geeignetes Ereignis beschrieben wird. Der Unfallhergang darf insoweit nur dann in die Abwägung einbezogen werden, wenn er generell, also auch für einen Laien einleuchtend, nicht geeignet ist, den aufgetretenen Schaden zu verursachen und kann überdies auch dann nur als Indiz für einen Vorschaden herangezogen werden, darf aber nicht dazu herangezogen werden, den Schluss zu ziehen dieser sei medizinisch generell nicht geeignet, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken. Eine insoweit generalisierende, auf allgemeine Erfahrung gestützte Betrachtung eine bestimmte Einwirkung sei generell nicht geeignet den Schaden zu verursachen, ist zwar typisch für das Zivilrecht, nicht jedoch für das Unfallversicherungsrecht, da hier auf die individuellen Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles abzustellen ist. Ein ansonsten bewirkter Ausschluss ungewöhnlicher oder unvorhersehbarer Kausalitätsabläufe ist dem Sozialrecht wesensfremd und ist nicht mit dem Gebot einer individualisierenden Prüfung vereinbar (vgl. Erlenkämper/Fichte, a.a.O. S. 79; BSG in SozR 2200 § 548 RVO Nr. 91; im gleichen Sinne auch Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 14.11.2000 - Aktenzeichen L 2 U 113/98). Das Kriterium der Geeignetheit des Ereignisherganges hat somit außer Betracht zu bleiben.

Letztlich bietet im Übrigen auch er Geschehensablauf, auf welchen die Beklagte maßgeblich abstellt, hinreichende Anhaltspunkte für eine Geeignetheit der Schadensverursachung - hinsichtlich der Ereignisschilderung des Klägers dürfte dies, auch unter Berücksichtigung der Sachverständigenausführungen unstreitig sein -. Geeignete Mechanismen einer Achillessehnenverletzung sind (vgl. hierzu Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S. 495) neben dem Auf- und Absprung bei fußrückenwärtiger Belastung, schnellen Antritten, Ausrutschen beim Tragen von Lasten und direkten Traumen nämlich auch das Abrutschen bzw. Verfehlen einer Stufe oder ein Tritt in eine nicht erkennbare Vertiefung. Diesbezüglich ist festzustellen, dass nach den letzten Angaben des Kreiskrankenhauses H2 die Rede von einem Fehltritt auf einem Bordstein ist, was, da bei Betreten einer Stufe grundsätzlich mit dem vorfußwärtigen Bereich aufgesetzt wird durchaus in Übereinklang zu bringen ist mit einem rückwärtigen Abgleiten des Fußes etwa vergleichbar einem Tritt in eine Bodenvertiefung, wodurch es zu einer übermäßigen Anspannung der Achillessehne kommt. Dass insoweit ein überraschendes Moment im Ereignis etwa in diesem Sinne gelegen hat, wird nach lebensnaher Betrachtung auch bestätigt durch die Angaben in den zeitlich ersten ärztlichen Berichten, in welchen, zwar nicht im Sinne eines Fehltrittes, von einem Tritt auf einen Bordstein gesprochen wird. Dieser wäre wohl kaum erwähnenswert im Rahmen einer Hergangschilderung gewesen, wäre hierbei nicht ein überraschendes, nicht koordinierbares Moment stattgehabt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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