L 4 AS 1205/16 NZB

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 22 AS 276/16
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 1205/16 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Ob eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II vorliegt, ist durch das Tatsachengericht auf Grundlage des Gesamtbildes festzustellen, welches sich aus der Würdigung sämtlicher Hinweistatsachen im Einzelfall ergibt. Die Würdigung bezieht sich auch auf subjektive Tatsachen (Anschluss an: BSG, Urteil vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 60/15 R).

2. Es kann kein verallgemeinerungsfähiger Rechtssatz aufgestellt werden, unter welchen tatsächlichen Voraussetzungen die Vermutung des Einstehens- und Verantwortungswillens nach § 7 Abs. 3a SGB II widerlegt werden kann. Es gilt auch bezüglich des § 7 Abs. 3a SGB II die allgemeine Regel, dass die gesetzliche Vermutung durch Beweis des Gegenteils widerlegt werden kann, § 202 SGG i. V. m. § 292 ZPO. Erforderlich ist, dass die von der Vermutungsregelung vorausgesetzten Hinweistatsachen nicht erfüllt sind bzw. die Vermutung des Einstandswillens durch andere Umstände entkräftet wird. Was ein angemessener und ausreichender Nachweis ist, muss immer im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände geprüft werden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 12. August 2016 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Das Sozialgericht hat die Berufung nicht zugelassen. Sie ist nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG auch nicht statthaft, denn der maßgebliche Beschwerdewert von mehr als 750 Euro wird nicht erreicht. Der Kläger begehrt für den Zeitraum 1. Januar bis 30. Juni 2016 die Gewährung des Regelbedarfs für Alleinstehende (404 Euro) anstelle des vom Beklagten bewilligten Regelbedarfs für volljährige Partner (364 Euro). Dies macht eine Differenz von 6 x 40 Euro, also insgesamt 240 Euro aus.

Die Beschwerde ist aber unbegründet, da Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.

Zulassungsgründe liegen vor, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG), das Urteil von einer Entscheidung übergeordneter Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht (§ 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Zulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG wurden vom Kläger nicht geltend gemacht und sind auch nicht ersichtlich.

1.

Der Rechtsstreit hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne hat eine Sache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage grundsätzlicher Art aufwirft, die bisher höchstrichterlich nicht geklärt ist. Eine grundsätzliche Bedeutung liegt vor, wenn das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Rechtsprechung und Fortentwicklung des Rechts berührt und zu erwarten ist, dass die Entscheidung dazu führen kann, die Rechtseinheitlichkeit in ihren Bestand zu erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 144 Rn. 28f mwN). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann nicht mehr, wenn sie schon entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes eindeutig beantwortet werden kann.

Der Kläger wirft die Rechtsfrage auf, unter welchen Voraussetzungen die Vermutung einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft widerlegt werden könne. Diese Frage ist jedoch nicht klärungsbedürftig im oben genannten Sinne.

Die Voraussetzungen, unter denen von einer Bedarfsgemeinschaft zwischen Partnern i. S. d. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II (idF v. 20. Dezember 2011) auszugehen ist, hat das BSG in seinem Urteil vom 23. August 2012 (Aktenzeichen: B 4 AS 34/12 R, Rn. 14 ff) bereits ausdrücklich dargelegt. Danach müssen für das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen:

"Es muss sich 1. um Partner handeln, die 2. in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben, und zwar 3. so, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Bei den Kriterien zu 1. und 2. (Partnerschaft und Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt) handelt es sich um objektive Tatbestandsvoraussetzungen, die nach der Systematik des § 7 Abs. 3 Nr. 3 SGB II kumulativ zu der subjektiven Voraussetzung des Einstehens- und Verantwortungswillens gegeben sein müssen. Partnerschaft und Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt sind zugleich Anknüpfungspunkte der Vermutung des § 7 Abs. 3a SGB II. Die subjektive Seite, dass die in einem Haushalt zusammenlebendenden Partner auch den gemeinsamen Willen, füreinander Verantwortung zu tragen und füreinander einzustehen, haben müssen, wird nach § 7 Abs. 3a SGB II bei positiver Feststellung einer der dort aufgezählten vier Fälle - die ebenso wie die beiden objektiven Kriterien von Amts wegen ermittelt werden müssen (§ 20 SGB X bzw. § 103 SGG) - allerdings vermutet. Es obliegt dann dem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, diese Vermutung zu widerlegen. § 7 Abs. 3a SGB II regelt mithin (nur) die subjektive Voraussetzung einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft und gibt mit den dort aufgezählten, nicht abschließenden (BT-Drucks 16/1410, 19) Fallgestaltungen Indizien für eine gesetzliche Vermutung von Tatsachen vor, mit deren Hilfe auf den inneren Willen, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, geschlossen werden kann."

Somit müssen zunächst die benannten objektiven Voraussetzungen gegeben sein, sodann gilt es, den Einstehens- und Verantwortungswillen der Partner festzustellen (Spellbrink/Becker in Eicher, SGB II, 3. Aufl. 2013, § 7 Rn. 94 mwN). Zu den objektiven Kriterien führt das BSG u. a. Folgendes aus (Urteil vom 23. August 2012 - B 4 AS 34/12 R, Rn. 20 ff):

"Von dem Bestehen einer Partnerschaft ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung von BVerfG und BSG auszugehen, wenn eine gewisse Ausschließlichkeit der Beziehung gegeben ist, die keine vergleichbare Lebensgemeinschaft daneben zulässt." ( ) Unter "Zusammenleben" in einer Wohnung ist mehr als nur ein bloßes "Zusammenwohnen", wie es bei Wohngemeinschaften der Regelfall ist, zu verstehen. ( ) Zusätzlich bedarf es zum zweiten des gemeinsamen Wirtschaftens. Entscheidend insoweit ist, dass der Haushalt von beiden Partnern geführt wird, wobei die Beteiligung an der Haushaltsführung von der jeweiligen wirtschaftlichen und körperlichen Leistungsfähigkeit der Partner abhängig ist. Die Haushaltsführung an sich und das Bestreiten der Kosten des Haushalts muss gemeinschaftlich durch beide Partner erfolgen ( )."

Die Prüfung, ob die genannten Voraussetzungen zur Annahme einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft berechtigen, ist durch das Tatsachengericht anhand von Indizien im Wege einer Gesamtwürdigung festzustellen; die Würdigung bezieht sich auch auf subjektive Tatsachen (BSG, Urteil vom 12. Oktober 2016 – B 4 AS 60/15 R, Rn. 26). Entscheidend ist nach einheitlicher Auffassung in Rechtsprechung und Literatur das Gesamtbild, welches sich aus der Würdigung sämtlicher Hinweistatsachen im Einzelfall ergibt (vgl. z. B. Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rn. 183, mwN; beispielhaft z. B. auch Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 07. Juni 2012 – L 3 AS 150/10, Rn. 48 mwN).

Zudem wurde bereits durch das BVerfG (Nichtannahmebeschluss vom 05. Mai 2009 – 1 BvR 255/09, Rn. 5) festgestellt, dass eine Einstandsgemeinschaft selbst dann angenommen werden kann, wenn kein Vermutungstatbestand im Sinne von § 7 Abs. 3a SGB II erfüllt ist, was sich ohne Schwierigkeiten mit Hilfe gängiger Auslegungsregeln beantworten lasse. Nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 7 Abs. 3a SGB II zählt diese Vorschrift Vermutungstatbestände auf, bei deren Vorliegen von einem wechselseitigen Willen, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, auszugehen ist. Dies schließt nicht aus, dass auch aus anderen Gründen auf eine vorliegende Bedarfsgemeinschaft geschlossen werden kann. Bereits nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II ist unabhängig von einem Vermutungstatbestand nach § 7 Abs. 3a SGB II eine "verständige Würdigung" aller Umstände vorzunehmen, so dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch andere äußere Tatsachen das Vorliegen einer Einstandsgemeinschaft begründen können (BVerfG, a. a. O. mit Hinweis auf BT-Drucks. 16/1410, S. 19).

Insofern hängt es stets von den Umständen des Einzelfalles ab, ob die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage zur Widerlegung der Vermutung des § 7 Abs. 3a SGB II überhaupt entscheidungserheblich ist.

Davon abgesehen gilt auch bezüglich des § 7 Abs. 3a SGB II die allgemeine Regel, dass die gesetzliche Vermutung durch Beweis des Gegenteils widerlegt werden kann, § 202 SGG i. V. m. § 292 ZPO. Dieser Beweis ist dann geführt, wenn die Unwahrheit der vermuteten Tatsache bzw. Tatsachen voll bewiesen sind, aus denen sich das Gegenteil der vermuteten Tatsache ergibt. Hierfür ist die volle richterliche Überzeugungsbildung erforderlich (Spellbrink/G. Becker in Eicher, 3. Aufl. 2013, § 7 Rn. 97f; Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rn. 200). Eine bloße Behauptung des Betroffenen oder des Partners, dass die Partnerschaft nicht auf Dauer angelegt sei und beide in Notfällen nicht füreinander einstünden, reicht hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass der Betroffene schlüssig darlegt und nachweist, dass die von der Vermutungsregelung vorausgesetzten Hinweistatsachen des § 7 Abs. 3a SGB II nicht erfüllt sind bzw. die Vermutung des Einstandswillens durch andere Umstände entkräftet wird (vgl. auch Materialien zum Fortentwicklungsgesetz, BT-Drs. 16/1410, S. 19). Was ein angemessener und ausreichender Nachweis ist, muss immer im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände geprüft werden Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rn. 200, mwN).

Insgesamt kann damit gerade kein verallgemeinerungsfähiger Rechtssatz zu den Voraussetzungen der Widerlegung der Vermutungsregelung aufgestellt werden. Dies hängt stets von den Wertungen des Einzelfalls nach umfassender tatrichterlicher Überzeugungsbildung ab (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG).

Letztlich wendet sich der Kläger gegen die Rechtsanwendung in seinem konkreten Einzelfall. Denn er macht geltend, dass das Sozialgericht zu Unrecht vom Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft mit Frau K. ausgegangen sei, weil es eine unzutreffende Würdigung seines Vortrags bzw. der Aussage der Zeugin K. insoweit vorgenommen habe, dass bereits von einer Partnerschaft, einer "Wirtschaftsgemeinschaft" und darüber hinaus von einem Einstandswillen ausgegangen wurde. Es handele sich vielmehr nur um eine reine Wohngemeinschaft. Eine Frage, die wie hier von den individuellen Verhältnissen der Hilfebedürftigen abhängt, begründet hingegen keine grundsätzliche Bedeutung, selbst wenn ihre Klärung verallgemeinerungsfähige Auswirkungen haben kann (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 144 Rn. 29, mwN). Weder ein Rechtsirrtum noch eine Unrichtigkeit einer Entscheidung im Einzelfall kann eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG begründen, weil ein Individualinteresse hierzu gerade nicht ausreicht (vgl. den Senatsbeschluss vom 24. Mai 2011 - L 4 AS 1526/10 NZB).

2.

Entgegen der Ansicht des Klägers liegt auch kein Verfahrensmangel im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG vor, auf dem das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 12. August 2016 beruht.

Ein inhaltlicher Mangel der Entscheidung selbst - error in iudicando - ist grundsätzlich kein Verfahrensmangel. Als Zulassungsgrund i. S. d. Abs. 2 Nr. 3 kann ebenfalls nicht geltend gemacht werden, das Gericht habe bei der Tatsachenfeststellung (Beweiswürdigung) Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt (Fichte in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 160 Rn. 58).

Der Umstand, dass in den Urteilsgründen auf S. 5 einmalig von einer "Klägerin" und einem "Zeugen D." die Rede ist, vermag ebenso keinen Verfahrensmangel i. S. d. § § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG begründen. Hier ist nicht von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs auszugehen, da nicht ersichtlich ist, dass Ausführungen des Klägers nur unzureichend gewürdigt wären. Die Entscheidungsgründe genügen auch im Übrigen den Anforderungen des § 136 Abs. 2 SGG. Von ihrem Fehlen – als wesentlichem Verfahrensmangel – wäre nur dann auszugehen, wenn in der Begründung nicht mindestens die Überlegungen zusammengefasst worden wären, auf denen die Entscheidung über den für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (BSG, Beschluss vom 15. April 2008 – B 14/11b AS 41/07 B, Rn. 6). So liegt der Fall hier nicht. Die Gründe sind durch die einmalige Nennung von "Klägerin und Zeuge D." auch nicht etwa in Gänze unverständlich oder verworren oder rational nicht nachvollziehbar (vgl. etwa Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 136, Rn. 18). Vielmehr hat das Sozialgericht den Anspruch des Klägers auf Leistungen nach §§ 19, 20 SGB II umfassend geprüft, eine sehr ausführliche und gründliche Beweiswürdigung vorgenommen, die durchweg an den konkreten Umständen des Einzelfalls des Klägers argumentiert. Sämtliche Ausführungen vor und nach der fehlerhaften Nennung betreffen konkret die Wohn- und Lebenssituation des Klägers. Noch in demselben Satz spricht das Gericht zudem von einem gemeinsamen Umzug nach V., den der Kläger und die Zeugin K. im Jahr 2001 tatsächlich vorgenommen haben. Dass im Rahmen der Beweiswürdigung Textbausteine oder Passagen aus anderen Urteilen verwendet worden wären, ist nicht ersichtlich.

Es handelt sich bei der falschen Bezeichnung auf S. 5 der Urteilsgründe um offenbare, also auch für Dritte (in Kenntnis des Streitgegenstandes, des Urteils und der Umstände seines Erlasses) ohne weiteres auf der Hand liegende, eindeutige Fehler in der Wiedergabe der Gründe. Solche offensichtliche Unrichtigkeiten können jederzeit nach § 138 SGG berichtigt werden (z. B. Wolff-Dellen in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 138 Rn. 4).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar; mit der Zurückweisung der Beschwerde durch den Senat wird der Gerichtsbescheid rechtskräftig (§§ 145 Abs. 4 Satz 4, 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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